Das Perfekt mit sein und haben

El Quijote

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Zunächst mal die grammatikalischen Grundlagen, damit allen klar ist, wo wir stehen:
Das Perfekt wird im Deutschen mit den Hilfsverben sein oder haben gebildet sowie dem Partizip II.

ich habe geschlafen - ich bin eingeschlafen

Ich erkläre meinen Schülern immer, dass sie sich merken können, dass die meisten Verben das Perfekt mit dem Hilfsverb haben bilden, wohingegen Verben der Fortbewegung, zu denen sie außer kommen, gehen, rennen, laufen, fliegen, schweben, schwimmen etc. bitte auch sterben, einschlafen und aufwachen (und wieder auferstehen) zählen sollen, mit sein gebildet werden.

Nun hat mich ein arabischer Schüler gefragt - für Araber ist es sowieso schwer nachzuvollziehen, warum die Gegenwartsformen sein und haben mit dem Partizip II eine Vergangenheitsform bilden, ich weise dann immer darauf hin, dass das im Englischen und Französischen (eine dieser beiden Sprachen sprechen die meisten Araber) genauso sei, nur dass hier lediglich to have bzw. avoir, nicht aber to be/être verwendet würden - wieso es denn haben und sein seien.

Hier musste ich leider passen. Ich sagte lediglich, dass das eine sprachliche Entwicklung gewesen sein muss, die vor etwa 1500 bis 1200 Jahren stattgefunden haben wird. Ich habe dann noch wortreich erklärt, dass wir aus dieser Zeit eine sehr schlechte schriftliche Überlieferungslage hätten, aus der es schwierig sei, die damalige Grammatik zu rekonstruieren.

Aber das interessiert mich jetzt selber.

Germanische Sprachen mit sein und haben als Hilfsverben für das Perfekt:
Deutsch
Niederländisch
Friesisch

Germanische Sprachen nur mit haben als Hilfsverb für das Perfekt:
Englisch
Norwegisch
Schwedisch
Dänisch

Germanische Sprachen, die das Perfekt ohne Hilfsverb bilden:
Gotisch

In den romanischen Sprachen gibt es die Derivate von habere als Hilfsverben für das Perfekt (compuesto/composto), nur Portugiesisch hat ter, das aber auch 'haben' bedeutet (vgl. span. tener, 'haben' frz. tener, 'behalten'; intervokalisches -n- fällt im Portugiesischen regelmäßig aus)

Andere Sprachfamilien außer der romanischen und der germanischen kennen die Perfektbildung mit Hilfsverb wohl nicht. (Diese Aussage habe ich nicht überprüft, ich schlussfolgere das lediglich daraus, dass ich das sonst noch nirgends beobachtet habe, was aber angesichts meiner mäßigen Kenntnis weiterer Sprachen und der Fülle der Sprachen die es gibt, selbstverständlich alles andere als eine valide Aussage darstellt).

Ein lateinischer/romanischer Einfluss scheint mir unplausibel, weil der lateinische Einfluss auf die skandinavischen Sprachen marginalst gewesen sein dürfte. Außerdem sind grammtische Entlehnungen doch eher selten (selbst die möglichen grammatischen Einflüsse auf das Spanische oder das Portugiesische sind höchst umstritten).

Langer Vorrede, kurzer Sinn: woher kommt die Partizip-Bildung mit Hilfsverb?
Warum in einigen Sprachen nur mit haben und in anderen auch mit sein?
Ist die Fragestellung überhaupt beantwortbar?
 
Nun hat mich ein arabischer Schüler gefragt - für Araber ist es sowieso schwer nachzuvollziehen, warum die Gegenwartsformen sein und haben mit dem Partizip II eine Vergangenheitsform bilden, ich weise dann immer darauf hin, dass das im Englischen und Französischen (eine dieser beiden Sprachen sprechen die meisten Araber) genauso sei, nur dass hier lediglich to have bzw. avoir, nicht aber to be/être verwendet würden - wieso es denn haben und sein seien.

