"Vom Gottesstaat" von Augustinus

Sucher67

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Ich lese gerade "Vom Gottesstaat" von Augustinus (dtv-Ausgabe) und möchte hierzu einen Thread eröffnen.
Im ersten der 22 Bücher dieses Werkes wird u. a. die Wirkungslosigkeit der traditionellen römischen Götter im Hinblick auf den Niedergang des antiken Roms betont. Außerdem werden Vergewaltigungen durch feindliche Soldaten bei Kriegen oder Überfällen thematisiert; es muß seinerzeit oft vorgekommen sein, daß sich betroffene Frauen aus Schamgefühl das Leben genommen haben.
Jetzt bin ich am Anfang des zweiten Buches angelangt und finde das Werk bisher sehr lesenswert.
Ich freue mich auf eure Antworten, wenn
1. ihr dieses Werk von Augustinus auch lest oder gelesen habt oder
2. ihr gute Sekundärliteratur zu Augustinus kennt oder
3. ihr etwas zu der Frage sagen könnt, ob Augustinus eher Philosoph oder doch eher Theologe war.
 
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es muß seinerzeit oft vorgekommen sein, daß sich betroffene Frauen aus Schamgefühl das Leben genommen haben.
Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass dem so war, jedoch muss man bei solcher Literatur immer den Kontext mitberücksichtigen, in dem das steht. Augustinus hat sicher weder einen Body Count veranlasst noch Zugriff auf einen gehabt.
 
@Sucher67: Dein bisheriges Verständnis wird Augustinus nicht gerecht. Der "Kampf um Rom" wäre da sicherlich - entsprechend dem Interesse - zielführender.

1. Augustinus wird beispielsweise von Le Goff als "Kirchenvater" und "Er ist der große Lehrmeister" des Mittelalters" bezeichnet.

2. "Vom Gottesstaat" reflektiert u.a. die Plünderung Roms durch Alarich (410). Bedeutsam ist dieses Ereignis aber nicht durch die Greueltaten, sondern er widerspricht den damit verbundenen "endzeitlichen Vorstellungen" und lehnt diese "millenaristischen Ängste" ab.

3. Die Wirkungen von Augustinus für die mittelalterliche Theologie sind gravierend "Es gibt keinen mittelalterlichen Theologen, der nicht in gewissem Maße Augustiner gewesen wäre," (Le Goff)

Nicht unwichtig in diesem Zusammenhang sind seine Ausführungen zu einer "politischen Theologie", die unter dem Begriff der "Zwei Reiche Lehre" für das Verständnis zwischen geistiger und weltlicher Herrschaft bedeutsam war.

4. Die Wirkungen von Augustinus auf die Scholastik werden bei Rexroth an vielen Stellen zudem thematisiert. Und bei Flasch (S. 27ff) kann man die differenzierte Positionierung von Augustinus zwischen Theologie und Philosophie erkennen.

Vor diesem Hintergrund war er nach unserem heutigen Verständnis der Disziplinen, die im Mittelalter diese klare Trennung nicht hatten, ein Theologe.

Flasch, Kurt (1986): Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart: Reclam.
Le Goff, Jacques (2015): Die Geburt Europas im Mittelalter. München: C.H. Beck
Rexroth, Frank (2018): Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters. München: Verlag C.H. Beck
 
Zuletzt bearbeitet:
Außerdem werden Vergewaltigungen durch feindliche Soldaten bei Kriegen oder Überfällen thematisiert; es muß seinerzeit oft vorgekommen sein, daß sich betroffene Frauen aus Schamgefühl das Leben genommen haben.

Thomas von Aquin greift dieses Thema auch kurz auf. Das wurde Sonntag zufällig in der Anruf-Show "The Atheist Experience" angesprochen. Ich habe die Stelle mal rausgesucht:

"Ahnlich (sic!) darf sich ein Weib nicht töten, um nicht von einem Manne verletzt zu werden. Denn sie darf nicht das größte Verbrechen begehen, damit das minder große Verbrechen eines anderen vermieden werde; es ist ja auch eine solche Überwältigung des Weibes keine Sünde, wenn die Zustimmung des Geistes nicht vorhanden ist, [...]"

