Napoleons Scheitern eines vereinigten Europas

@ General Höhl: "Alles was ihr schlecht an Napoleon findet und ihm vorwirft haben die anderen doch genau so getan wenn nicht noch weit aus schlimmer.
Ich möchte Napoleon nicht besser darstellen als er es in Wirklichkeit wahr aber die anderen Großmächte waren sicherlich nicht besser. Die haben ihre Macht auch nur mit Gewalt erweitert. (Großbritannien Preußen Russland)"

Der Ausgangspunkt war aber, dass du die These aufgestellt hast, dass Napoleon sehr viel besser war als die anderen und aus gerechteren Motiven Krieg führte bzw. ihm diese aufgezwungen wurden! Ich glaube nicht, dass hier jemand Napoleon schlecht reden oder seine Leistungen aberkennen möchte. Nur war er sicherlich nicht der große Heilige, der allen Völkern Europas Freiheit und Recht und Einheit bringen wollte - und schon gar nicht auf Kosten der alten Eliten wie des Adels.

Wieso siehst du den Adel so als Feindbild?

Und vergiss bitte nicht, dass die französischen Revolutionäre 1792 den Krieg erklärt haben!

Warum hätte deiner Meinung nach der Zar an der Kontinentalsperre festhalten sollen? Was brachte ihm dies - außer den Nachteilen, die excideuil bereits aufgezeigt hat?

Mich würde interessieren, auf welche Literatur und Quellen du dich in deiner Argumentation stützt.
 
Gerecht oder nicht, für die absoluten Souveräne Europas stellte die franz. Rev., ihre Ideen und ihre Außenpolitik eine existentielle Bedrohung dar, völlig normal, dass sie diese mit denen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpften.

Das ist zwar durchaus richtig. Aber wieso hat denn nur ein etabliertes Regime das Recht, dieses zu tun?

Wieso kann ein neues Regime, dass durch eine Revolution an die Macht gekommen ist, sich nicht genauso auf eine Form der "Selbstverteidigung" berufen?

So wird beispielsweise regelmäßig der FR vorgehalten, (vgl. beispielsweise #41) sie hätte den Krieg erklärt. Das ist zwar formal korrekt, dennoch unterschlägt diese Sichtweise, dass es eine Dynamik gab zwischen dem militärischen Aufmarsch von Ö-U und Preußen, den teilweise damit zusammenhängenden Aktionen der königstreuen Franzosen (vgl. ihre Beteiligung an Valmy) und der schwierigen und dynamischen innenpolitischen Situation in Paris / Frankreich.

Dabei folgte die Kriegserklärung eher einem innenpolitischen "Druck" und diente eher der Mobilisierung der Anhängerschaft der FR, um sie zu verteidigen. Zu dem Zeitpunkt der Formulierung war damit kein offensiver, imperialer Anspruch verbunden. Es ging eher darum, die Werte der FR zu verteidigen (und natürlich sein eigenes Leben zu sichern).:grübel:

Andererseits ist es dabei sogar m.E. fraglich, ob eine Bewertung des Handels der absoluten Monarchen und der FR auf der Grundlage einer einheitlichen Universaltheorie bzw. einer Philosophie (Ethik und Moral) der Macht mit universellen Werte aufgebaut werden kann. Dieses wäre aber die Voraussetzung für die Vergleichbarkeit und somit auch ihre moralische Bewertung.

Zu deutlich ist die Trennungslinie der Weltbilder der beiden historischen Akteure. Beide haben komplett unterschiedliche Werte in Bezug auf die Legitimation von Herrschaft und Politik. und somit ist das Handeln der beiden jeweils im Bezug zu ihren eigenen Wertesystemen zu beurteilen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Meine Ausführungen zur Kriegserklärung durch Frankreich sollten keine "Schuldzuweisung" darstellen, sondern verdeutlichen, dass es nicht nur Preußen und Österreich auf einen Krieg anlegten.

Frage ndes gerechten Krieges und des Völkerrechtes, wie es um 1800 interpretiert wurde, würden vermutlich den Rahmen der Diskussion sprengen. Aber 1792 war ja noch König Ludwig offiziell der Herrscher und hat dem Krieg auch zugestimmt, d.h., hier kann man noch nicht unbedingt von einem "neuen Regime" sprechen, dem die völkerrechtliche Anerkennung fehlte ... :grübel:
 
Das ist zwar durchaus richtig. Aber wieso hat denn nur ein etabliertes Regime das Recht, dieses zu tun?

Wieso kann ein neues Regime, dass durch eine Revolution an die Macht gekommen ist, sich nicht genauso auf eine Form der "Selbstverteidigung" berufen?

