Ein weiterer Aspekt ist, dass die Mitbestimmung der Untertanen gegenüber dem Landesherrn, so es sie gab, nicht über allgemein gewählte Volksvertretungen lief, sondern über Vertretungen der Stände bzw. allenfalls ständisch gegliederte Vertretungskörper.
Mir scheint, der "Gesellschaftsvertrag" der ständischen Gesellschaft ist ihr wichtigstes Merkmal, vielleicht sogar ein Alleinstellungsmerkmal. Denn zwar strebten die Stände zu allen Zeiten danach, die Macht der anderen zu brechen (im Falle des Dritten Standes natürlich erst mit dem Aufkommen von Bürger- und Kaufherrentum, dem "Geldadel").
Allein es galt doch als ausgemacht, dass jeder Stand für das Gemeinwesen wichtig war und festgelegte Aufgaben erledigte. Der Klerus sorgte für das Seelenheil, der Adel hatte für Sicherheit und Führung zu sorgen, der Nährstand ernährte die anderen beiden Stände im Gegenzug für Seelsorge und Sicherheit.
Deswegen sind auch gelegentlich zu lesende Vergleiche zwischen der europäischen Ständegesellschaft und dem indischen Kastenwesen in meinen Augen absolut deplatziert. Denn nicht nur bot die ständische Gesellschaft im direkten Vergleich ein höheres Maß an sozialer Mobilität.
Die Zugehörigkeit zum Stand lieferte auch gewisse Partizipationsmöglichkeiten, die dem Individuum verwehrt geblieben wären. Mochte der einzelne Adelige auch weit höher stehen als ein, sagen wir, Schuster, konnte es doch vorkommen, dass derselbe Adelige vor der Schuhmacherzunft als Bittsteller auftrat.
Solche Möglichkeiten hatten die Shudras zur Hochzeit des Kastenwesens nicht.