Beispiele für die Ochlokratie

TarquiniusPriscus

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Hallo allerseits,
Der Begriff der Ochlokratie ist in der Allgemeinheit nicht sehr bekannt. Ich habe nicht in Erfahrung bringen können, ob irgendein Staat mit diesem etwas veralteten Ausdruck versehen worden ist. Fallen euch Beispiele ein (egal aus welcher Zeit?)

Kann man Bürgerkriege, gewaltsame Aufstände oder Revolutionen als ochlokratisch bezeichnen? Denn ein wichtiges Erkennungsmerkmal der Ochlokratie ist ja, dass das Volk seinen Willen mit Gewalt durchsetzt.

Ist z.B. die Verhinderung des Frauenwahlrechts in der Schweiz (auf kantonaler Ebene bis 1990) durch Abstimmung als ochlokratisch zu werten? Denn diese Entscheidung ist sehr egoistisch und damit auch passend für den Begriff der "Pöbelherrschaft".

In den meisten Ländern gibt es keine starken Instrumente der direkten Demokratie, ich vermute aus Furcht vor eben jener Ochlokratie. Was meint ihr, ist diese Furcht berechtigt?
 
Ochlokratie ist die Herrschaft des Pöbels. Es ist ein Ausdruck, den Aristoteles (ich meine er war's) für die attische Demokratie verwendete, um sie zu diskreditieren.
 
Ich dachte es war Polybios, der sich den Begriff als schlechte Version der Demokratie ausgedacht hat.
Laut Wikipedia hast du Recht:

Schon Herodot unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Form der Herrschaft aller Bürger. Auch Platon (427–347 v. Chr.) unterschied eine gelungene von einer misslungenen Demokratie, führte aber hier noch keine eigene Terminologie ein.[4] Aristoteles (384–322 v. Chr.) beschrieb später die Politie (gr. πολιτεία politeia, deutsch ‚Verfassung‘) als die „gute“ und die Demokratie (gr. δῆμος dēmos, deutsch ‚Volk‘) als die „schlechte“ Ausprägung einer Staatsform, in der das Volk herrscht.[5] Polybios schließlich differenzierte terminologisch und bezeichnet mit Ochlokratie die negative Variante der Volksherrschaft, während der Begriff „Demokratie“ bei ihm positiv besetzt ist.[6]
Dennosch war Aristoteles kein Freund der Demokratie.
 
Der Begriff kommt wohl wirklich von Polybios, Aristoteles hat noch Politeia (gut) und Demokratie (schlecht) gegenübergestellt.

Der größte Kritikpunkt, der an der Verfassung Athens immer wieder geübt wurde, war die Wankelmütigkeit der Volksversammlung, und ihre Beeinflussbarkeit durch Demagogen. (Übrigens ein Wort, dass seine negativen Konnotation auch erst im Laufe der Zeit erhielt.)

Heutzutage werden ähnliche Versuche, mit einfachen rhetorischen Parolen Anhänger zu gewinnen, als Populismus bezeichnet. Geht mE in eine ähnliche Richtung, wie immer man es auch bewertet, bleibt aber ein inhärenter Teil der Demokratie.
 
1. Der Begriff/Konstrukt spielt in der Theorie der Herrschaft keine Rolle mehr.

2. Die Benutzung des Begriffs "Pöbelherrschaft" ist ein Kampfbegriff, der auf die Diskreditierung der Demokratie abzielt. Benutzt wird er im wesentlichen von "Eliten-Theoretikern".

3. Es ist jedoch ein objektives Spannungsverhältnis zwischen Formen direkter Demokratie und dem Handeln einer "Regierung" vorhanden. Die Balance zu finden besteht darin, das Handeln der Regierung durch den mehrheitlichen Wunsch des Volkes zu legitimieren.

4. In der Regel wird dieses Problem zum einen durch die Organisation der politischen Öffentlichkeit, die umfassend, konträr und faktenreich informieren sollte, um die Meinungsbildung zu unterstützen (vgl. zur Entwicklung der "bürgerlichen Öffentlichkeit" bei Habermas). Zum anderen ist es die Frage der Funktionsfähigkeit der Gewaltenteilung, die das Verhältnis von "Checks and Balances" bestimmt (vgl. z.B. Darstellung bei Dahl auf lokaler Ebene)

5. Das bekannteste Beispiel in seit der Neuzeit ist die Ausarbeitung der Federalist-Artikel im Rahmen der US-Verfassung. In den einzelnen Artikeln wird deutlich, dass zum einen die Herrschaft des Volkes angestrebt wird, andererseits wollte man die unkontrollierte Einflussnahme - vor dem Beispiel der Französischen Revolution - auf die Regierung begrenzen. Nicht zuletzt, da die Regierung für das Überleben und die Prosperität der USA verantwortlich war.