So wird beispielsweise regelmäßig der FR vorgehalten, (vgl. beispielsweise #41) sie hätte den Krieg erklärt. Das ist zwar formal korrekt, dennoch unterschlägt diese Sichtweise, dass es eine Dynamik gab zwischen dem militärischen Aufmarsch von Ö-U und Preußen, den teilweise damit zusammenhängenden Aktionen der königstreuen Franzosen (vgl. ihre Beteiligung an Valmy) und der schwierigen und dynamischen innenpolitischen Situation in Paris / Frankreich.

Dabei folgte die Kriegserklärung eher einem innenpolitischen "Druck" und diente eher der Mobilisierung der Anhängerschaft der FR, um sie zu verteidigen. Zu dem Zeitpunkt der Formulierung war damit kein offensiver, imperialer Anspruch verbunden. Es ging eher darum, die Werte der FR zu verteidigen (und natürlich sein eigenes Leben zu sichern).:grübel:
Nicht umsonst habe ich vor der Ausführung die Worte "Gerecht oder nicht" gebraucht, da der folgende Satz nicht als eine Frage von gerecht oder ungerecht sondern einzig aus dem machtpolitischen Verständnis der absoluten Regimes zu verstehen ist. Und dieses besagte, dass dem bedrohten und um Hilfe bittenden Vetter in Paris zu Hilfe zu "eilen" war.

Keine Frage, und da bin ich mit dir völlig d'accord, dass ein Volk das legitime Recht zur Selbstverteidigung hat.
Dass die Kriegserklärung auch aus innenpolitischen Gründen erfolgte, steht auch außerhalb jeden Zweifels.

Allerdings, und da sehe ich einen wesentlichen Unterschied, ging die Verteidigung Frankreichs in einen Angriffskrieg über - Stichwort: natürliche Grenzen. Im Gegensatz zur Absicht der absoluten Regimes, die "lediglich" die Verhältnisse nach absoluten Wertmaßstäben wiederherstellen wollten, bedeutete dies eine möglichst dauerhafte Okkupation neuen Staatsgebietes. Dies ist auch wieder innenpolitischen Gründen und den Interessen des (Groß)-Bürgertums, also rein machtpolitischen Gründen geschuldet.

Grüße
excideuil
 
Wieso siehst du den Adel so als Feindbild?

Der Adel war die Projektionsfläche für die Kritik an gesellschaftlichen Konventionen. Im Kern war es der Anspruch des "aufgeklärten" Bürgertums, nicht durch die Geburt, sondern durch die individuelle Leistung seinen legitimen Platz in der Gesellschaft zu finden.

In diesem Sinne war einer der Werte der FR, die Gleichheit der Chancen, losgelöst von dem Vorrecht der Geburt, ein sehr moderner Wert, den wir mittlerweile zur Grundlage unserer Leistungsgesellschaft gemacht haben.

http://books.google.de/books?id=6NE...a=X&ei=718CUYeMG4TgtQb-8YDYDw&ved=0CEAQ6AEwAQ

http://books.google.de/books?id=WfyvXwAACAAJ&dq=aufkl%C3%A4rung,+das+europ%C3%A4ische+projekt&hl=de&sa=X&ei=nGACUceqC47KswaglYCABw&ved=0CDIQ6AEwAA

http://books.google.de/books?id=Tmp...a=X&ei=MGACUZWeL4mk4gTWxoHIBg&ved=0CC8Q6AEwAA

Vor diesem Hintergrund fällt dem Adel, vereinfacht gesprochen, die Rolle des anmaßenden Parasits zu, der sich auf das antiquierte Recht der adeligen Geburt bezieht.

Erschwerend kommt natürlich hinzu, dass vor allem der "Schwertadel" auf die bürgerlichen (geadelten) Emporkömmlinge als "Parvenüs" herabblickte und so zusätzlich das Leistungsprinzip, als abgeleitetes Prinzip der Aufklärung, hinterfragte.

Vor diesem Hintergrund sollte auch deutlich werden, dass die Modernisierung der Gesellschaft, auch im Sinne der Freisetzung der Potentiale seiner Bürger, fast zwingend auf den Erfolg der Aufklärung bzw. der FR angewiesen war, wie schon im Fall von GB und den USA.

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@Excideuil: Volle Zustimmung zu #45
 
Zuletzt bearbeitet:
@ thanepower: Ich bezog mich auf die Aussage von General Höhl (elender Adel und Hindernis für Freiheit). Die Forderungen der Aufklärung und die überaus notwendigen Reformen stehen außer Diskussion, die traditionellen Vorrechte des Adels waren im bürgerlichen Zeitalter überholt.

