Grundgesetz, EZB und Bundesbank

thanepower

Aktives Mitglied
@ Silesia: Könntest Du kurz eine Info geben, wie der Konflikt zwischen BVG und EuGH juristisch beigelegt werden kann. Da der EuGH betroffen ist, wäre er m.E. "befangen" und könnte nicht in eigener Sache entscheiden.

Passt nicht ganz in den Thread, aber ich wollte keinen neuen aufmachen. Vielen Dank im Voraus für eine Beantwortung.
 
Da bin ich völlig ratlos, weil das eine Durchmischung von juristischen und politischen Fragestellungen ist.

Blieben alle in Rahmen ihrer Zuständigkeiten, gibt es eine glasklare Kompetenzverteilung. In EU-Fragen und politisch durch die Verträge überstellten Kompentenzen ist der EuGH allein zuständig.

Zwei Fragen schließen sich da an:

Ist die EZB-Politik allein eine EU-Frage, wenn die Folgen (geld)politischer Entscheidungen national zu tragen sind, dies aber national nicht konstitutiv abgesegnet worden ist? Wären sie zwingend zu befolgen, wenn dies Grundgesetz-Durchbrechungen etwa in Verschuldungsgrenzen nach sich zieht? Während Rettungsschirme durch die Parlamente gegangen sind, ist das mit einer whatever-it-takes-Version nicht der Fall.

Wenn die EZB (doch) ausreichend vertraglich durch die Währungsunion zum Handeln abstrakt mandatiert war: Ist das konkrete EZB-Handeln durch diese Vereinbarungen gedeckt, oder liegen Überschreitungen ihres Mandats vor? In diese Richtung geht die Feststellung des BVerfG, dass nämlich die Angemessenheit des Handelns nicht ausreichend worden ist.

Das ganze spiegelt eine Sollbruchstelle, die politisch nicht entschieden worden ist: Die Euronationen haben ihre fiskalische Souveränität nie/nicht abgegeben, diese wird aber durch die EZB-Politik (in den Folgen) direkt berührt:
nämlich erweitert (durch zugeschossene Liquidität), oder eingeschränkt (durch Staatliche Deckungen = Haftung der Staaten direkt und kndirekt via Notenbanksystem für die EZB-Bilanz).

Das ist vertraglich/politisch nie gelöst worden.

Eindeutig sieht das der globale Kapitalmarkt: wenn bestimmte Staatsanleihen bestimmter Länder die gleichen/ähnlichen Risikoprämien wie Deutschland ausweisen (der spread nur noch minimal ist, bei gigantischen Restlaufzeiten), dann wird "vom Markt" definitiv von einer "Haftungsunion" ausgegangen. Mindestens faktisch.

Das BVerfG mahnt nun wenigstens "ordentliche" Begründungen an, wenn solche Kompetenzen ausgelagert sind.

Spannend wird es, sollte bei einem Versagen der EZB-Begründungen der EZB eine bundesdeutsche Regierung verbindliche Ansagen vom BVerfG bekommen, was die Wahrung nationaler Souveränität anbelangt.

Dann kracht es. Wie Schäuble heute anmerkte: es werden sich auch andere Staaten mit Renitenz ggü Brüssel an diese Entscheidungen anhängen. Auffallend ruhig bleibt es bislang bei den übrigen Ländern wie Niederlande etc. mit einer ähnlichen Lage wie Deutschland.

So kann es nicht bleiben. Entweder folgt ein weiterer Schritt vor oder einer zurück.
 
Ich kann's mir nicht verkneifen:

Solange das BVG den Anspruch bewahrt, letzte Instanz hinsichtlich des Grundgesetzes zu sein und der EuGH, letzte Instanz hinsichtlich aller Aspekte des Europäischen Rechts zu sein, bleiben bei Konflikten nolens volens nur Kompromisse im Einzelnen, die dann unvorhergesehene Folgen zeitigen können.

Aber das BVG hat sich ja politisch gesehen noch ganz chic aus der Zwickmühle befreit: Keine eindeutige Kompetenzübertragung. Jetzt haben die Bundesregierung und die EZB den Schwarzen Peter es zu heilen. Juristisch mögen es andere beurteilen.

