Karl Mays Orientromane und Wilhelms II. Palästinareise

El Quijote

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Karl Mays Orientzyklus entstand in den Jahren 1881 ff., 1898 reiste Wilhelm durch* das Osmanische Reich nach Jerusalem. Natürlich war das ganze eine Verbindung aus Staatsbesuch, Pflege der deutsch-osmanischen Beziehungen und Pilgerreise. Ich frage mich aber - was nach dem ersten Halbsatz offensichtlich sein dürfte - ob Wilhelm II. Karl May - der ja eine große Breitenwirkung entfaltete - gelesen hat und ob die Karl May-Lektüre die Lust auf das Reiseziel geweckt hat. War Wilhelm II. ein "Fan" von Karl May?






*eigentlich unpräzise, man fuhr großteils per Schiff und machte einen Staatsbesuch bei Abdülhamid II. in Istanbul und fuhr mit dem Schiff weiter nach Palästina, von wo aus man auch syrische und libanesische Gebeite des OR ansteuerte.
 
Natürlich war das ganze eine Verbindung aus Staatsbesuch, Pflege der deutsch-osmanischen Beziehungen und Pilgerreise. ....War Wilhelm II. ein "Fan" von Karl May?

1. Ob KW II. ein Fan von Karl May war, mag am Rande eine nette Anekdote sein. Als erklärendes Moment für die Außenpolitik des DR im Nahen Osten bzw. für Nordafrika allerdings wenig belastungsfähig.

2. Es geht vielmehr um außenpolitische Positionen und Interessen im Rahmn des "Dreibunds". Insbesondere um die Unterstützung der Politik von Caprivi. Es war somit eine "Machtprojektion, die auf das Osmanische Reich, Italien, Ö-U abzielte, um zu beeindrucken und als Abschreckung für Frankreich gedacht war.

In GB, das im Rahmen einer Annäherung für Deutschland via Italien gewonnen werden sollte, verstärkte diese Politik antideutsche Irritationen. Nicht so sehr, dass das DR eine imperiale Großmacht sein wollte, sondern es war das "erratische", dass das DR in seiner Ausrichtung so schwer berechenbar machte.

Konkret war bereits 1888 ein Auftrag an Siemens gegangen, die "Anatolische Bahn" zu bauen. (vgl. beispielsweise Mommsen, S. 117)

In diesem Kontext macht eine Verortung der Reise in diese Region mehr Sinn.


Mommsen, Wolfgang J. (1993): Grossmachtstellung und Weltpolitik. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches 1870 bis 1914. Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein: Propyläen-Studienausgabe.
 
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1. Ob KW II. ein Fan von Karl May war, mag am Rande eine nette Anekdote sein. Als erklärendes Moment für die Außenpolitik des DR im Nahen Osten bzw. für Nordafrika allerdings wenig belastungsfähig.
So möchte ich mich auch nicht verstanden wissen.

Jedoch war die Palästinareise ja nicht in erster Linie ein Staatsbesuch. Den Staatsbesuch hat man eher eingepflochten ins Rahmenprogramm dieser Reise. Ich würde sie aber auch nicht wirklich - trotz aller religiös-konfessionellen Aktionen - als Pilgerreise in erster Linie werten (und das nicht nur nicht, weil die Pilgerfahrt an sich ja eher unprotestantisch ist). Ich frage mich halt schon, ob die Entscheidung zu der Reise nicht auch durch die Lektüre ausgelöstes Fernweh hervorgerufen wurde.
 