Aber man kann nicht per se den ganzen Adel als fortschritthemmend verdammen und als großes Feindbild (aus unserer Sicht) aufbauen. Viele maßgebliche Reformpolitiker (Montgelas, Freiherr vom Stein etc.) waren selbst Adelige bzw. fanden sich auch im 3. Stand der FR viele Adelige. Gegen diese pauschalierende Verurteilung wandte ich mich und es würde mich halt interessieren, woher General Höhl seine Sichtweise bezieht.
 
Andererseits ist es dabei sogar m.E. fraglich, ob eine Bewertung des Handels der absoluten Monarchen und der FR auf der Grundlage einer einheitlichen Universaltheorie bzw. einer Philosophie (Ethik und Moral) der Macht mit universellen Werte aufgebaut werden kann. Dieses wäre aber die Voraussetzung für die Vergleichbarkeit und somit auch ihre moralische Bewertung.

Zu deutlich ist die Trennungslinie der Weltbilder der beiden historischen Akteure. Beide haben komplett unterschiedliche Werte in Bezug auf die Legitimation von Herrschaft und Politik. und somit ist das Handeln der beiden jeweils im Bezug zu ihren eigenen Wertesystemen zu beurteilen.
Ich stelle die Frage enmal anders.
Macht eine moralische Bewertung im Zusammenhang mit der machtpolitischen Auseinandersetzung des Ancien régime mit der franz. Revolution überhaupt Sinn?
Es steht außer Frage, dass die Werte der bürgerlichen Gesellschaft bezogen auf die Gesamtheit der Individuen gerechter ist als die des Ancien régimes.
Ist es da nicht verführerisch, die Handlungsweise der Revolutionäre bzw. deren Nachfolger aus einem "gerechteren" Blickwinkel zu betrachten? Verkleistert nicht die moralische Bewertung den Blick auf die tatsächliche machtpolitische Lage und die hist. bestimmte Position der Handelnden, verhindert gar ein sachliches Verständnis?
Sind solche heutigen z.T. pauschalisierenden Ansichten, wie "elendiger Adel mit seinen Königen", "N. war im Recht, da die anderen Mächte den Krieg erklärt haben", neben Unkenntnis nicht auch auf moralische Bewertungen zurückzuführen? :grübel:

Grüße
excideuil
 
@ General Höhl: "Alles was ihr schlecht an Napoleon findet und ihm vorwirft haben die anderen doch genau so getan wenn nicht noch weit aus schlimmer.
Ich möchte Napoleon nicht besser darstellen als er es in Wirklichkeit wahr aber die anderen Großmächte waren sicherlich nicht besser. Die haben ihre Macht auch nur mit Gewalt erweitert. (Großbritannien Preußen Russland)"

Der Ausgangspunkt war aber, dass du die These aufgestellt hast, dass Napoleon sehr viel besser war als die anderen und aus gerechteren Motiven Krieg führte bzw. ihm diese aufgezwungen wurden! Ich glaube nicht, dass hier jemand Napoleon schlecht reden oder seine Leistungen aberkennen möchte. Nur war er sicherlich nicht der große Heilige, der allen Völkern Europas Freiheit und Recht und Einheit bringen wollte - und schon gar nicht auf Kosten der alten Eliten wie des Adels.

Wieso siehst du den Adel so als Feindbild?

Und vergiss bitte nicht, dass die französischen Revolutionäre 1792 den Krieg erklärt haben!

Warum hätte deiner Meinung nach der Zar an der Kontinentalsperre festhalten sollen? Was brachte ihm dies - außer den Nachteilen, die excideuil bereits aufgezeigt hat?

Mich würde interessieren, auf welche Literatur und Quellen du dich in deiner Argumentation stützt.

Wie schon bereits argumentiert wurde war der Adel der größte Feind der Revolutionäre aus dem Grund weil sie nicht ihre Rechte abgeben wollten so schätze ich das ein.

Und jetzt noch zum Auspunkt.

Vielleicht verstehst du das falsch ich möchte Napoleon nicht viel besser als alle anderen darstellen. Aber ich persönlich glaube daran das Napoleon am Anfang wirklich daran glaubte diese Werte verbreiten zu können.

Auch wenn das unrealistisch ist aber hätten die Großmächte sich am Anfang nicht so verhemmt gegen die Revolution und Napoleon gestemmt. Dann wäre Napoleon zu vielen Aktionen überhaupt nicht gekommen.

Wenn man jetzt jeder Nation das Recht auf Verteidigung gibt dann klingt es nach meiner Meinung logisch das die Großmächte Europas aufeinander treffen.

Ich bin einfach nur der Meinung das Napoleon am Anfang aus ehrenhafteren Gründen Krieg führte. Nicht mehr und nicht weniger.
 
@ General Höhl: Denk aber bitte daran (wie schon erwähnt), dass ein Großteil der Revolutionäre selbst Adelige waren!

