Als erstes stelle ich mal die Frage, inwieweit Sprüche von Philosophen überhaupt im "Volk" Anklang finden. Wer vom "Volk" hätte jemals irgendeinen Spruch von Kant, mithin der bedeutendste deutsche Philosoph, auf den Lippen gehabt: etwa den "kategorischen Imperativ"? Das waren Sätze für Akademiker. Zumindest Hegel ging in den deutschen Sprachgebrauch mit seinem "an und für sich" ein, oder Friedrich Vischer mit der "Tücke des Objekts", aber im Allgemeinen stammen die populären Sprüche nicht von Philosophen, sondern von Dichtern. Goethe und Schiller sind hier die Hauptproduzenten im Deutschen.
So war's auch in der Antike. Homer, Hesiod, vielleicht Euripides: deren Sprüche fanden auch beim "Volk" Anklang, und ganz gewiss die Mythen der Götterwelt.
Was nun den Sokrates betrifft: nun, der war ja selbst ein "einfacher Mensch aus dem Volk", ein Steinmetz, die Mutter Hebamme, selbst ziemlich abgebrannt, der lief auf dem Marktplatz herum und redete mit jedem. War in Athen stadtbekannt wie in Köln der Tünnes und Schäl oder in Mannheim der Blumenpeter und damit auch, wie Ravenik schrieb, ideales Anwärter für eine Komödie. Allerdings waren seine Schüler meistens aus der Oberschicht: Platon selbst adliger Herkunft, Alkibiades natürlich, Aristipp, Nikias, Kriton, Simmias und wie sie alle heißen. In der "Apologie" spricht Sokrates aber auch von den Handwerkern, mit denen er sich über ihr Wissen unterhalten habe, und den Dichtern. Also hatte er mit ziemlich vielen Leuten Kontakt, nicht nur mit den hellasweit bekannten Sophisten wie Gorgias, Protagoras, Kritias etc. Auch mit einer stadtbekannten Prostitutierten, pardon: Hetäre, übrigens.
Wenn man nun die Platonische Akademie, also die Nachfolger Platons, anschaut: das waren allesamt Leute aus der Oberschicht, nur diese hatten das nötige Kleingeld übrig, um sich einen Hauslehrer oder überhaupt eine (private) schulische Ausbildung leisten zu können und dann ihr Leben der Philosophie zu widmen (obwohl ich glaube, dass die Akademie ein Stiftungskapital hatte und damit auch die Mitglieder unterstützte). Aber von Plotin, viel später, ist immerhin bekannt, dass er sich um Waisenkinder gekümmert hat, insofern war der Kontakt zum "Volk" nicht immer abgerissen, auch wenn er eher in den höheren Kreisen von Rom verkehrte, einige Senatoren gehörten zu seinen Schülern.
Das Unter-sich-Bleiben gilt wohl für alle Philosophenschulen, seien es die Aristippschen Hedonisten, die Epikuräer (eher eine Art Sekte à la Bhagwan), die Stoa oder der Peripatos, letzterer ganz eindeutig rein wissenschaftlich orientiert. Ich bin ziemlich sicher, dass von Aristoteles kein einziger Spruch im "Volk" herumgegangen ist. Welcher sollte es auch sein? Dass "der Mensch von einem Menschen gezeugt wird", wusste man auch ohne ihn.
Am ehesten volksnah waren wohl die Kyniker, Leute wie der berühmte Diogenes im Fass (wahrscheinlich eher eine kleine Hütte), der mit einer Laterne über den Marktplatz lief, er selbst Sohn eines Münzwechslers und damit kein Oberschichtangehöriger (zumal der Vater offenbar kriminell war). Er kam in ganz Griechenland herum: da bin ich sicher, dass man ihn sehr gut kannte und sich viele Geschichten über ihn erzählte. Auch Krates, der Kyniker, war bekannt. Er lief durch die Städte und klopfte an Türen, um die "Wahrheit" kundzutun, wie ein Hausierer der Philosophie. Mit seiner Freundin Hypparchia lief er wie ein Vagabund durch die Gegend, allerdings war diese aus reichem Elternhaus, wurde mit Krates dagegen völlig mittellos.
Völlig dem "Volk" entfremdet war der Neuplatonismus und die alexandrinischen Schulen ganz am Schluss der Antike, auch wenn es mitunter richtige Straßenkämpfe mit dem christlichen Mob (den sogenannten Parabolani) gab wie im Fall der Hypatia, die sehr wohl - als Heidin - einen gewissen Ruf im "Volk" von Alexandrien genossen hat. Doch dies ist eine Ausnahme.