Aber es wird auch ein Schuss vor den Bug sein, denn ganz offensichtlich kann da nicht mehr "solange" gesagt werden, ohne die Verfassung massiv zu ändern. Und das wird sich noch als die eigentliche Herausforderung erweisen, wie ja auch Sepiola sagt.

Aber: Das in Notzeiten mehr möglich sein kann, sagt ja auch das BVG, so dass fraglich ist, ob der Bezug zur Pandemie 1:1 zu übernehmen ist.
 
Dann habe ich dich wohl fehlinterpretiert. Du schriebst ja von der Übertragung an Souveränität. Und wegen der Budgethoheit des Bundestags sind wir da ja recht nahe an oder schon bei an weitgehenden Änderungen.

EDIT: Ich sehe gerade, ich habe dich und Silesia verwechselt. Das kommt davon, wenn man zwischen Foren springt und schnell was schreiben will. Tut mir leid.
 
Hier ein sehr guter, Beitrag von Maduro, Juraprof. EHI in Florenz, vorher Berater portugiesische Regierung, davor Generalstaatsanwalt beim EuGH.

Some Preliminary Remarks on the PSPP Decision of the German Constitutional Court .

Übrigens geben sich die beiden im Urteil angesprochenen Institutionen sehr zurückhaltend. Insbesondere der letzte Satz beim EuGH sollte nicht als hochnäsig verstanden werden, sondern man ist sich Gefahr weiterer politischer Eskalation wohl sehr bewusst.

EuGH:
Pressemitteilung im Nachgang zum Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020
EZB:
ECB takes note of German Federal Constitutional Court ruling and remains fully committed to its mandate

Adressat iSv Verpflichteter des BVerfG-Urteils sind auch die deutschen politischen Institutionen, die Leitplanken zu beachten haben: Bundesbank und Bundesregierung. Wenn auch das Urteil eine massive Klatsche und Gerichtsschelte für den EuGH enthält. Das ist allerdings idS nichts Ungewöhnliches, auch untergeordnete deutsche Gerichte enthalten schon mal massive Kritik an Entscheidungen höchster Instanzen und widersprechen ihnen.

Auf dem Level so ein Streit/mit Instanzenkritik ist aber noch nicht da gewesen.
 
Sehr empfehlenswert zum Nachdenken dieses Working Paper:

https://www.econstor.eu/bitstream/10419/173268/1/1011578123.pdf

Man muss es nicht komplett lesen, die letzten beiden Abschnitte orakeln bereits 2017, und sind jetzt brandaktuell.

Hinweis auch auf Artikel 88 GG: Die Bruchstelle ist die Bundesbank, einerseits als konstitutiver "Baustein" der BRD, deren Funktionen ausgelagert wurden (GG-gedeckt!), die andererseits damit "Teil" der EZB geworden ist, und schlussendlich unstrittig der deutschen Judikative entzogen.

Haftung und Kontrolle divergieren damit, weil die (fortbestehende) uneingeschränkte Anstaltslast der Bundesrepublik für die Bundesbank (Garantie/Haftung) als Teil der EZB fortbesteht.
Das ist Ergebnis der Hoheitsrechteverlagerung, die parlamentarisch legitimiert war und die das BverfG ausdrücklich abgesegnet hat.

Es geht also hier nicht um fundamentale Fragen - die sind entschieden und könnten nur durch politische Prozesse verändert werden -, sondern um die Frage, ob die EZB "ordnungsgemäß" gehandelt hat. Das bietet aber Sprengkraft genug: Offen bleibt, was das BVerfG dem Bund auferlegen würde, wenn es den Eindruck gewinnen würde, die Handlungsweise sei nicht ordnungsgemäß.

Von daher geht die juristische Bemerkung des EuGH, man sei allein zuständig, am eigentlichen Kern der Eskalation völlig vorbei. Die Antwort ist (juristisch) richtig, aber (politisch) unbrauchbar. Immerhin macht die knappe Bemerkung noch nichts kaputt, irgendwie musste man ja überrascht reagieren.