Dass die Französische Revolution an den europäischen Höfen eine teils extreme Reaktion auslöste, ist auch verständlich, schließlich wurde das monarchische Prinzip angegriffen, jeder Thron in Frage gestellt. Da kann einem König/Kaiser schon angst und bange werden ... :winke:
 
Ich denke, Napoleon ist gescheitert und hatte zugleich auch Erfolg gehabt.
Die von thanepower erwähnte Modernisierung teile ich ebenfalls, der Bonapartismus ist generell ganz schön widersprüchlich, ob nun der Frühbonapartismus oder der Spätbonapartismus im Second Empire, ich denke gerade der Bonapartismus lässt sich nur schwer in heutigen politischen Kategorien einordnen, hat es viel mehr Parallelen mit späteren außereuropäischen Ideologien wie dem Peronismus oder auch teilweise dem Nasserismus.

Dass Napoleon I. geprägt vom Republikanismus war ist kein Geheimnis und es nahm zumindest in der Familie Bonaparte auch stets eine wichtige Rolle ein, ob Carlo, Luciano später ja auch Pierre, Napoléon Louis und Louis (N.III.). ich denke schon gerade Napoleon I. hat ja mit der Beförderung zum Kommandanten der Artillerie auch den Idealen der Revolution zu verdanken und sie waren ihm jenseits seines opportunen Charakters auch wichtig gewesen, wäre er sonst der schlichte Korse geblieben, über den sich ja der europäische Adel höchstens amüsierte.

Nun gibt es zwei Seiten die eine Schuld trifft an den napoleonischen Kriegen, definitiv sind die alten Regime mitschuld an diesem Krieg, taten sie alles, um das alte System zu restaurieren, Frankreich musste sich nun verteidigen und das war schon schwer genug nach der Revolution und den Unruhen, für Napoleon ideal, eben jene Revolutionskriege sind Verteidigungs- und Angriffskrieg zugleich für einen Napoleon Anlass genug, den Krieg weit über die ehemaligen Gründe hinauszutragen, von Lucianos Rolle beim 18. Brumaire mal ganz abgesehen konnte nun Napoleon eben auch anderen Wünschen nachgehen, wer meint, Napoleon sei ein Revolutionär im Sinne von, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ist ja eben schief gewickelt, Napoleon hatte auch ein reges Interesse an Anerkennung von Seiten des europäischen Adels, zwar verfiel er nie komplett in Dekadenz wie Luciano und Louis I. doch Napoleon ist eben auch ein echter Diktator, er gewährt zwar den Franzosen ihre Rechte, doch er erwartet gleichzeitig die Aufopferung für seine Ziele, im Endeffekt typisch für die Bonapartes.

Doch was enorm wichtig von seinen militärischen Einfluss mal abgesehen ist, ist ein Punkt, der mir ein wenig zu kurz kommt, ich denke nämlich gerade wegen Napoleon gewann die Französische Revolution diese herausragende Rolle in der Geschichte, wie wir sie heute kennen. Napoleon exportierte die Stärken einer Nation und ihrer Revolution und überrante den Kontinent, dass führte selbst bei den reaktionärsten Kräften zu einem Umdenken.

Man musste sich damit auseinandersetzen was bei der Revolution passierte, wie konnte es sein, dass solch ein Ereignis so große Kräfte freiließ und eben die Regime so schwach aussehen ließ, die Revolution und Napoleon korrelieren definitiv miteinander, sie gewinnt mit seinem Triumph, Weltbedeutung, schließlich hätte die Revolution auch untergehen können wie einst Cromwell, die Republik Korsika und vielen anderen Versuchen.

Im Endeffekt kann man nur sagen, gerade Napoleon muss man sehr vorsichtig betrachten, man kann ihn nur sehr schwer mit einem Satz oder gar simplen Erklärungen beschreiben, dafür war sein Wirken zu groß für die europäische Geschichte, ob negativ oder positiv.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Königreich Westphalen wurde sozusagen als ein Modellstaat gegründet. Es bestand aus der alten Landgrafschaft Hessen-Kassel, aus dem Fürstentum Braunschweig Wolfenbüttel und ehemals preußischen Territorien westlich der Elbe. Historisch gewachsene Verbindungen dieser recht verschiedenen Territorien gab es nicht, außer dass sie mehrheitlich protestantisch waren.