Zur Frage der Geschichte der Partizipbildung in den germanischen Sprachen kann ich zwar nichts beisteuern, aber im Französischen werden auch bei bestimmten Verben das Partizip Perfect (Passé Composé) und die anderen Vergangenheitszeiten Indikatif und Subjonctif mit être gebildet.

par example: je suis allé (ich bin gegangen)

Das sind allesamt Verben, die eine Bewegung ausdrücken: naître, mourir, aller, descendre, monter etc.

Die Liste findet sich z. B. hier: Grammaire / Le passé composé | TV5MONDE: Französisch lernen (Das ist eine abschließende Liste)

Übrigens wird bei rester (bleiben) auch die Vergangenheit mit être gebildet, während bei marcher (gehen, marschieren), randonner (wandern) und courir (laufen) die Vergangenheit mit avoir gebildet wird. (Das sind so die kleinen Fallstricke im Französichkurs.) Und bei reflexiven Gebrauch wird auch die Vergangheitsform mit être gebildet, p. ex. je me suis lavé (ich habe mich gewaschen), während j'ai lavé mon enfant (ich habe mein Kind gewaschen) mit avoir gebildet wird.

Im klassischen Latein gibt es diese Vergangenheitsbildung ja nicht. Die Tatsache, dass das in den (oder allen?) romanischen Sprachen so verwendet wird, spricht ja eigentlich für eine Entwicklung, die sich im Vulgärlateinischen und/oder Spätlatein wohl wiederfinden wird.

Könnte es sein, dass bei der schriftlichen Fixierung der germanischen Sprachen im frühen Mittelalter durch Mönche, die sicherlich Latein oder Vulgärlatein konnten, eine Übertragung aus dem Romanischen stattgefunden hat? Also keine eigenständige Entwicklung in den germanischen Sprachen, sondern eine Übernahme dieser Vergangenheitsformen aus dem Lateinischen.
 
Gute Hinweise, sowohl mit dem Französischen, als auch mit bleiben. Deine Arbeitshypothese will ich nicht ganz von der Hand weisen, ich kann mir allerdings nur sehr schwer vorstellen, dass das aus den Klöstern so ausgestrahlt hat, dass das die Sprache der Menschen färbte. Zudem wäre mir nicht bewusst, dass es im Kirchen- und/oder Mittellateinischen das zusammengesetzte Perfekt gäbe, dieses orientierte sich ja dann doch eher am klassischen als am Vulgärlatein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Deine Arbeitshypothese will ich nicht ganz von der Hand weisen, ich kann mir allerdings nur sehr schwer vorstellen, dass das aus den Klöstern so ausgestrahlt hat, dass das die Sprache der Menschen färbte.

Als zusätzlicher Hinweis: Selbst im heutigen Deutsch gibt es ja noch den unterschiedlichen Gebrauch in Nord- bzw. Süddeutschland. "Er hat gestanden" / "er ist gestanden" oder "ich habe gesessen" / "ich bin gesessen".
 
Zudem wäre mir nicht bewusst, dass es im Kirchen- und/oder Mittellateinischen das zusammengesetzte Perfekt gäbe, dieses orientierte sich ja dann doch eher am klassischen als am Vulgärlatein.

In dem von mir genannten Wiki-Artikel findet sich dazu ein Hinweis:

En latin tardif, le verbe finit par perdre son sens propre, pour ne plus conserver qu'un aspect temporel. Ainsi Grégoire de Tours écrit au vie siècle : « episcopum invitatum habes », non plus dans un sens « tu tiens l'évêque invité », mais bien dans le sens moderne, « tu as invité l'évêque ». Le participe est à présent juxtaposé à habeo, qui a perdu tout sens propre au sein d'un groupe verbal composé.​


Hier ist noch ein Wiki-Artikel auf Französisch dazu (Entwicklung vom Lateinischen in die romanischen Sprachen): Temps composé — Wikipédia
 
Ich habe gerade einen Blick in die altenglische Grammatik geworfen:

Da gibt es nur zwei Zeitformen (Present und Past Tense).