Sie blendet aus, dass das BVerfG politisches/gesetzgeberisches Handeln in Deutschland kontrolliert und zu binden/erzwingen vermag. Sie übersieht also die politische Basis der rechtsstaatlichen Mechanik.

Das ist gefährlich, wenn man das explosive Problem auf diese Weise durch Einschmelzen auf formal-juristische Fragen der Kompetenzverteilungen verniedlicht. Und den nun gestellten Anforderungen nicht nachkommen würde.

Und das wird in anderen Ländern ebenfalls sicher gespannt beobachtet: in den Niederlanden zum Beispiel. Wenig hilfreich wäre, wenn jetzt aus dem Süden viel Radau käme, der auf das BVerfG nur einprügelt, während es hierzulange in Dekaden als Bollwerk der Rechtstaatlichkeit und höchsten Respektierlichkeit angesehen wird. Aus Karlsruhe kam nie Unbedachtes, und viel Richtungsweisendes, stets Ethik/Politik/Mittel und Zwecke verantwortlich abwägend.

Diese Institution jetzt als Laberbude, EU-feindlich oder inkompetent abzukanzeln, würde verheerenden politischen Schaden in Deutschland anrichten und allen Beteiligten die angemessenen Reaktion auf dieses Urteil nur erschweren.
 
Überflüssige Eskalation

„ Das Urteil des Verfassungsgerichts werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten, hieß es in dem Schreiben. Die Währungspolitik der Union sei eine ausschließliche Zuständigkeit. EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht, und Urteile des EuGH seien für alle nationalen Gerichte bindend.

"Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg", schrieb von der Leyen. Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft, die die EU-Kommission jederzeit wahren und verteidigen werde. Nach EU-Recht ist das die Zuständigkeit der Brüsseler Behörde: Sie ist die "Hüterin" der EU-Verträge und muss Verstöße ahnden. Leitet sie ein Verfahren wegen Verletzung der Verträge ein, kann dies wiederum vor dem EuGH landen.“

Nach EZB-Urteil: Von der Leyen erwägt Verfahren gegen Deutschland - DER SPIEGEL - Wirtschaft

„Europäische Souveränität...„

Da muss man mal sorgfältig drüber nachdenken, was sie bzw die Brüsseler Exekutive und Legislative damit meint, oder wohin sie damit möchten. Was ist hier Souveränität abseits souveräner Staaten? Sieht man sich bereits als USE?

Hoffentlich wird nun nicht der nationale goodwill durch solche Diskussionen abgeschliffen. Zumal gerade die letzten Krisen gezeigt haben, wo der Hammer hängt.
 
Sie blendet aus, dass das BVerfG politisches/gesetzgeberisches Handeln in Deutschland kontrolliert und zu binden/erzwingen vermag. Sie übersieht also die politische Basis der rechtsstaatlichen Mechanik.

Was ist hier Souveränität abseits souveräner Staaten? Sieht man sich bereits als USE?

Hoffentlich wird nun nicht der nationale goodwill durch solche Diskussionen abgeschliffen. Zumal gerade die letzten Krisen gezeigt haben, wo der Hammer hängt.

Vielen Dank für das präzise Benennen der Probleme. Ähnliches ging mir auch durch den Kopf. Die einzige halbwegs rationale Erklärung läuft m.E. darauf hinaus, dass man an diesem Beispiel exemplarisch etwas durchspielen möchte, von dem man glaubt, dass es ohnehin kommen würde.

Und man spielt es zwischen der EU und Deutschland durch, weil man den Konflikt daran verdeutlichen kann und gleichzeitig kann man den vorhandenen politischen und juristischen Konflikt in seiner Sprengkraft kontrolliert "abbrennen", da beide Seiten die Möglichkeit der Deeskalation hätten.

Die Nähe von Merkel und von von der Leyen legt eine derartige Interpretation nahe. Alternative Erklärungen, die mir dazu einfallen würden, wären weniger rational.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die einzige halbwegs rationale Erklärung läuft m.E. darauf hinaus, dass man an diesem Beispiel exemplarisch etwas durchspielen möchte, von dem man glaubt, dass es ohnehin kommen würde.