An Reformen und vielversprechenden Erneuerungen fehlte es nicht-Im Gegenteil! Vieles was dort neu entstand war zu Gunsten der Mehrheit der Bevölkerung. Es entstand das erste oder zumindest eines der ersten Parlamente auf deutschem Boden. Zum ersten Mal waren dort, zumindest de iure, alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Abgeordnete wurden in gleicher, geheimer Wahl gewählt. Es wurde die Justiz reformiert und der Code Civil und der Code penal eingeführt. Verfahren wurden vereinfacht und beschleunig, und der Adel verlor seine Privilegien und die Patrimonialgerichtsbarkeit wurde abgeschafft. Es kam zur Gründung einer qualifizierten Gendarmerie, und Stellen im Beamtenapparat und im Justizwesen wurden mit Fachkräften besetzt, die ein Jurastudium absolviert hatten. Es wurde die Zivilehe eingeführt, und Juden wurden vollberechtigte Staatsbürger. Viele Menschen nutzten die Chancen, die ihnen die Gewerbefreiheit und freie Berufswahl bot. Die Leibeigenschaft/Erbuntertänigkeit der Bauern wurde beseitigt, und Religionsfreiheit garantiert. Ja, im Reich des "Königs Lustig" wie man Jerôme Bonaparte im Volksmund nannte, war es sogar möglich geworden sich als Freidenker öffentlich zu outen, ohne deswegen Nachteile befürchten zu müssen, und man konnte aus der Kirche austreten. Die Justizreformen, die Etablierung von Gerichtshöfen, die Abschaffung der immer wieder reformierten Constitutio Criminalis Carolina, die Abschaffung des Inquisitionsprozesses und die Etablierung von Geschworenengerichten, war so effektiv und vorteilhaft, dass sie auch nach der Rückkehr der Fürsten beibehalten wurde.
Dennoch wurde Kurfürst Wilhelm I. von Hessen-Kassel, als er aus dem Exil zurückkehrte, begeistert von der Bevölkerung empfangen, und nur die Juden und einige Intellektuelle stimmten nicht in den Jubel ein. Die Emanzipation der Juden wurde aufgehoben, und die jüdische Bevölkerung musste bis zur Reichsgründung 1870/71 warten, bis sie vollberechtigte Staatsbürger wurden.
Wilhelm I. von Hessen hob alle Reformen aus der napoleonischen Zeit auf und führte in der hessischen Armee im wahrsten Sinne des Wortes wieder "alte Zöpfe" ein und verordnete seinen Truppen die Frisur aus der Zeit des Soldatenkönigs Friedrich-Wilhelm I.
Wie war es möglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung ihm zujubelte? Vieles was im Königreich Westphalen umgesetzt wurde, war emanzipatorisch, war sinnvoll und im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung. Hätte das Königreich Westphalen Zeit gehabt, sich zu konsolidieren und zu entwickeln, es hätte nicht zum Sieg der Reaktion kommen müssen. Die ehemaligen hessischen, hannoverschen und preußischen Territorien wären vielleicht im Laufe der Zeit zusammengewachsen bei aller Unterschiedlichkeit, ähnlich wie nach dem 2. Weltkrieg die Bundesländer. Mit den neuen Rechten im Königreich Westphalen waren aber auch Pflichten entstanden wie die allgemeine Wehrpflicht. Zahllose Hessen, Niedersachsen und Preußen verloren in Spanien oder Russland Gesundheit, Leib und Leben in Kriegen, die nicht die ihren waren. Von der westphälischen Armee, die mit ca. 38.000 Mann nach Russland zog, kehrten nur knapp 1000 Mann zurück in die Heimat. Das Königreich Westphalen hatte nicht das Glück, zusammenwachsen zu können, da Jeromes großer Bruder rücksichtslos auf die Ressourcen des Landes zurückgriff, um seine Kriege zu finanzieren. 2012 kehrten anlässlich einer Ausstellung die Jerôme gewidmet war, erstmals nach über 200 Jahren Exponate und Kunstschätze als Leihgaben zurück, die französische Soldaten 1806 erbeutet hatten. Die Plünderungen der Franzosen in einem neutralen Land sorgten für Verbitterung, und trotz zahlreicher Hugenotten in der alten Landgrafschaft war das Verhältnis mit Frankreich bereits im Siebenjährigen Krieg sehr belastet worden. Fairerweise muss allerdings auch gesagt werden, dass sich die britisch-alliierte Armee unter Ferdinand von Braunschweig nicht viel besser aufführte, als die Franzosen. Trotz allen Reformen und vielversprechenden Neuerungen, wurde das Königreich Westphalen von vielen als Besatzung und Fremdherrschaft empfunden. Einquartierungen und Kontributionen belasteten die Bevölkerung schwer, obwohl dergleichen schon zur Zeit der Landgrafen an der Tagesordnung war. Damit zusammenwachsen konnte, was zur Zeit des Ancien Regimes nie zusammengehörte, hätte das Königreich Westphalen, hätte Europa dringend eine längere Friedensperiode gebraucht. Dass es diese Friedensperiode nicht bekam, war nicht alleine die Schuld Napoleons, aber er hatte natürlich auch an den negativen Entwicklungen Anteil. Seine Neuordnung Europas erschien am Ende immer mehr Menschen als unerträglich, und der Nationalismus, den er anregte, kehrte sich schließlich gegen ihn.