Der KW II benimmt sich auf seiner Orientreise 1898 sehr bizarr.
Nachdem er Sultan Adulhamid in Istanbul versehentlich durch eine Geschenkübergabe in Todesangst versetzte geht es weiter nach Jerusalem.
Weitere Stationen sind Rhodos, der Libanon und Damaskus.
Mit Riesentrara reitet er in Jerusalem hoch zu Ross triumphal ein, mit prächtigem Gefolge. Das nachdem extra für diesen Zweck die Stadtbefestigungen baulich verändert wurden.
Und er "tweeted" ergriffen, man glaubt es kaum, per Telegraphie an den Papst, dass er nun der Beschützer der Katholiken sei. (Ich hab bei dem KW derzeit zwischendurch ein Dejavu.)
Wenig später erklärt er sich auch zum Beschützer aller Muslime, was für UK und Russland problematisch sein muss.
Sean McMeekin, auf den ich mich hier beziehe, wählt diese wahrlich närrische Reise, als Auftakt zu seinem lesenswerten Buch, "The Berlin-Baghdad Express".
Eine weitere Quelle hat thane hier eingestellt:
KW2 auf Pilgerfahrt nach Jerusalem. Interessante Fotos, wie ich glaube.

Kaiser Wilhelm II. und seine Pilgerfahrt nach Jerusalem - SPIEGEL ONLINE

Ich weiß nicht ob der KW II den Karl May gelesen hat.
Aber eine Heldenstory, die noch über die Fantasien des allgemein vielgelesenen KM hinausgeht, wollte er gewiss auf die Bühne bringen.
Eine andere Frage wäre, ob der KM den Boden für die Wahrnehmung des KW in diesem Fall düngte.

Jedenfalls: Die Story ist so irre, wie Deine interessante Frage.
 
Einen direkten Hinweis habe ich nicht gefunden, dass KW II. durch Karl May inspiriert wurde. Es würde sich auch die Frage stellen, warum er nicht die Auslandsdeutschen in den USA besucht hatte, um auf den Spuren des deutschesten Karl May Helden, "Old Shatterhand" zu wandeln?

Es finden sich eher Hinweise, die die Beeinflussung der kulturellen Determinanten betreffen. So argumentiert beispielsweise Erichsen, dass durch die Arbeiten von Karl May die "Frontier-Mentalität", die in den USA um 1890 ihren realen Abschluss fand, in Deutschland verstärkt haben.

Retallack argumentiert, dass die Geschichten über exotische Gegenden und den "Wilden Westen" für die Masse des Volkes den Zugang zu kolonialen Welten erst geöffnet hatte. (Retallack, Pos. 3865). Und damit erst sich die Möglichkeit bot, "willige Siedler" in den Kolonien zu finden, die den "Frontier-Mythos" selber leben wollten.

Und ähnlich Erichsen. In diesem Sinne haben seine Arbeiten die Vorstellungswelt der Deutschen nach nationaler Expansion in die "Frontiers" in den 1890 Jahren erst so richtig stimuliert. (Erichsen, S. 107)

Vor diesem Hintergrund mag KW II. auch durchaus von dieser "Stimmung" mit getragen worden sein. Zumal in diese Zeit ja auch die ersten Ausstellungen von Hagenbeck u.a. fielen, die andere Kulturen in ihren "Zoo" präsentierten.

Interessant ist, wie Gründer u.a. (S. 254) dann die realen Arbeitsbedingungen beim Bau der Bagdadbahn beschriebe: "Denn wer einen Vertrag unterschrieb, erlebte schließlich einen "Wilden Osten" wie in den Karl May Romanen beschrieben."

Erichsen, Casper W.; Olusoga, David (2010): The Kaiser's Holocaust. Germany's forgotten genocide and the colonial roots of Nazism. London: Faber and Faber.
Gründer, Horst; Graichen, Gisela (2005): Deutsche Kolonien. Traum und Trauma. Unter Mitarbeit von Holger Dietrich. 2. Auflage. Berlin: Ullstein (Ullstein).
Retallack, James N. (2008): Imperial Germany, 1871-1918. Oxford, New York: Oxford University Press (Short Oxford history of Germany).
 
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Es finden sich eher Hinweise, die die Beeinflussung der kulturellen Determinanten betreffen. So argumentiert beispielsweise Erichsen, dass durch die Arbeiten von Karl May die "Frontier-Mentalität", die in den USA um 1890 ihren realen Abschluss fand, in Deutschland verstärkt haben.

