Cafes und Konditoreien - Datingplattform der 1950er Jahre

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Bei mir in der Straße (Kleinstadt) gibt es eine Konditorei / Bäckerei. Sie ist im Familienbesitz, aber die deutlich über 80 Jährige Seniorchefin steht noch regelmäßig hinterm Tresen. Heute kommen die Kunden meist zur Theke, kaufen Brötchen oder Kuchen und gehen wieder. Einige setzen sich auch an kleine Beistelltische in der Nähe der Theke oder nach draußen.

Allerdings gibt es bis heute die Möglichkeit, nach oben zu gehen. Dort ist ein riesiger Bereich im Stil der 50er Jahre mit gepolsterten Möbeln, Häkeldeckchen, Dackelbeinsofas etc pp., etwas in die Jahre gekommen, welcher durch die Kundschaft heute so gut wie nie genutzt wird.

Letztens habe ich darüber intensiver nachgedacht.

Mir ist dann eingefallen, dass in vielen 50er Jahre-Filme sich junge Erwachsene sich in irgendeinem Cafe verabredet hatten. Und die jungen Damen dann kichernd zum Herrentisch rübergelinst, 50er Jahre halt-...:D

Auch wurde mir letztens zugetragen, dass sich meine Großeltern in einem Cafe (andere Kleinstadt) kennen gelernt hatten.

In der Stadt, aus der ich komme, gibt es auch seit Urzeiten ein Cafe. Dieses ist ebenerdig, was wohl der Grund sein dürfte, dass sich hier noch ganz alte Leute treffen. Die waren sicher aber auch mal jung...:rolleyes:

Meine Interpretation ist, dass Cafes und Konditoreien bis in die 1950er und 60er Jahre wohl der Platz für junge Leute abseits der Schule/Lehre/Job gewesen sein müssen, um andere gleichaltrige kennen zu lernen. Wahrscheinlich war das Cafe in mancherlei Beziehung unkomplizierter. Ein Wirtshaus war entweder eine verruchte Spielunke, was wahrscheinlich v.a. die Damen (und deren Eltern) abgeschreckt haben dürfte, oder eine relativ noble Angelegenheit, wo man vielleicht zu Feiertagen und Familienfesten hinging. Das Cafe bot da vermutlich ein anderes Flair und erschwinglichere Produkte auf der Bestellkarte.

Ich frage mich, ab wann diese Cafephase losging und ab wann sie endete. Wahrscheinlich braucht es als Standortfaktor schon mindestens eine Kleinstadt mit Jobs in der Industrie und im Dienstleistungssektor. Es könnte sein, dass es in den 1920ern in den großen Städten anfing und mit steigendem Dienstleistungsbereich und quasi im Gleichschritt mit den Lichtspielhäusern bis in die 1950er Jahre in die Kleinstädte im 20.000 EW-Bereich vorgedrungen war.

Interessanter ist fast das Ende dieser Bewegung. Wahrscheinlich war den Jugendlichen und jungen Erwachsenen irgendwann in den 60ern die Atmosphäre zu steif. Es gab den Trend zur sportlichen Figur und Aktivitäten im Freien (Freibäder wurden gebaut). Viele Zutaten für Torten, welche 1930 vielleicht noch besonders waren, wurden allgemein in den Supermärkten erhältlich.

Jedenfalls schon interessant, wie sich das geändert hat. Wie anders doch die Leute vor 2-3 Generationen noch gelebt haben.... Wie bei den Lichtspielhäusern gibt es noch Spuren in jeder Kleinstadt (s. oben) aber erst, wenn man drüber nachdenkt ordnet man sie ein.

Hat jemand dazu noch mehr Informationen? Liege ich mit meinen Annahmen richtig? Und wie war das in Resteuropa und in der DDR...?
 