Auch wenn er schließlich mit seiner Politik scheiterte, hat er in vielem Frankreich und Europa seinen Stempel aufgedrückt. Der Historiker Thomas Nipperdey sagte einmal "am Anfang war Napoleon". Dem ist eigentlich zuzustimmen, kaum ein Staatsmann hat Europa so nachhaltig verändert, keiner hat so wie er Europa in die Moderne katapultiert, auch wenn vieles durchaus unschöne Züge annahm.
 
Ich denke, "Dankbarkeit" der Bevölkerung für die Reformen unter Napoleon waren damals nicht so stark in der Wahrnehmung wie die Lasten von Militär und das Gefühl der Fremdbestimmung. Der eigene Fürst war sicher auf aufgeklärter Ebene ein Rückschritt, aber ihm galt eine Loyalität, die die Franzosen sich nie erarbeiten konnten.

Ohne eine solche Loyalität wären Verschwendung und Misswirtschaft im Absolutismus nicht möglich gewesen. Die Fürsten waren keine Diktatoren und ihre Macht war in einigen Punkten stark limitiert. Sie konnten am besten da ihre Wünsche durchdrücken wo sie sich im Rahmen des allgemein anerkannten bewegten.
 
Ich denke, "Dankbarkeit" der Bevölkerung für die Reformen unter Napoleon waren damals nicht so stark in der Wahrnehmung wie die Lasten von Militär und das Gefühl der Fremdbestimmung. Der eigene Fürst war sicher auf aufgeklärter Ebene ein Rückschritt, aber ihm galt eine Loyalität, die die Franzosen sich nie erarbeiten konnten.

Ohne eine solche Loyalität wären Verschwendung und Misswirtschaft im Absolutismus nicht möglich gewesen. Die Fürsten waren keine Diktatoren und ihre Macht war in einigen Punkten stark limitiert. Sie konnten am besten da ihre Wünsche durchdrücken wo sie sich im Rahmen des allgemein anerkannten bewegten.

Sicher, vieles was emanzipatorisch und humanistisch aus heutiger Sicht positiv war, verunsicherte die Bevölkerung oder wurde von weiten Teilen keineswegs begrüßt. Die Emanzipation der Juden stieß keineswegs überall auf Beifall. auch die Einführung der Gewerbefreiheit wurde nicht überall begrüßt. viele Handwerksmeister und auch Gesellen dürften in ihren in zünftigen Ehrbegriffen sehr skeptisch, wenn nicht ablehnend den Reformen gegenübergestanden haben, die plötzlich ohne vorherige Aufklärung erlaubten, ein Gewerbe auszuüben, ohne einen Meisterbrief erworben zu haben. Als Landgraf Karl Ende des 17. Jahrhunderts Hugenotten in Hessen aufnahm, verlief das nicht ohne Spannungen. Karl und seine Nachkommen befreiten die Einwanderer von Lasten wie Einquartierungen, so dass Protest laut wurde über Bevorzugung der Fremden.

Einquartierungen belasteten die Bevölkerung schwer. In manchen Garnisonsstädten wie Marburg und Ziegenhain hatten die Landgrafen im 18. Jahrhundert absichtlich darauf verzichtet, die Soldaten in Kasernen unterzubringen. Das diente einerseits der Sozialdisziplinierung, andererseits versuchten die Fürsten auf diese Art, Verständnis für das Militär zu wecken. Seit sich im Dreißigjährigen Krieg fremde Söldnertruppen als unzuverlässig erwiesen, bemühten sich Karl und seine Nachkommen, eine stehende Armee aus Landeskindern aufzustellen. Solange der Bedarf und die Nachfrage an Soldaten nicht das Angebot überschritt wie im Unabhängigkeitskrieg klappte das auch relativ gut. In Garnisonsstädten wie Marburg und Kassel hatte es seit Menschengedenken immer Soldaten gegeben, und wenn die stationierten Truppen auch keine Einheimischen sein mochten, waren sie doch immerhin zumindest mehrheitlich Hessen.

Hessen und Südniedersachsen hatten auch schwer unter Besatzung und Kriegsfolgen im Siebenjährigen Krieg gelitten. Marburg und Kassel hatten beide ein gutes Dutzend Mal den Besitzer gewechselt, und diese traumatischen Erfahrungen hatten sich tief in das Bewusstsein der Bevölkerung geprägt. Der "Soldatenhandel" der hessischen Fürsten hatte vor allem die Bauern belastet, die Landgrafen hatten aber auch Schulen, Hospitäler und Museen gegründet und sich öffentlich dem Volk gezeigt. Die Loyalität zum Haus Hessen war durchaus groß.