Behauptung oder Argumentation...Woran macht Erichsen Mays Wirkung im behaupteten Sinne konkret fest, an welchen Daten, Forschungen/Auswertungen, Thane?

Retallack argumentiert, dass die Geschichten über exotische Gegenden und den "Wilden Westen" für die Masse des Volkes den Zugang zu kolonialen Welten erst geöffnet hatte. (Retallack, Pos. 3865). Und damit erst sich die Möglichkeit bot, "willige Siedler" in den Kolonien zu finden, die den "Frontier-Mythos" selber leben wollten.

Auch hier die Frage, auf welchen Daten/Erhebungen/Auswertungen/Forschungen die Argumentation/Behauptung ruht.
 
Vgl. Pauschal zur Veränderung der Gesellschaft und zum Übergang zur "Kommunikationsgesellschaft (Wehler: DGG, Bd. 3, S. 1232 ff) Diese Darstellung, obwohl komplett anders akzentuiert, beschriebt pauschla die Veränderungen in der Wahrnehmung "fremder Welten". Mag sein, wenn man entsprechende Arbeiten zur Kulturgeschichte näher beleuchtet, dass die Darstellung ähnlich ist.

Die Autoren verweisen auf folgende Studien
1. vgl. z.B. FN 7
Friedrichsmeyer, Sara; Lennox, Sara; Zantop, Susanne (2008?): The imperialist imagination. German colonialism and its legacy. Ann Arbor: University of Michigan Press.

2. FN 25:
wie oben Friedrichsmeyer et.al.
Kundrus, Birthe (2003): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt am Main: Campus-Verl.
Honold, Alexander; Scherpe, Klaus R. (2004): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit : mit 149 Abbildungen. Stuttgart, Weimar: Metzler.

Ich persönlich halte diese Darstellungen für plausibel, ohne sie im einzelnen überprüfen zu können, da sie das Problem adressieren, dass sich im DR immer zu wenige Personen gefunden haben, die als "Siedler" in die Kolonien auswandern wollten.

In diesem Sinne war es - funktionalistisch argumentiert - notwendig, die Auswanderung zu Idealisieren und symbolisch zu überhöhen. Und somit einen deutschen "Westmann" zu schaffen, wie einen "Old Shatterhand".
 
Die Autoren verweisen auf folgende Studien
1. vgl. z.B. FN 7
Friedrichsmeyer, Sara; Lennox, Sara; Zantop, Susanne (2008?): The imperialist imagination. German colonialism and its legacy. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Danke, Thane. Auf wenn bezieht sich 'Die Autoren verweisen'? Ist für mich nicht erkennbar. Ansonsten wird der Titel beispielsweise in The American Historical Review, 105(5):1824-1825, als 'Collection of Essays' beschrieben. Zu recht, schaut man sich den Aufsatz von Nina Berman über Karl May an (Orientalism, Imperialism, and Nationalism: Karl May's Orientzyklus). Hier fehlt, soweit ich in der ziemlich vollständigen Google-Vorschau sehe ;), jeder konkrete(r) Untersuchung/Forschung/Nachweis über die Breite der Rezeption bzw. Rezeption von May' s Orientzyklus bei einschlägigen Personen/Personengruppen.

Kundrus, Birthe (2003): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt am Main: Campus-Verl.

Schaut man sich in diesem Titel den Text von Christian Geulen, The Final Frontier. Heimat, Nation und Kolonie um 1900: Carl Peters, mit der Vorschau bei..., so findet sich nur eine Stelle mit Bezug zu Karl May, S. 47. Gerade Geulen behauptet nicht, dass May's Werke etwa den Kolonialismus des Deutschen Reiches (wesentlich) (vorausgehend) angeregt, stimuliert oder motiviert habe.