Summa Theologica II/II Quaestio 64 Articulus 5

Der Selbstmord aus Angst vor einer Vergewaltigung oder aus Scham nach einer Vergewaltigung ist also nach Thomas nicht statthaft, da der erzwungene Geschlechtsverkehr (für die Frau) keine Unkeuschheit, keine Sünde ist.
 
@Sucher67: Dein bisheriges Verständnis wird Augustinus nicht gerecht. Der "Kampf um Rom" wäre da sicherlich - entsprechend dem Interesse - zielführender.

Ich weiß nicht, ob du mein Verständnis jetzt schon beurteilen kannst, aber ich glaube es eher nicht.

Es war nicht meine Absicht, schon im ersten Beitrag ein vollständiges Bild von Augustinus oder auch nur seines hier genannten Werkes zu geben. Dieser Thread soll sich ja entwickeln, und er wird sich auch mit meiner weiteren Lektüre entwickeln.
 
Der Selbstmord aus Angst vor einer Vergewaltigung oder aus Scham nach einer Vergewaltigung ist also nach Thomas nicht statthaft, da der erzwungene Geschlechtsverkehr (für die Frau) keine Unkeuschheit, keine Sünde ist.

Der Hinweis auf Thomas von Aquin ist zwar sehr interessant, hier aber eher OT. Trotzdem kann gesagt werden, daß sich auch Augustinus klar gegen einen Selbstmord seitens der betroffenen Frau ausspricht.
Dies ist aber ein Augustinus-Thread, und hier soll vor allem diskutiert werden, was Augustinus in "Vom Gottesstaat" gesagt hat. Auch Hinweise zu seinen "Confessiones" wären hier OT.
 
Nun, Thomas von Aquin bezieht sich hier, was als Wirkungsgeschichte immer interessant ist, ganz klar auf Augustinus, der darlegt, dass eine Frau keine Schuld an einer Vergewaltigung trifft, da es nicht ihr Wille ist. Daher hat sie auch keinen Ehebruch begangen und darf auch nicht bestraft werden. Uns erscheint das offensichtlich. Doch damals war es ein Problem:

Was ist, wenn eine Frau dabei einen Orgasmus erlitten hat oder ein Kind gezeugt wurde, die Tat also einen 'Erfolg' zeitigte. Gerade dies soll für die betroffenen Ordensschwestern ein großes moralisches Problem gewesen sein, wie -unter Außerachtlassung von psychischen Folgen- oft zu lesen ist. Augustinus zeigt nun, unter Rückgriff auf die Argumentation der Stoiker, dass ethisch irrelevant ist, auf was man keinen Einfluss hat, dass die Frau keine Schuld trifft. Er tut dies in religiöser Hinsicht. Aber dann kommt das Beispiel mit Lucretia. Sie war keine Christin und er argumentiert hier jenseits des Glaubens: Auch sie ist nicht Schuld an der Vergewaltigung, weil es unrecht bleibt, dass sie den Tod erleidet, während der Täter mit Verbannung davonkommt.

Hier ist dann auch zu sehen, dass der Theologe und der Philosoph nicht so leicht auseinander zu dividieren sind, was auch gar nicht versucht werden muss: Die Theologie galt bis ins Mittelalter als Teilgebiet der Philosophie.

Vereinfacht könnte zum Gottesstaat allgemein gesagt werden: Augustinus setzt die aktuellen Ereignisse und die Tagespolitik in Bezug zur Heilsgeschichte und versucht einen haltbaren christlichen Standpunkt zu den aktuellen Entwicklungen zu finden. Seine Antwort ist dann wieder Philosophie, die Auswirkung derselben dann wieder ein historisches Thema.