Seit der Reformation war Hessen protestantisch, die Mehrzahl der Bewohner lebte auf dem Land und die Kirche spielte noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben. Auch Religionsfreiheit wurde nicht von allen begrüßt, und wenn es auch dem einfachen Volk nicht gut ging, hatte sich doch die Mehrheit in obrigkeitlichen, hierarchischen Vorstellungen eingerichtet. Das war alles vertraut. Selbst die Justizreformen sorgten teils für Verwirrung. In der Patrimonialgerichtsbarkeit wurde nach altem Gewohnheitsrecht entschieden, von Vertretern des Adels, die man seit Jahrhunderten kannte. Die von Schwertzells, von Dornbergs, von Ditfurths, von Gilsa, von Hansteins waren Adelsgeschlechter aus der althessischen Ritterschaft, die schon zu Zeiten des Sternerbunds Hessen beherrscht hatten.
Viele von ihnen die in der Beamtenschaft und in der Justiz tätig waren, arrangierten sich mit den neuen Herren. Personell war das Königreich Westphalen keineswegs so revolutionär. Um einen Prozess zu führen, mussten Bauern und Bürger nach Marburg oder Kassel fahren.
In der Welt des Ancien Regimes hatte alles seinen scheinbar gottgegebenen Platz- Die Reformen verunsicherten viele Teile der Bevölkerung.

All das belastete das Königreich Westphalen, zu neu, zu revolutionär,zu modern erschien vieles den Landbewohnern. Innerhalb des aufgeklärten Bürgertums, innerhalb der Intellektuellen stieß vieles was reformiert wurde auf positive Resonanz. In den Universitätsstädten Marburg und Göttingen fanden die Reformen durchaus positive Resonanz, und nicht wenige Vertreter des Kasseler Bürgertums hatten hugenottische Vorfahren und war zweisprachig aufgewachsen.
Nachdem der Kurfürst geflüchtet war, wechselte auch der größte Teil des Offizierskorps in westphälische Dienste.
Träger des Widerstands, der sich 1806 und 1810 in Aufständen und Revolten entlud, waren vor allem die Unteroffiziere und Sergeanten der althessischen Armee. Die Franzosen schlugen diese Revolten nieder, aber Freunde konnten sie sich keine oder nur wenige machen.

Vor allem die Belastungen durch Einquartierungen, Kontributionen und Zwangsrekrutierungen belasteten ie Bevölkerung schwer. Das Königreich Westphalen hätte vor allem Frieden und eine mehrjährige Phase gebraucht, um sich ungestört entwickeln zu können. Die blieb dem Modellstaat leider verwehrt, und so blieb das Königreich Westphalen trotz aller vielversprechenden Reformen nur eine Episode.
 
Müsste die Bevölkerung sich nicht über die Befreiung der last freuen, wie du auch geschrieben hast? So klingt das widersprüchlich zum Rest.

Ich habe nicht gesagt, dass die Entwicklung frei war von Widersprüchen. Das, was aus der Sicht des 20.,, 21. Jahrhunderts modern, liberal und emanzipatorisch erscheint, war für viele Zeitgenossen unerhört, revolutionär. Es gab Freude darüber in Kreisen des aufgeklärten Bürgertums und mit
mit Sicherheit Freude und Erleichterung innerhalb der jüdischen Gemeinden. Heinrich Heine schrieb einmal:

"Napoleon hauchte Preußen an, und Preußen hörte auf zu bestehen."

Einige Lasten wie die Leibeigenschaft wurden aufgehoben, dafür kamen neue Lasten, Steuern, Einquartierungen, Rekrutierungen zur Armee auf die Bevölkerung zu.

Die alten Lasten, und die alten Herrschaften und Herrschaftsverhältnisse kannte man, die Landbevölkerung war damit aufgewachsen, es war seit Menschengedenken die gewohnte Ordnung, die gottgewollte Ordnung wie viele Geistliche predigten. Wie wird sich wohl ein Handwerksmeister, der in den Traditionen des zünftigen Handwerks aufgewachsen war, gefühlt haben, wenn durch die neu eingeführte Gewerbefreiheit jemand ein Handwerk ausüben durfte, ohne dass er Mitglied einer Zunft, einer Innung war und keinen Meister- oder Gesellenbrief vorweisen konnte?
Wie mögen sich Bauern gefühlt haben, die zwar nominell frei geworden waren, die aber unter Teuerungen zu leiden hatte, denen das Militär Vieh und Lebensmittel beschlagnahmte und die Söhne wegholte?- Und diesmal nicht im Dienste des Landgrafen, sondern für einen fremden Souverän, der nicht einmal die Landessprache beherrschte. Von denen, die mit "Juchheißa nach Amerika" auszogen, haben doch die meisten das "Abenteuer" überlebt.
Die westphälische Armee ist mit ca. 38.000 Mann nach Moskau gezogen, davon haben keine 1000 Mann die Heimat wiedergesehen.