Siehe auch Geulen's Arbeit Blutsbrüder. Über einige Affinitäten bei Carl Peters und Karl May. S. 310 schreibt Geulen u.a.:

Die hier in der Tat festzustellenden und im Folgenden zu erläuternden Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen der fiktiven Welt Mays und dem Selbstbild des deutschen Kolonialismus zeugen dabei nicht so sehr von einem direkten Zusammenhang, etwa gleicher Interessen oder Ideologien. Vielmehr verweisen sie auf die Existenz hintergründig und nur halbbewusst wirksamer Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, die den ›Autoren‹ wie den ›Akteuren‹ eines deutschen Engagements außerhalb Europas jenseits bewusster Programmatiken gemeinsam zu eigen waren.



Wehler besorge ich mir, anderes auch und hoffe, dass ich nicht meine Zeit verschwende...







 
Sofern ich das reale Problem verstehe, diskutiere ich gerne wieder mit. Im Moment verstehe ich es nicht. Vermutlich auch, weil ich in der Diskussion zur Bedeutung von Karl May auf die koloniale Kultur im DR nicht ausreichend eingearbeitet bin.

Ansonsten finde ich bisher keinen Hinweis, dass die Historiker, die Du hinterfragst, nicht korrekt ihre Sicht belegt haben. Immerhin 2 verweisen bei dem gleichen Thema auf Friedrichsmeyer et al. und das reicht mir in diesem Fall als Beleg für die Relevanz der zitierten Literatur.

Ansonsten dürfte es schwer werden, für jedes Argument eines Historikers, eine umfangreiche, empirisch abgesicherte Literatur zu finden. Vermutlich sollten wir vor diesem Hintergrund alle "Klassiker" in die Tonne treten, da sie weitgehend analytisch deskriptiv gearbeitet haben, ohne entsprechende Referenzliteratur bzw. Studien.

Zumal wenn man die Wirkung von Massenmedien einschätzen möchte, ein Unterfangen, das noch Heute massive methodische Probleme mit sich bringt bei der Konzeptionalisierung einer Studie und dem empirischen Nachweise einer kausalen Wirkung.

Wir bewegen uns in diesem Fall wohl eher im Bereich der "Plausibilitäten", dass hohe Auflagen mit entsprechenden Inhalten, eine Wirkung gehabt haben.
 
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Letztlich ist das Problem ähnlich gelagert wie die Frage, wie die politische Sozialisation von Adolf Hitler verlaufen ist.

Selbst wenn KW II. explizit gesagt hätte, dass Karl May ihn beeinflusst hätte, würden wir - da wir ja quellenkritisch sind - nicht wissen, ob das zutrifft. Oder ob es sich dabei um eine bewußte oder unbewußte Rationalisierung handelt.

Du @andreassolar sollte vielleicht Dein Verständnis verdeutlichen, welche Formen des Narrativ aus Deiner Sicht angemessen sind. Mir scheint - subjektiver Eindruck - dass Deine Vorstellung einen "integrierenden erzählenden Narrativ nicht mehr zulassen. Einfach deshalb, weil die expliziten und impliziten Behauptungen nicht durch eine entsprechende Anzahl von empirischen Studien belegt werden können.

Wobei wir dann noch zu klären hätten, was "empirisch" ist und wie wir mit dem Teil der Geschichte umgehen, der aus vielen Gründen nicht so gut dokumentiert ist, aber dennoch zur "kompletten" Geschichte dazu gehört.
 
Nachdem er Sultan Adulhamid in Istanbul versehentlich durch eine Geschenkübergabe in Todesangst versetzte geht es weiter nach Jerusalem.

Jetzt bin ich aber neugierig geworden: was war das für furchteinflößendes Geschenk? confused.gif
 
Jetzt bin ich aber neugierig geworden: was war das für furchteinflößendes Geschenk?