Aber es zeigt auch, dass das Beispiel der Vergewaltigung nicht ohne Folge und Wichtigkeit für das Werk ist. Wer wegen der damaligen 'schief laufenden' Geschichte in geistige Nöte geriet, weil man ja offensichtlich alles falsch machte, dem sagt Augustinus: Wenn wir das nicht ändern können und es nicht unserem Willen entspricht, sind wir daran so unschuldig wie eine vergewaltigte Frau an der Vergewaltigung. Denn dies kann er ja als Gegenbeispiel nutzen. Daher ergibt ich aus der ausführlichen Behandlung die Wichtigkeit für die weitere Argumentation und nicht eine historische Aussage zum Umfang der Vergewaltigungen während der Völkerwanderungszeit. (Natürlich geht die Argumentation weiter, aber dies zur Relevanz des Themas. Übrigens auch für die heutige Zeit: Wenn der Erfolg und nicht der Wille das ethische Urteil begründen soll, wären manche Frauen an einer Vergewaltigung Schuld, was aber schon evident nicht hinnehmbar ist.)

Wenn du weiter lesen willst, musst du damit leben, dass vieles nicht direkt ausgesprochen wird, aber die einzelnen Teile miteinander in Verbindung stehen. Und eine Einführung sowohl in die Zeit, als auch in die geistesgeschichtlichen Grundlagen derselben, ist -wie schon thanepower schreibt- eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis. Augustinus hat sich z.B. nicht nur mit dem Christentum beschäftigt. Die Stoiker musste ich ja schon erwähnen.

Augustinus ist auch deshalb nicht leicht, weil sich seine Ansichten im Laufe seines Lebens in vielen Dingen so sehr änderten, dass er bei vielen Diskussionen leicht auf beiden Seiten ins Feld geführt werden kann. Wer sich bei ihm nicht entsprechend auskennt, kann sich eigentlich nur auf das aktuelle Werk beziehen und muss sein anderes Schrifttum beiseite lassen. Auch daher ist eine vorherige Beschäftigung mit Sekundärliteratur weise, falls du das noch nicht getan hast.
 
Dub fragst nach Sekundärliteratur:das "Augustin Handbuch"herausgegeben von Volker Henning Drecoll ist ziemlich hilfreich, weil es verschiedene Zugänge zu Augustin ermöglicht(theologisch, philosophisch und historisch)
 
Im zweiten Buch kommt Augustinus auf den Sittenverfall im antiken Rom zu sprechen. Insbesondere beklagt er die Gotteslästerungen bei Theateraufführungen.
So wie ich es im Moment sehe, dient der erste Band von "Vom Gottesstaat", also die ersten zehn Bücher, vor allem der Entkräftung der Behauptung, das Christentum habe den Verfall des antiken Roms verursacht.
 
Man sehe sich auch die Kapitel 20 und 21 des zweiten Buches des Gottesstaates an. Hier beschreibt Augustinus, inwiefern der antike römische Staat schon vor Christi Geburt dem Verfall preisgegeben war; er nennt die Werke von Sallust und Cicero als Belege für diese These.
Der innere Verfall des alten Roms, gekennzeichnet durch einen Mangel an Gerechtigkeit und Sittlichkeit, hat demzufolge bereits in der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts, genauer mit der Vernichtung Karthagos, eingesetzt.
 
Das ist nun ein Teil der Lebensalterdikussion zu einem Staat, die aus etruskischen Vorstellungen hervorgeht. Dazu gab es schon im Altertum verschiedene Meinung und bei seiner Thematik musste sich auch Augustinus dazu äußern.
 
Das ist nun ein Teil der Lebensalterdikussion zu einem Staat, die aus etruskischen Vorstellungen hervorgeht. Dazu gab es schon im Altertum verschiedene Meinung und bei seiner Thematik musste sich auch Augustinus dazu äußern.
Kannst du diese etruskischen Vorstellungen näher erläutern?
Übrigens macht Augustinus - jedenfalls bisher - in seinem Werk keine allgemeinen Äußerungen über die Lebensdauer von Staaten, sondern beschreibt einzig die Entwicklung Roms.
 