Die Justizreformen waren beachtlich, aber die alte Patrimonialgerichtsbarkeit unter Vorsitz eines Adeligen, deren Familie man seit Generationen kannte war vertraut, Geschworenengerichte, Appellationshöfe etc. waren es nicht. Statt einem bekannten Adeligen, sprachen jetzt gelehrte, studierte Juristen Recht, deren Sprache selbst heute für Laien nicht immer leicht verständlich ist.

Wie mussten sich Menschen fühlen, die fest im Glauben verwurzelt waren, denen Religion Trost und Halt gab, die jahrhundertelang eingebläut bekamen, dass der Protestantismus die wahre Religion ist, dass nun plötzlich Juden ihnen gleichgestellt waren, dass man glauben konnte, was man wollte oder auch gar nichts mehr?
Wie konnte eine Landbevölkerung die Franzosen als Befreier begrüßen, wenn man entweder noch selbst erlebt hatte, dass französische Soldaten im "Großen Krieg" 1756-1763 Vieh, Lebensmittel und Ernten den Bauern wegnahmen und auch vor Übergriffen nicht zurückschreckten oder wenn man zumindest von den Eltern, von den Großeltern solche Berichte gehört hatte?

Wie gesagt, es griff Napoleon rücksichtslos auf die Ressourcen des Landes zurück, und trotz aller beachtlichen und emanzipatorischen Reformen verbesserten sich für die Mehrheit der Bevölkerung die Lebensverhältnisse nicht wirklich, vieles, was einem aus der rückblickenden Perspektive des Historikers, der die historischen Dimensionen überschauen kann als modern, als emanzipatorisch und-durchaus zu Recht bewunderungswürdig vorkommt, sah für viele der Zeitgenossen, die in ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen waren eben auch weniger positiv aus.
 
Danke für den Beitrag. Das was du schreibst, ist mir verständlich. Mit dem Zitat bezog ich mich darauf, dass ich bei einer Befreiung von der Last der Einquartierungen keinen Vorteil für Fremde sehe. Wie ist das konkret gemeint?
 
@Lafayette - ist doch nicht so schwer. Wenn du als kurhessischer Alt-Bürger einen kurhessischen Soldaten durchfüttern musst, dein zugereister hugenottischer Nachbar dagegen nicht, dann siehst du keinen Vorteil für den Fremden? Ich schon.
 
@Lafayette - ist doch nicht so schwer. Wenn du als kurhessischer Alt-Bürger einen kurhessischen Soldaten durchfüttern musst, dein zugereister hugenottischer Nachbar dagegen nicht, dann siehst du keinen Vorteil für den Fremden? Ich schon.

Mein Fehler, mein Fehler. Ich habe irgendwie das Wort "Einwanderer" komplett überlesen.
 
Ich sehe das bei allen diesen künstlich von Napoléon geschaffenen Staaten ähnlich. Sie hatten positive und negative Seiten. Das Problem war m.E., dass Napoléon kein Staatsmann sondern vorwiegend Soldat war und sich auch von Staatsmännern nicht beraten ließ - d.h. auf diese nicht hörte.
Wie sollte man Vertrauen in einen neuen Staat aufbauen, wenn dieser reine Verhandlungsmasse war? Die französischen Satellitenstaaten wurden nach Napoleons Gutdünken errichtet, vergrößert, verkleinert oder wieder aufgelöst (z.B. Königreich Holland oder die italienischen Republiken). Die Satellitenstaaten besaßen demnach nie eine tatsächliche territoriale Integrität. Alle Versuche ihnen eine irgendwie eigenständige Politik zu geben - wie unter Louis in Holland - wurden rücksichtslos von Napoléon auf Kosten des künftigen Zusammenhalts verhindert. Die neuen deutschen Staaten, die aus älteren hervorgegangen waren (wie das Ghzm. Baden) konnten sich trotz der innewohnenden Konflikte auch nur behaupten, weil oder wo man mehr Fingerspitzengefühl bezeigte als es Napoléon jemals getan hat. Da fällt mir z.B. in Baden das Beispiel ein, dass die Feinde der Angliederung Vorderösterreichs nicht verhaftet und hingerichtet, sondern nur beobachtet wurden. Sonst hätte man wahrscheinlich bürgerkriegsähnliche Zustände provoziert, die einer Großmacht wie Österreich in die Hände gespielt hätten.
 
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