Vorab: ich bin davon überzeugt, dass die Europäer nur in einem Staatenbund EU ihre freiheitlichen Grundordnungen, ihre gesellschaftlichen Errungenschaften, ihre ökonomischen Grundlagen vor dem Hintergrund großer Herausforderungen auf allen diesen drei Spielfeldern bewahren können.
Die Fragen richten sich auf Weg und Ziel der Union. Darum wird politisch gerungen. Partikularinteressen werden in diesen 21. Jahrhundert mglw. zeitweise von Vorteil sein, letztlich aber scheitern. Das gilt jedenfalls mE für die europäischen Flächenstaaten. Das wäre die fundamentale Sicht der Lage.

Ich würde einleitend zuspitzen: jede Explosion der EU ist gegen deutsche nationale Interessen. Natürlich kann das Ganze in den öffentlichen Meinungsvolatilitäten völlig konträr laufen: Stimmungen können sich auch gegen diese Projekte richten, Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Populisten können herumtrollen, und nationale deutsche Interessen dadurch mittelfristig schädigen, indem sie die Axt an die Gemeinschaft legen.

An der ökonomisch-politischen Achse schwelt aber - was die deutsche Seite angeht - ein 20 Jahre langer Konflikt. Tatsächlich ist die EU als Fiskalunion unvollständig. Das wollte bislang zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit, dies war offensichtlich bislang nicht vermittelbar.

Krisenzeitpunkte sind nun wegen der zugespitzten Interessenlagen (der eine braucht Hilfe, der andere hat Ressourcen) ein denkbar ungeeigneter Zeitpunkt für Öffentlichkeiten, solche großen Würfe zu wagen. Das ist auch ohne Prinzipien der Spieltheorie evident.

Die auf ökonomischen Gebiet juristisch unvollendete Union, mit einem Geflecht von Rückbürgschaften und Haftungsvermengungen hat aber dafür gesorgt, dass die Kapitalmärkte dieses Gebilde - bis zu glasklaren anderslautenden politischen oder juristischen Aussagen - als EINHEIT sehen. Praktisch hat das die Konsequenz, dass Risikoprämien für Ausfallrisiken und Kapitalaufbringungsfähigkeiten sich nur hauchdünn im Euroland unterscheiden, konträr zu deutlichen nationalen ökonomischen Unterschieden. In einer Haftungsunion ist das aber rational:

Die Ökonomie bewertet eine Föderation, die juristisch durch Zusagen und Verträge konzipiert ist, die aber politisch so nicht besteht, und gesellschaftlich so bislang nicht vermittelt ist.

Nun Vera Jourova, Vizepräsidentin der EU-Kommission und gelernte Kulturanthropologin (und nebenberuflich-studierte Juristin somit bestens für die Bewertung hochkomplexer juristischer und ökonomischer Fragen gerüstet), heute in der FAZ:

"Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Das letzte Wort zu europäischem Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst. Wir haben dieses Urteil eines nationalen Gerichts diese Woche im Kommissars-Kollegium diskutiert. Natürlich schauen es sich auch unsere Juristen derzeit sehr genau an, bevor wir über mögliche Schritte entscheiden. Aber es sollte allen klar sein: Es besteht rechtlich in unserer Union das Primat des EU-Rechts. Urteile des EuGH sind für alle nationalen Gerichte bindend. Mir wurde diese Woche aus Polen vorgeworfen, ich würde das immer nur auf Polen bezogen sagen. Nun, wie Sie sehen, sage ich es in diesem Zusammenhang genauso klar. Das Prinzip gilt für alle Mitgliedstaaten."

Das erste Missverständnis steht schon im ersten Satz und vor dem ersten Punkt. Mal sehen, was "unsere Juristen" dazu sagen. Außerdem sind offenbar "unsere Ökonomen" für die Fragen nicht erforderlich.

Zur Beurteilung: Die Amtsträgerin hat das Urteil des BVerfG nicht verstanden, vermutlich nicht einmal gelesen, geschweige denn die vorherigen Urteile beider Einrichtungen. Das - was sie sagt - steht da nämlich nicht drin.