Das Café Central in Wien ist besonders erwähnenswert. Im dt. Wiki wird nicht erwähnt (womöglich auf Bitte der Café-Leitung), dass Hitler und Stalin dort oft Gast waren, Hitler sogar ein Stammgast, wobei die Vorstellung, dass Sigmund Freud sich öfters gleichzeitig mit ihm dort aufhielt (wahrscheinlich ohne ihn kennenzulernen), das Phantasieren darüber anregt, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, wenn Freud den 1913 noch nicht anti-semitischen Hitler kennengelernt und womöglich dauerhaft positiv beeinflusst hätte. 1938 musste der Jude Freud, dessen Bücher schon seit Jahren von den Nazis verboten und auch verbrannt worden waren, nach England emigrieren, 4 von seinen 5 Schwestern starben aber in Konzentrationslagern.

Wiki deutsch:

Café Central – Wikipedia

Wiki englisch:

Café Central - Wikipedia

In January 1913 alone, Josip Broz Tito, Sigmund Freud, Joseph Stalin, Hitler, and Trotsky (the latter two being regulars) were patrons of the establishment.

Ein anderer in früheren Zeiten bedeutender Treff ist das Café de Flore in Paris, wo u.a. Picasso und Sartre verkehrten.

Wiki deutsch:

Café de Flore – Wikipedia

Wiki englisch:

Café de Flore - Wikipedia
 
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Du spricht ja zu recht Wien mit Café Central an.

Wien ist für mich die Stadt der Caféhäuser!

Mir fallen da 7 Caféhäuser ein, wovon das Café Central eins ist.

1. Café Landmann
2. Café Sacher
3. Café Mozart
4. Café Palmenhaus
5. Demel Caféhaus und dann
6. Café Central.

In 2 dieser Häuser (Nr. 2 und 5) war ich mit meiner Frau.

Wenn es aber um Caféhäuser in Kleinstädten geht – wie im Eingangsthread angeführ - , da fällt mir auch Salzwedel in der Altmark ein.

Salzwedel, die Stadt wo der leckere >Baumkuchen< erfunden wurde und Salzwedel die Geburtsstadt von Jenny von Westphalen.

Und man könnte, ich glaube bald, hunderte Caféhäuser in Deutschland, Österreich, Schweiz und vielen Orten der Welt aufführen die sich in Klein- Mittleren und Großstätten befinden mit dem Ambiente was im Eingangsthread beschrieben wird.

Und da sind viele Treffpunkt von Jung und Alt aller Coleur, also nicht nur „Aber bitte mit Sahne“.
 

Dort wurde ich in jungen Jahren an der Tür abgewiesen, weil ich keine Krawatte trug (was ich auch sonst nie tue). Dasselbe ist auch einem Curd Jürgens widerfahren... Heute geht es dort viel lockerer zu.

Lifestyle: Das Verschwinden der Krawatte

Im berühmten Wiener Hotel Sacher war die Krawatte jahrzehntelang für Herren obligatorisch. Wer keine hatte, wurde hinausgebeten, egal ob reich, ob Fürst oder Weltstar. Um ein Beispiel zu nennen: in den 70er-Jahren wurde Filmschauspieler Curd Jürgens des Hauses verwiesen, weil er keine Krawatte trug.

Zu Beginn der 2000er-Jahre wurde die Krawattenpflicht im Sacher abgeschafft. „Es ist auch ein Statement, wenn man keine Krawatte tragen möchte, unabhängig von der Position, unabhänig von der Funktion – und da haben wir uns natürlich auch anpassen müssen. Weil der Gast natürlich auch diktiert, was er möchte und was er nicht möchte“, erklärt Sacher-Direktor Reiner Heilmann.
 
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Was ich bedauere ist, das zweit älteste Café von Europa hat wohl inzwischen geschlossen.

1. Café Le Procope – Paris 1686

2. Café Baum – Leipzig 1711

3. Café Florian – Venedig 1720

4. Central Café Wien 1876

Café Baum ->

https://www.mdr.de/sachsen/leipzig/...nslokal-coffe-baum-leipzig-schliesst-100.html

Café Baum, 14 weltberühmte Persönlichkeiten waren dort zu Gast. Vor allem Musiker/Komponisten. Auch R. Schumann verkehrte dort.

