Appeaser und Anti-Appeaser: Zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion

Es ist achtzig Jahre her seitdem der WW2 von Hitler inszeniert wurde. Jenseits der Entscheidungen der Politikführungen war in Deutschland zwar ein patriotisch-nationalistisch gesinntes Volk anzutreffen, das aber in Bezug auf einen drohenden Krieg sehr zurückhaltend war. So die Kernthese des neuen Buches von Taylor.

Taylor, Frederick (2019): Der Krieg, den keiner wollte. Briten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939. München: Siedler.

OT: Die Entscheidung über die Führung von Kriegen sollte als Plebiszit getroffen werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit entscheidet sich keine Mehrheit für einen Krieg. Das hätte sowohl den Ausbruch 1914 und den von 1939 - vermutlich - verhindert.
 
Hitler und die Wehrmacht hat den Krieg gegen Polen inszeniert und später andere Länder angegriffen, den Weltkrieg konnte er nicht inszenieren. Der war 1939 schon im vollen Gang, mit der Japanischen Aggression gegen Kora und China seit 1937 ... damit die Bedrohung der Kolonien der Europäer Frankreich oder der Niederlande ...
 
Korea war besetztes japanisches "Protektorat", vulgo Kolonie, seit 1910.
Der Erste Weltkrieg führte zur weiteren Ausdehnung der japanischen Einflußsphäre.

Der japanische Krieg gegen China war seit 1937 im Gange, führte darüber hinaus zu massiven Konflikten/Krisen/Spannungen, aber nicht zum (Welt-)Krieg. Diese Eskalation zum Krieg - auf den asiatisch-pazifischen Raum bezogen - ging wiederum erst später, 1941, von Japan aus.

Dazwischen liegt noch Khalkhin Gol, wiederum "lokal", nicht global.
 
Zählt also historisch der deutsche Überfall auf Polen immer noch als Beginn des 2. Weltkrieges?
Es gab schon vor 39 zahlreiche Kriegsschauplätze und der Kriegseintritt der USA war als große Nation erst 41 ...
 
Zählt also historisch der deutsche Überfall auf Polen immer noch als Beginn des 2. Weltkrieges?
Es gab schon vor 39 zahlreiche Kriegsschauplätze und der Kriegseintritt der USA war als große Nation erst 41 ...

An sich spannende Frage.
Ich würde das verneinen und demgegenüber anbringen, dass der Weltkrieg nicht mit dem Überfall auf Polen selbst beginnt, früherstens sondern mit der Weigerung Deutschlands auf das Ultimatum Großbritanniens und Frankreichs einzugehen und damit deren Kriegseintritt im Rahmen ihrer Garantiepflichten zu provozieren.
Das wäre dann nicht der 1. September gewesen, sondern der 3.

Ein denkbares Datum dafür, wann der Krieg zu einem Weltkrieg wurde, könnte auch der Kriegseintritt Italiens sein, weil dadurch direkte Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien auch außerhalb europäischen Bodens ausgetragen wurden.

Spätestens mit dem Übergriff Japans auf Französisch-Indochina und Britisch Malaya, hat der Konflikt militärisch globale Dimensionen entwickelt.

Das wären die drei qualitativen Wegmarken, die ich persönlich anvisieren würde, wobei nach wie vor klar ist, dass die Entwicklungsdynamik, die auf qualitativen Schritt eines Weltkrieges hin führte vom europäischen Schauplatz ausging, da durch die kolonialen Besitztümer der westeuropäischen Staaten damit andere Erdteile automatisch in den Konflikt mit hinein gezogen wurde.
 
Die Fronten sind nicht zuletzt deswegen so verhärtet, da die Argumentation der "Anti-Appeaser" darauf hinausläuft, dass der WW2 hätte verhindert werden können, sofern der Westen im Jahr 1938 hart geblieben wäre ....
Und vielleicht auch deshalb, weil diese spezielle Interpretation in späteren Konflikten erneut bemüht wurde.
Nie wieder Appeasement
Ein bemerkenswertes Glied (Februar 2003) in der Kette der Argumentation für einen völkerrechtswidrigen und törichten Angriffskrieg gegen den Irak März 2003.
Und folgt man dem Spiegel 2001, dann war das eine gängige Argumentation, beim Koreakrieg, der Suezkrise, dem Vietnamkrieg.
War das so?
Ich weiß es nicht, deshalb frage ich.
 
Zumindest gibt es eine wichtige Unterscheidung: 1938 ging es um den Friedenserhalt, später darum, den Krieg zu begründen.
 
Und vielleicht auch deshalb, weil diese spezielle Interpretation in späteren Konflikten erneut bemüht wurde.

Wir können mit Waltz - einem zentralen Neo-Realisten - feststellen, dass es keine Theorie der Internationalen Beziehungen gibt, die im engeren Sinne den Anspruch einlösen könnte, auf der Grundlage ihrer Überlegungen zur Kausalität von Ereignissen und der Vorhersage zukünftiger Ereignisse, eine Basis für die umfassende und konsistente Erklärung von „Internationaler Politik zu sein.

Das machen auch die guten und kritischen Darstellungen in z.B. Schieder und Spindler zum "Realismus" und zum "Neo-Realismus" deutlich. Und in Kindermann wurde die Sicht der „Realisten“ relativ ausführlich dargestellt.