Old English grammar - Wikipedia

Von einem Present Perfect ist da nicht die Rede. Wie das bei den anderen germanischen Sprachen war, habe ich nicht recherchiert. Falls es bei den anderen germanischen Sprachen auch so sein sollte, würde ich vermuten, dass die Perfektformen erst eine spätere Sprachentwicklung darstellen. Dazu würde auch passen, dass das Gotische, das wir nur spätantiken/ frühmittelalterlichen Texten kennen, das Perfekt nicht hatte.
 
In älteren Sprachformen im Englischen wurde auch das Present Perfect mit to be bei einigen intransitiven Verben gebildet:

  • English uses have as the auxiliary; the use of be with some intransitive verbs (as in I am come; he is gone) is archaic. For more details see the section on § English below.
Und auch im Spanischen gab es hiernach die Formen des Pasado compuesto mit ser:

  • Spanish uses haber ("have") as the auxiliary with all verbs. The "present perfect" form is called the pretérito perfecto and is used similarly to the English present perfect. While ser ("to be") was used as an auxiliary verb in a similar sense to modern French and Italian, this use disappeared by the 18th century.[16] See Spanish verbs.
Perfect (grammar) - Wikipedia
 
Ich erkläre meinen Schülern immer, dass sie sich merken können, dass die meisten Verben das Perfekt mit dem Hilfsverb haben bilden, wohingegen Verben der Fortbewegung, zu denen sie außer kommen, gehen, rennen, laufen, fliegen, schweben, schwimmen etc. bitte auch sterben, einschlafen und aufwachen (und wieder auferstehen) zählen sollen, mit sein gebildet werden.
Ich dachte immer, das Perfekt mit "haben" werde bei transitiven Verben gebildet, die intransitiven bekommen das "sein". Zufällig sind die Verben der Bewegung meistens intransitiv und benötigen höchstens eine Präposition. Tr. und intr. Verben unterscheiden sich zusätzlich noch durch die Möglichkeit, einen Passiv zu bilden, und da gibt es das Hilfwort "werden".
Zur Frage selbst kann ich gar nichts sagen. Ich kann nur spekulieren:
- transitive Verben: haben, werden
- intr. Verben: sein
Haben und Werden sind reichlich "schwache" Formen: das "Haben" benötigt, wie auch das transitive Verb, ein Objekt, das man "hat", und das Werden ist immer unvollständig (man wird und vergeht).
Das Sein dagegen ist stark: das ist Bestandteil des Subjekts. Außerdem ist das intransitive Verb immer im Aktiv. Passiv ist ja Erduldung, Leid.
Vielleicht hat man intransitive Verben als "stärker" betrachtet, weil sie gewissermaßen "für sich" stehen, transitive dagegen als "schwach", weil sie immer noch etwas benötigen.
Wie gesagt, bevor ich in Hegelsche Ausdrücke abgleite: ist Spekulatius.
 
Schon Walther kennt das Perfekt:

Owe war SIND verswunden
alliu miniu jar!
IST mir min leben getroumet,
oder ist ez war?
Dazu ich ie wande es waere,
Was daz allez iht ?
Dar nach HAN ich geslaven
Und enweiz es niht.

Da sieht man finde ich gut, dass sich bei den Partizipial-Konstruktionen mit "sein" die Verwendung zur Bezeichnung der Vergangenheit wie von selbst ergibt: Die Jahre sind in der Gegenwart verschwunden, und das bedeutet, dass sie früher einmal verschwanden. Vielleicht hat sich das Perfekt für transitive Verben mit "haben" erst in Analogie zu einem schon etablierten Perfekt mit "sein" gebildet.
Spekulatius.
 