Und auch Richard Wagner, er wurde ja unweit von dort geboren. Das Geburtshaus wurde leider abgerissen, jetzt steht dort ein 11-geschossiger Plattenbau errichtet zu DDR- Zeiten
 
Nahe meiner Alma Mater gab es bis vor wenigen Jahren noch das Café K. Als Familie K. in der Lokalpresse ankündigte, dass sie ihr Café schließen müsse, ging ein Raunen durch die Stadt, Leserbriefe wurden geschrieben, die Sozialen Medien glühten. Unverständnis, Samstags sei doch nie ein Platz zu bekommen. "ja", sagte daraufhin Konditor K., "Samstags... aber die Woche hat noch sechs weitere Tage." Und es war ein schönes Café, noch ganz im Stil der 1950er Jahre - und zwar in echt, nicht diese Plastik-50er Jahre, die man im Ausstattungsgeschäft kaufen kann, sondern alles - außer der Bedienung - original.
 
Es wäre hier auch das Caffè Pedrocchi in Padua zu nennen, das es seit 1772 gibt – und seit 1831 in der heutigen Form. In der italienischen Wikipedia gibt es u.a. dies zu lesen (meine Übersetzung):

Zwischen dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert verbreitete sich der Kaffeekonsum auch in Italien, und so wurde die Tradition des Kaffees als bürgerlicher Kreis und als offener Treffpunkt etabliert, dies als Gegensatz zu noblen privaten Salons.
(…)
Bis 1916 war es Tag und Nacht geöffnet und daher auch als "Café ohne Türen" bekannt; seit über einem Jahrhundert war es ein angesehener Treffpunkt für Intellektuelle, Studenten, Wissenschaftler und Politiker.


Auch Stendhal schrieb darüber:

In Padua begann ich, das Leben auf venezianische Weise zu sehen, mit Frauen, die in Cafés saßen. Der ausgezeichnete Gastwirt Pedrocchi, der beste in Italien.
 
Zur Geschichte des Datings hat die Soziologin Eva Illouz einige Bücher geschrieben. Der Schwerpunkt liegt allerdings eher nicht auf Deutschland.
Zentraler Gedanke von Illouz ist eine kongruente Entwicklung von romantischer Liebe und Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Das Dating bzw. Rendevouz bzw. das Ausgehen von Mann und Frau sei parallel mit neuen Konsumformen wie Restaurant, Kino u.a. entstanden.

Die wichtigste Neuerung ist hierbei, dass es in Mode kam als Mann und Frau zusammen ins Cafè gehen. Café gab es natürlich schon vorher, nur gingen früher eben die Männer zusammen ins Café.
 
Zentraler Gedanke von Illouz ist eine kongruente Entwicklung von romantischer Liebe und Kapitalismus im 20. Jahrhundert.

Voraussetzung dafür war die Entstehung eines Konzept der Ehe, die nicht auf Zweckmäßigkeit, sondern auf Neigung beruht. Es war Samuel Richardsons (von mir kürzlich neu übersetzter) Roman "Pamela", der den Gedanken, dass eine Frau ihre Wahl ohne Rücksicht auf die Forderungen ihres Umfeldes treffen sollte, in den 1740er Jahren erstmals europaweit populär machte und Rousseau zu seiner nicht minder durchschlagenden "Julie" anregte.
 
Laut Illouz ersetzte das Rendevouz im Cafè, Restaurant u.a. die altvordere Praxis, in der Wohnung der Eltern um die Hand der Tochter anzuhalten. Das besondere ist, dass das Rendevouz zugleich privat als auch öffentlich ist. Orte wie das Café, das Restaurant, Kino u.a. bezeichnet sie Konsumsphäre. Entscheidend ist, dass sie sich die Rendevouzpartner dem Machtbereich der Eltern entziehen und der wirtschaftliche Fortschritt entsprechende Freiräume ermöglicht.
 
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