Da hat sich Hatl vielleicht vertan. Bei seinem Besuch in Istanbul im Jahr 1898 überreichte der Kaiser dem Sultan eine bei A.Lange & Söhne gefertigte edelsteinbesetzte Taschenuhr, von welcher der Beschenkte höchst angetan war und die bis heute in einem Istanbuler Museum gezeigt wird. Es soll auch weitere Geschenke gegeben haben, von denen aber gleichfalls kein angstschweißtreibender Effekt überliefert ist.

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Jetzt bin ich aber neugierig geworden: was war das für furchteinflößendes Geschenk?Anhang anzeigen 17445
(@Chan; Eine Taschenuhr war es nicht:D)
Es handelte sich um ein Gewehr neuester deutscher Bauart.
Lt. McMeekin war dieses in einer in einem Kasten verpackt, in dem Abdulhamid eine Bombe argwöhnte.
Der Kaiser sah sich veranlasst den Deckel selbst mit einer Verbeugung vor dem Sultan vorsichtig zu öffnen, um so dem "paranoiden" Herrscher die Angst vor einem Mordanschlag zu nehmen.
(McMeekin The Berlin-Baghdad-Express S.12.)
Margaret McMillan - The War that ended Peace S.379 schreibt sehr allgemein, dass der Sultan bei der Geschenkübergabe zunächst zurückschreckte, da er seine Ermordung fürchtete.

Grüße
hatl
 
Nina Berman: Karl May im Kontext von Kolonialismus und Auswanderung, in: Imam Attia (Hg.): Orient- und IslamBilder, 2007, S. 199-209.

Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne, 1997.

Ortrud Gurtjahr: Koloniale Maskeraden. Frieda von Bülows Romane Ludwig von Rosen und Tropenkoller, in: Gutjahr/Hermes (Hrsg.), Maskeraden des (Post-)Kolonialismus, Würzburg 2011, S. 40-75.

Axel Dunker: 'Durch die Wüste undsoweiter'. Orient, Orientalismus und der deutsche Kolonialismus der Phantasie, in: Gutjahr/Hermes, Maskeraden, S. 173-195.

Meine Vorbehalte gegen Positionen wie bei Nina Berman formuliert Pyta.

Wolfgang Pyta, Einleitung zu Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen, in: Wolfgang Pyta (Hrsg.), Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen, 2011, S. 14-15:

Der nur von selektiver Textkenntnis zeugende Vorwurf, der Orientzyklus habe 'eine bedeutende Funktion im Bezug auf die Formierung kolonialistischen Denkens und die Realisierung kolonialistischen Handelns' besessen, weicht nicht nur der zentralen Frage aus, ob und in welcher Form die Schriften Mays tatsächlich im kolonialen Diskurs des Deutschen Kaiserreiches verhandelt wurden. Er bietet zudem eine unterkomplexe Erklärung für die vermeintliche kolonialistische Instrumentalisierung des 'Orientzyklus' an, in dem er insinuiert, die Vorstellung vom exotische konnotierten Orient hätte primär zur nationalen Selbstvergewisserung der Deutschen beigetragen. […]

Die Schriften Karl Mays daraufhin abzuklopfen, welchen Beitrag da in ihnen steckend Imaginationspotential bei der Herausbildung nationaler Identität zu leisten vermag, erscheint aus zwei Gründen wenig gewinnbringend: Zum einen schwingt bei einem solchen Zugriff zumindest unterschwellig die Annahme mit, dass der Autor das Andere mit literarischen Mitteln unterwerfen und so eine 'kulturelle Hegemonie' errichten wolle, eine Prämisse, die auf normativen Vorgaben fußt, die inhaltlich und methodisch anfechtbar sind. Zum anderen überzeichnet die subkutan mitschwingende These, dass die kulturelle Vermessung außereuropäischer Räume zum Kristallisationskern der nationalen Selbstverständigungsdiskurse des Kaiserreichs avancierte, die kulturelle Bedeutung imaginärer Kolonialreisen nach Afrika oder in den Vorderen Orient für den Nationalbildungsprozess im Kaiserreich. Die Gesellschaft des Kaiserreiches starrte eben nicht wie gebannt nach Übersee, sondern orientierte sich zur identitätssichernden Abgrenzung primär an den europäischen Nachbarn.