Bei Stadtgründungen wurde gleich auch nach Vorzeichen festgelegt, wie viele Menschenleben lang diese Stadt überdauern soll. Näher nachzulesen bei Niebuhr, der die für Rom gegebenen Daten und Angaben zur ältesten römischen Kalenderrechnung nutzt, um zu berechnen, ab wann überhaupt eine Möglichkeit bestand, Ereignisse für Rom jahrgenau anzugeben. Ein Menschenleben berechnet sich dabei nach dem längsten Leben, des am längsten lebenden, im Jahr der Stadtgründung geborenen Menschen... Je nachdem wie man rechnet passt das für Rom sogar zu einigen passenden Ereignissen im 5. oder 6. Jahrhundert. Zu der Vorstellung gehörte auch, dass ein Gemeinwesen wie ein Mensch altert.

Aber natürlich argumentiert Augustinus nicht heidnisch. Er stand aber vor diesem Hintergrund und kannte sicherlich das dazu bisher Geäußerte in irgendeiner Form. Es trifft ja das Thema genau. Aber ein christlicher Bischof wies ganz bestimmt nicht darauf hin, dass man sich aus heidnisch-etruskischer Warte schon in etwa der Zeit befand, in der Rom untergehen musste.
 
Aber natürlich argumentiert Augustinus nicht heidnisch. Er stand aber vor diesem Hintergrund und kannte sicherlich das dazu bisher Geäußerte in irgendeiner Form. Es trifft ja das Thema genau. Aber ein christlicher Bischof wies ganz bestimmt nicht darauf hin, dass man sich aus heidnisch-etruskischer Warte schon in etwa der Zeit befand, in der Rom untergehen musste.
Es gibt ja auch einen biblischen Anknüpfungspunkt, Nebukadnezars Traum und Daniels Deutung davon, die Lehre von den vier Weltreichen, dessen letztes geteilt würde - die römische Reichsteilung war für Augustinus Zeitgeschichte.
 
Ja, aber die Diskussion ging historisch eben nicht darauf zurück, sondern erfolgte eben schon bevor das Reich christlich wurde.
 
Auch im dritten Buch von "Vom Gottesstaat" argumentiert Augustinus im wesentlichen folgendermaßen:
1. Die traditionellen Götter des antiken Roms vermitteln keine Moral und keine Sittlichkeit. Sie haben den diesbezüglichen Verfall Roms nicht abgewendet bzw. verhindert.
2. Rom wurde schon vor der Geburt Christi von schweren Krisen heimgesucht, in besonders schlimmer Weise seit der endgültigen Zerstörung Karthagos nach dem dritten Punischen Krieg. Da das Christentum für diese Krisen, die Augustinus als mindestens so schlimm ansieht wie den Verfall Roms zu seinen eigenen Zeiten, nicht verantwortlich sein kann, ist das Christentum auch für die Situation am Anfang des 5. Jahrhunderts nicht verantwortlich.
 
Im vierten Buch bekräftigt Augustinus erneut die Wirkungslosigkeit der traditionellen römischen Götter und setzt sich auch kritisch mit dem Polytheismus allgemein auseinander. Zu Anfang des fünften Buches macht er seine Ablehnung der Astrologie deutlich und kommt dann auf das Thema der Willensfreiheit zu sprechen.
Augustinus hält einerseits den christlichen Gott für allmächtig und allwissend, den menschlichen Willen jedoch für frei. Das hier ein Widerspruch liegen könnte, sieht Augustinus zwar, jedoch löst er den Widerspruch in einer mich nicht überzeugenden Weise auf. Ob der Widerspruch aufgelöst werden kann, hängt m. E. sehr von der Definition des Willens ab, die Augustinus aber bisher nicht liefert.
 
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