Ich dachte immer, das Perfekt mit "haben" werde bei transitiven Verben gebildet, die intransitiven bekommen das "sein".

hier ein Gegenbeispiel
schlafen - ich habe geschlafen, allerdings z. B. einschlafen - ich bin eingeschlafen

Schon Walther kennt das Perfekt:

Hier wäre die Frage, ob er es schon oder erst kannte. Mit Walther von der Vogelweide wären wir bei +/- 1200. Da wäre die Frage, wie das mit älteren Texten aussieht.


Übrigens schöner Minnegesang, auch wenn er mich leicht melancholisch macht. Hier noch ein Link mit dem Text und Übertragung ins Neuhochdeutsche. Einige Ausdrücke sind heute nicht mehr so ganz einfach zu verstehen. Walther von der Vogelweide

frz. tener, 'behalten';

Kurze Ergänzung - immerhin ist Französisch meine liebste Fremdsprache:): tenir


Was ist eigentlich mit den frühen skandinavischen Sprachen? Gab es da auch schon die Konstruktion mit Haben oder Sein + PPP für die Perfektformen? Im übrigen wäre wohl auch das isländische Zeitensystem interessant, die Sprache gilt ja auch als sehr konservativ.

Wo ist denn unser Wahlnorweger? @muheijo ?:)
 
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Lässt sich bei mir nicht herunterladen.
 

Danke, das scheint wohl einiges zur Klärung beizutragen. Habe gerade nur kurz darauf geschaut, muß ich mir in Ruhe ansehen.

Anhang anzeigen 20563


Lässt sich bei mir nicht herunterladen.

Das sieht nach einer Sicherheitseinstellung des Browsers aus. Du benutzt wohl den Firefox. Ich habe ohne Probleme Zugriff von meinem Browser Google Chrome. Mit dem FireFox habe ich es auch ausprobiert. Da erschien sofort das Download-Fenster. Falls da nicht Windows Sicherheitseinstellungen im Wege stehen, könnte es mit einem anderen Browser funktionieren.
 
Nur kurz hierzu:
Ich erkläre meinen Schülern immer, dass sie sich merken können, dass die meisten Verben das Perfekt mit dem Hilfsverb haben bilden, wohingegen Verben der Fortbewegung, zu denen sie außer kommen, gehen, rennen, laufen, fliegen, schweben, schwimmen etc. bitte auch sterben, einschlafen und aufwachen (und wieder auferstehen) zählen sollen, mit sein gebildet werden.

Ich dachte immer, das Perfekt mit "haben" werde bei transitiven Verben gebildet, die intransitiven bekommen das "sein". Zufällig sind die Verben der Bewegung meistens intransitiv und benötigen höchstens eine Präposition.

Meine Schüler sind Deutschlerner völlig unterschiedlicher Ausbildungsgrade. Ich habe vom 25jährigen Jungakademiker bis hin zum Hilfsarbeiter kurz vor der Rente, der mit 14 das letzte Mal die Schulbank gedrückt hat alles dabei. Wenn ich denen mit tranistiv und intransitiv komme, sind die zu 99 % weg. Sind auch 75 % bei "Verben der Bewegung", aber darunter können die sich immerhin meist etwas vorstellen.
 
Ich bin nämlich bei der Lektüre in eine Art Trancezustand gefallen. :)

Da hast Du doch ein schönes Beispiel gebracht: "ich bin in einen Trancezustand gefallen" (plumps), aber Du hast nicht geschlafen.

Im Französischen auch:
"Je me suis endormi si tôt"
und genau so:
"Je pensais que j'avais réellement dormi là toute la nuit."

Ich halte es für eher wahrscheinlich dass es eine Überformung der vulgärlateinkschen Sprachen durch germanische Perfekt-Konstruktionen gab, weniger wahrscheinlich eine Überformung der germanischen Sprachen durch das Vulgärlatein.
 
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