Der „Realismus“, als lange vorherrschendes Paradigma nach 1945 zum Verständnis von Außenpolitik, entwickelte sich zunächst in den 1930er Jahren. Er grenzte sich in doppelter Hinsicht zum einen gegen das sozialdarwinistische Verständnis von Außenpolitik, als „Realpolitik“, ab und zum anderen gegen eine „idealistische“ Form, die Außenpolitik als „Soll-Normen“ formulierte ohne empirischen Bezug zum Status der realen Beziehungen von Staaten. (vgl. Jacobs, S. 41ff)

Die Realisten beziehen sich dabei u.a. auf die Darstellungen von Thukydides oder auf Machiavelli (Jacobs, S. 40) Im Kern der Realisten und Neo-Realisten steht somit die Vorstellung, dass die Staaten ihr spezifisches Interesse verfolgen und um Politik zu verstehen, ist es notwendig, dieses „nationale Interesse“ zu analysieren. In diesem Sinne formuliert Morgenthau : „Yet the kind of interest determining political action in a particular period of history depends upon the political and cultural context within which foreign policy is formulated.“ (S. 9). Ein Aspekt, der primär durch die Arbeit von Wendt präzise herausgearbeitet wurde.

Das zentrale Paradigma sowohl der Realisten wie Neo-Realisten beschreibt Mearsheimer (Pos. 125) präzise. „…the great powers fear each other and compete for power as a result. Indeed, their ultimate aim is to gain a position of dominant power over others, because having dominant power is the beats means to ensure one`s own survival. Strength ensures safety, and the greatest strength is the greatest insurance of safety. States facing this incentive are fated to clash as each competes for advantage over the other.“ (Mearsheimer, Pos. 123)

Das betrifft dabei nicht nur den Konflikt zwischen den großen Mächten bzw. den Supermächten, sondern diese Sicht strukturiert auch, so die Realisten, das Verhältnis der internationalen Kooperation. "International Order and international solidarity will allways be slogans of those who feel strong enough to impose them on others", faßt Carr als "realistischer" Weberianer das Verhältnis von Konfrontation und Konflikt zusammen. (Carr, S. 87)

Diese Vorstellungen zu den zentralen Aspekten, was die Internationale Politik bewegt, lag nach 1945 der „Rollback“-Theorie zugrunde und im wesentlichen auch der „Domino-Theorie“. Die Verteilung von „Hegemonie“ wurde als „Nullsummenspiel“ konzipiert und jeder Staat, der sich an der Kokurrenzsituation nicht beteiligte, lief Gefahr als Verlierer aus der Konkurrenzsituation hervorzugehen.

Diese Sicht war teilweise auch eine Reaktion auf die Außenpolitik der extrem ideologisch dogmatisch agierenden Länder wie dem NS-Deutschland unter Hitler oder Stalin`s Sowjetunion. Und in diesem Narrativ hat – teils in polemischer Absicht – auch das Münchner Abkommen und die – sogenannte – Phase des „Appeasements“ eine Rolle gespielt.

Das diese Sicht der Realisten die Welt wiederholt an den Rand des Atomkriegs gebracht hatte, ist häufiger dargestellt worden. Und die Konfrontation zwischen der USA und der UdSSR um Kuba war wohl der gefährlichste Vorgang. Und in diesem Sinne resümieren May und andere: „Decision-makers initially went wrong in the cuban crisis because they were influenced by international theorists who sought to understand world politics through the prism if realist theory.“ (May et. Al. S. 2).

Die Problematik der Anwendung realistischer und neo-realistischer Annahmen hatte die Welt in die fragile und sehr gefährlich Balance von hochgerüsteten, atomaren Supermächten gebracht. Eine Situation, die ein „früher Realist“ bereits als unhaltbar bezeichnet hatte (Herz, S. 137ff)

Aber diese Sicht hat die Außenpolitik der USA lange beeinflußt, so auch das Ergebnis von Grandin, da Kissinger bereits 1957 als Vorgabe formulierte: „Die strategische Doktrin soll Macht in Politik umsetzen." (Kissingers langer Schatten, S. 39)

Und in der Phase von Obama`s Regierung verzeichnete der Neo-Realismus einen gravierenden Bedeutungsverlust. Das setzte sich danach aus anderen Gründen fort, da die Wählerschaft in den USA zunehmend den Interventionen der USA in der Welt kritisch gegenüber standen.

Carr, Edward Hallett (1964): The twenty years' crisis, 1919-1939;. An introduction to the study of international New York: Harper & Row
Herz, John H. (1961): Weltpolitik im Atomzeitalter. Stuttgart: W. Kohlhammer
May, Ernest R.; Rosecrance, Richard N.; Steiner, Zara (2010): Theory an international history. In: Ernest R. May, Richard N. Rosecrance und Zara S. Steiner (Hg.): History and neorealism. Cambridge, New York: Cambridge University Press, S. 1–7.
Mearsheimer, John J. (2014): The tragedy of great power politics. Updated edition. New York, London: W.W. Norton
Morgenthau, Hans J. (1960): Politics among nations. The struggle for power and peace. New York: Alfred A Knopf.
Waltz, Kenneth Neal (2010): Theory of international politics. Long Grove, Ill.: Waveland Press.
Wendt, Alexander (1999): Social theory of international politics. Cambridge UK, New York: Cambridge University Press

Als Einführung in die Konzepte Realismus und Neorealismus
Jacobs, Andreas (2003): Realismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler (Hg.): Theorien der internationalen Beziehungen. Opladen: Leske + Budrich , S. 39–63.
Schörnig, Niklas (2003): Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler (Hg.): Theorien der internationalen Beziehungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 65–92.

Moderner Klassiker zum Realismus:
Kindermann, Gottfried-Karl (Hg.) (1986): Grundelemente der Weltpolitik. Eine Einführung. Geleitwort Hans J. Morgenthau. 3. Aufl. München, Zürich: Piper
 
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