Danach folgen in dieser Absolutheit schlichte Falschaussagen. Hinter jeden dieser Sätze hätte der maximale Vorbehalt der zugewiesenen Zuständigkeiten gehört. Um diese Abgrenzungen geht es. Und das sind nicht etwa Kommissionsvorgaben über das Aussehen von Tomaten, oder umsatzsteuerlichen Konsequenzen des Kauf eines in China montierten iphones für Deutschland.

Hier geht es via EZB um die Frage, wieweit Haushaltskompetenzen und die fundamentale Basis nationaler Verschuldungen den nationalen Parlamenten entzogen worden sind. Und wenn das partiell - IM KONSENS - durch Rechtsübertragung erfolgt ist:

welche Begründungen die EZB dann zu liefern hat, wenn sie eine Bilanzsumme von 4000 Milliarden Euro aufbaut, davon 3/4 Staatsanleihen, für deren Deckung auf der Passivseite via Nationale Zentralbanken die Staaten mit ihren Haushalten geradestehen. Das kann ja gewollt sein, aber dann - nach BVerfG - in einem geordneten Verfahren mit parlamentarischen Zustimmungen von denen, die dafür haften. Und mit ordentlichen Begründungen der EZB, warum dieses Vorgehen whateverittakes alternativlos ist, und wie sie sich den späteren Rückzug davon eigentlich so vorstellt.

Nichts anderes hat das BVerfG gerügt, als dass ... ZUGESPITZT:

... ein EuGH-Urteil mglw unter Bruch von EU-Recht und massiven Folgen für die Budgethoheit hier nun der EZB einen Blankoscheck ausgestellt hat, nach der das banale Vorlesen einer Gesetzespassage ("... für die Geldwertstabilität und Inflation ...) für das Abzeichnen auch von sechs, acht oder 15 Billionen ausreicht, für deren "Kreditwürdigkeit" am Markt bei Laufzeiten von 30-100 Jahren nur wenige Länder geradestehen.

So - wie die Vera Jourava das hier darstellt - geht das nicht.

Und diese Frage hat wegen der real existierenden Budget- und Politikhoheiten der einzelnen Mitgliedsstaaten nichts mit der Frage zu tun, ob sich das BVerfG hier gegen EU- und EuGH-Zuständigkeiten stellt.
 
Zur Konsequenz:

Wenn man etwas durchspielen möchte, wäre logisch, ein Feld geringes Risiko zu suchen, um den Verlust zu begrenzen.

Hier wird gerade das Feld des höchsten Einsatzes betreten.
 
Zur Beurteilung: Die Amtsträgerin hat das Urteil des BVerfG nicht verstanden, vermutlich nicht einmal gelesen, geschweige denn die vorherigen Urteile beider Einrichtungen. Das - was sie sagt - steht da nämlich nicht drin.

Ja, das BVerfG-Urteil vom 5. Mai im - online gestellten - Wortlaut weicht erkennbar von der Kritik einiger Kritiker ab..;)...wenn dann Kritiker selbst auf der Website jenes Hamburger Wochenmagazins offenbar jenen Satz in der Einleitung des BVerfG übersehen...:

[...] Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung.[...]

Das Urteil ist lesenswert, @silesia ,danke für die ausgezeichnete & verständliche Aufbereitung hier .
 
Von heute:
Folge des EZB-Urteils: Die Bundesbank steckt in einer Zwickmühle

Das ist die oben beschriebene Sollbruchstelle.

Die Idee war, die nationalen Zentralbanken zu Komponenten der EZB zu machen. Gleichzeitig bleiben sie - überall im Euroraum - nationalen Verfassungen verpflichtet und unterliegen nationaler Rechtsprechung. Das bleiben sie im Verein mit nationalen Regierungen, die letztlich Garantie und Haftung für die Euro-Geldpolitik übernehmen.

Seine Budgetkompetenz hat kein einziges Land auf EU-Kommission oder EZB übertragen. Und da setzt das BVerfG an: die EZB ist zwar unabhängig, aber wenn sie denn Bürgschaften der Länder benötigt, muss sie sich dafür ihr Mandat holen. Sie muss sorgfältig "begründen".