Die FETT-Markierungen stammen von mir.

Pyta thematisiert entscheidende Kritikpunkte, die sich gerade aus geschichtswissenschaftlicher Sicht meiner Meinung nach förmlich aufdrängen.
Ich kann nur wiederholen, was ich oben bereits notiert hatte zu
Friedrichsmeyer, Sara; Lennox, Sara; Zantop, Susanne (2008?): The imperialist imagination. German colonialism and its legacy.
Ansonsten wird der Titel beispielsweise in The American Historical Review, 105(5):1824-1825, als 'Collection of Essays' beschrieben. Zu recht, schaut man sich den Aufsatz von Nina Berman über Karl May an (Orientalism, Imperialism, and Nationalism: Karl May's Orientzyklus). Hier fehlt, soweit ich in der ziemlich vollständigen Google-Vorschau sehe ;), jeder konkrete(r) Untersuchung/Forschung/Nachweis über die Breite der Rezeption bzw. Rezeption von May' s Orientzyklus bei einschlägigen Personen/Personengruppen.
 
Bereits im Frühjahr 1898 hatte der deutsche Botschafter in Konstantinopel Marschall von Bieberstein den Reichskanzler daran erinnert, das es der Wunsch Abdulhamid II. sei, das möglichst bald die Verlängerung der Anatolischen Bahn in Richtung von Bagdad in Angiff genommen werde. Marschall drängte auch deshalb, weil es mehrere Eisenbahnprojekte nicht deutscher Unternehmungen in Vorbereitung sind.

Die Deutsche Bank hatte Mitte der 90ziger, insbesondere der Direktor Georg von Siemens, wenig bis gar kein Interesse an einer Fortführung, obwohl die außenpolitischen Rahmenbedinungen nicht ungünstig waren. Doch der Zusammenbruch der amerikanischen Northern Pacific, an der die Deutsche Bank in großen Umfang beteiligt war, verlangte die ganze Aufmerksamkeit der Bank. Karl Helfferich meinte,das durch den Erwerb der Konzessionen der Jahre 1888/1893 und mit dem Erwerb der Kontrolle über die Orientbahn übernommenen Aufgaben ohnehin so große Ansprüche an die vorhandenen Arbeitskräfte wie an die aufzubringenden Geldmittel, dass Mitte der neunziger jahre an einer Weiterführung der Bahn nicht zu denken war. Entsprechend verhielt sich sie Bank gegenüber dem Drängen von Abulhamid II. .Dieser hatte nämlich nach Beendigung des griechisch-türkischen Krieges die Bedeutung der Bahn erkannt.

Das war die Situation, in der Wilhelm in den Orient aufbrach. Offizieller Anlass war die Einweihung der Jerusalemer Erlöserkirche. Doch Wilhelm ging es auch um die Bagdadbahn. Man darf sicherlich davon ausgehen, das er als Interessenvertreter deutscher wirtschaftlichen Interessen auftrat. Und er hat schon wie Marschall und der Reichskanzler die deutschen Banken zu entsprechenden Schritten ermutigt. Der Kaiser hatte von Abdulhmaid die Zusage für den Bau der Eisenbahn nach Bagdad bekommen. Ein Ergebnis war dann der Erhalt der Konzession zum Bau eines Hafens in Haidar Pascha. In Paris war man darüber ziemlich verärgert. Jedenfalls war es der Deutschen Bank so nicht mehr möglich, die Bahn nicht weiterzubauen.
 