6. Im zwanzigsten Jahrhundert hat diese Frage eine neue Bedeutung erhalten, indem die "korrigierende" Rolle von sozialen Bewegungen (Civil Rights Movement, Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung etc.) auf das staatliche Handeln betroffen ist (vgl. z.B. Alexander, S. 147 ff). In diesem Fall versuchen Teile der Gesellschaft, aus unterschiedlichen Gründen, einen Einfluss auf die Meinungsbildung und nachfolgend auch auf die Politik zu gewinnen.

7. In diesem Sinne wird als Idealbild einer Zivilgesellschaft eine Demokratie thematisiert, die die informierten Bürger aktiv, partizipierend, an den politischen Prozessen beteiligt. Also eine Mischung aus direkter, repräsentativer, gewaltenteilung-orientierter, demokratisch legitimierter und legalisierter Herrschaft. Die auf einer relativen Chancengleichheit seiner Bürger beruht.


Alexander, Jeffrey (2011): Performance and Power. Cambridge, Malden: Polity Press.
Dahl, Robert A. (1961): Who governs? Democracy and power in an American city. New Haven: Yale University Press
Habermas, Jürgen (2018): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1990. Frankfurt am Main : Suhrkamp
Hamilton, Alexander; Madison, James; Jay, John (1994): Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Mit dem englischen und deutschen Text der Verfassung der USA. Hrsg., übers., eingeleitet und kommentiert von Angela Adams und Willi Paul Adams. Hg. v. Angela Adams und Willi Paul Adams. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh (UTB, 1788).
 
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Ausgehend von der hübschen kleinen Tabelle bei Wikipedia, sehe ich da auch ein Definitionsproblem, wenn Demokratie die auf das Gemeinwohl ausgerichtete Volksherrschaft ist und Ochlokratie die auf Eigennutz gerichtete Volksherrschaft.

Denn dann wäre ja die Ochlokratie eine auf den Eigennutz des Volkes ausgerichtete Herrschaft. Der Eigennutz des Volkes ist aber doch das Gemeinwohl?

@thanepower hat da wohl recht, es handelt sich um einen reinen Kampfbegriff.
 
Ausgehend von der hübschen kleinen Tabelle bei Wikipedia, sehe ich da auch ein Definitionsproblem, wenn Demokratie die auf das Gemeinwohl ausgerichtete Volksherrschaft ist und Ochlokratie die auf Eigennutz gerichtete Volksherrschaft.

Denn dann wäre ja die Ochlokratie eine auf den Eigennutz des Volkes ausgerichtete Herrschaft. Der Eigennutz des Volkes ist aber doch das Gemeinwohl?

@thanepower hat da wohl recht, es handelt sich um einen reinen Kampfbegriff.

Laut der ursprünglichen Definition legen neu in einer Demokratie aufwachsende Generationen, die keine Erfahrung mit früheren Gewaltherrschern haben, keinen Wert auf Freiheit und Gleichheit und einige versuchen sich über die Menge zu erheben. Sie setzen ihr Vermögen ein, um die Menge zu verführen (Populismus?). Außerdem hast du die gewalttätige Komponente der Ochlokratie übersehen, in der das Faustrecht gilt und in der mit Mord und Verbannung Politik betrieben wird. Auf Wikipedia fehlen diese ganzen Details.
 
Soweit ich das überblicke, wurde der Begriff "Ochlokratie" in der antiken Literatur anscheinend nur von Polybios verwendet (mehrmals in seinem 6. Buch). Die von Dir genannten Details finden sich bei ihm auch nicht alle so explizit.

Auf die athenische Demokratie hat er den Begriff auch nicht ausdrücklich bezogen, was mich nicht wundert. Immerhin lebte er in einer Zeit, als die Demokratie noch in vielen griechischen Staaten bestand (im Achaischen Bund wurde viel Wert auf demokratische Verfassungen gelegt), und er war kein Athener. Er hatte somit auch keinen Grund, bei der antiken griechischen Demokratie nur an die in Athen zu denken, wie das heutzutage gerne gemacht wird.
 
Ja, das habe ich leider tatsächlich übersehen. Ich hatte mich zu eng auf das nähere Umfeld der drei Nennungen des Wortes Ochlokratie (in 6,4 und 6,57) konzentriert.
Danke für den Hinweis.
 
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