Das war im Stützungsfall für andere Länder noch selbstverständlich: Parlamentsvorbehalte. Die Legislative entscheidet.
Für whateverittakes nicht mehr.

Und das hat nichts mit der festgeschriebenen Unabhängigkeit der Zentralbank zu tun: die fokussiert auf "unabhängig von der Regierung."

Und das bedeutet nicht: den Parlamentsvorhalten und den Budgethoheiten quasi entrückt.

Die "neue Geschäftsgrundlage" für die EZB bringt nun Lagarde recht direkt aufs Podium:
Die Währungsunion sei wegen ihrer Krisenanfälligkeit mit den Kaufprogrammen "weiterentwickelt" worden.

Von wem weiterentwickelt? Von den Staaten wohl nicht.
Und von wem sanktioniert?

All das ist zu nun zu klären. Unabhängig davon können die Kaufprogramme natürlich tatsächlich völlig berechtigt gewesen sein. Das aber ist zu begründen, siehe oben.
 
Sag ich doch. Eine noch recht milde Warnung also, die Verfassungen nicht außer acht zu lassen. Jedenfalls, wenn das Gericht davon ausgeht, dass es eine ziehende Begründung gibt.
 
Ein Blick von Verfassungsrichter Huber über den Tellerrand, Huber war im Fall der Berichterstatter

FAZ von heute
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Wie das Vertragsverletzungsverfahren aussehen könnte, konkretisiert sich:

FAZ von heute:

Das Problem entstand dann, als die Karlsruher Richter die Entscheidung der Luxemburger, Kollegen am 5. Mai für „objektiv willkürlich“ erklärten. Von der Leyens Juristen meinen: Das durfte nicht sein. „Wenn ein höchstes nationales Gericht weitere Fragen zu einer Rechtssache hat, muss es sich abermals an den EuGH wenden“, erläutert ein EU-Beamter. Mit seiner eigenmächtigen Entscheidung aber habe Karlsruhe den Dialog abgebrochen. Deshalb stehe nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland im Raum.

Keine Ahnung, was das für ein Beamter sein soll.

Wie Verfassungsrichter Huber (s.o.) ausgeführt hat, gibt es keinen Raum für Dialog über Durchbrechungen des Grundgesetzes, auch nicht, wenn EU-Juristen hierüber Dialoge führen möchten.

In Brüssel kreiselt offenbar ein gefährlicher Irrtum über Rote Linien, die sich auch durch Regierungshandeln ohne förmliche GG-Änderungen nicht verschieben können und die sich nie verschoben haben.
Diese Blase ist explosiver als alles, was bislang an Einzelentscheidungen strittig, aber letztlich konsensual gelaufen ist. Hier geht es um zuvor nicht angetastete Souveränitätsfragen in der Budgethoheit, nicht nur um ein paar Hundert Milliarden für Solidarität in Europa.
 
Sehr bedauerlich bis riskant, wie 'Brüssel' reagiert, agiert. Das BVerfG-Urteil ist schon im Voraus hinreichend differenziert auf gewisse Eventualitäten, Unterstellungen und Missverständnisse formuliert worden.

OT (und löschbar, falls zu sehr aktuelle Politik): Vielleicht spielt dabei eine Rolle, dass gewisse, deutlich national fixierte Regierungen, derzeit vor allem im östlicheren Europa, das BVerfG-Urteil vom 5. Mai vernehmlich begrüsst haben, die selbst nicht die EU grundsätzlich in Frage stellen, doch seit Jahren gegen, mal vorsichtig formuliert, einige liberal-demokratisch verankerte und etablierte Rechte/Regeln verstoßen.
 
Ist die ausführliche Urteilsbegründung eigentlich schon veröffentlicht?

Dass Brüssel bis dahin etwas im Dunkeln tappt, ist natürlich den Institutionen nicht anzukreiden, sondern liegt in der Natur der Sache einer geregelten Rechtsprechung und der menschlichen Ungeduld.
 
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