Es handelte sich um ein Gewehr neuester deutscher Bauart.
Lt. McMeekin war dieses in einer in einem Kasten verpackt, in dem Abdulhamid eine Bombe argwöhnte.
Der Kaiser sah sich veranlasst den Deckel selbst mit einer Verbeugung vor dem Sultan vorsichtig zu öffnen, um so dem "paranoiden" Herrscher die Angst vor einem Mordanschlag zu nehmen.
(McMeekin The Berlin-Baghdad-Express S.12.)

Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen. Warum ist diese Anekdote im Internet nur in McMeekins Buch von 2010 verzeichnet?

The Berlin-Baghdad Express

Weder deutschsprachige noch englischsprachige Recherchen liefern andere Quellen für eine solche Geschenkübergabe, was angesichts ihrer Brisanz (offenkundiges Misstrauen des Sultans gegenüber dem Kaiser) und des Unterhaltungswertes der Anekdote doch verwundert. Wiederholt ist im Net vom Deutschen Brunnen und der Taschenuhr als Gastgeschenke zu lesen, aber nirgendwo außer bei McMeekin von der Schenkung eines Gewehrs.
 
"For the sultan Wilhelm II had brought the latest German rifle, but when he tried to present it Abdul Hamid at first shrank away in terror thinking he was about to be assasinated."
Margaret McMillan - The War That Ended Peace - (Taschenbuchausgabe) S. 379-380.

Vielleicht finden sich weitere Quellen....
 
Die Schreckvariante stammt mW aus den Erzählungen eines britischen Delegierten am Hof, Militärattache und Agent. Der dürfte den Schwank als erster gebracht haben.

Die Story ist wegen der Kontakte von Willi unplausibel, um nicht zu sagen: unglaubwürdig. Vielleicht gab es Irritationen, die dann zur Bombe aufgeblasen wurden. 10 Jahre zvor bereiste er ebenfalls Konstantinopel, und erhielt vom Sultan als Gastgeschenk ein wertvolles und repräsentables Grundstück, wohl als persönliches Feriendomizil gedacht, auf dem später die deutsche Botschaft einzog. Dafür will ihn dann Willi später ermorden...

Das MacMillan so eine folgenlose politische (angebliche) Marginalie wiedergibt, verwundert etwas. Bei McMeekin ist man die aufgezählten Belanglosigkeiten schon eher gewohnt. Schon bei dem Zitat für den Absatz bekommt man wegen der Mischung gekrümmte Fußnägel: Der spätere Dinner-Verlauf aus Willi-Aufzeichnungen (vermutlich McMeekin-like als Querzitat wieder irgendwoher abgeschrieben, ohne zu zitieren, ansonsten "unpublished memoirs"), sodann unklar vermengt mit dem Agenten-Anekdötchen aus "Secret Service east of..."
 
Zuletzt bearbeitet:
@silesia
McMillan gibt keine Quelle an. Tatsächlich.
Ich bin geneigt anzunehmen, dass das ein "Schwank" ist, der sich halt super erzählt.

@Chan: "Weder deutschsprachige noch englischsprachige Recherchen liefern andere Quellen für eine solche Geschenkübergabe, was angesichts ihrer Brisanz (offenkundiges Misstrauen des Sultans gegenüber dem Kaiser) und des Unterhaltungswertes der Anekdote doch verwundert. "
Stimmt.
 
@silesia
McMillan gibt keine Quelle an. Tatsächlich.
Ich bin geneigt anzunehmen, dass das ein "Schwank" ist, der sich halt super erzählt.

McMeekin hat diese dubiose Mischung in der Quellenangabe (wie üblich, wenn der überhaupt mal ordentlich zitiert). Da die Kaisermemoiren offenbar später entstanden sind (nach 1918??), ist die Quellenhärte eher zweifelhaft. Da für die "gemixte" Erzählung mit anschließendem Kaiserdinner der besagte "special agent" vom secret service mit seinen Memoiren als Gewährsmann angegeben wird, reduziert sich die Relevanz der Geschichte weiter. Für McMeekins Bagdadbahnabenteuer ist das dann ein netter Schwank.
 
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