Radikalisierungsgeschichten der Weimarer Republik

sashu

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Ich suche Radikalisierungsgeschichten der Weimarer Republik, die bspw. Lebensläufe sowohl prominenter als auch einfacher Leute schildert, deren Leben aufgrund damaliger Verhältnisse sich signifikant radikalisiert hat. Welche Quellen wären insofern empfehlenswert?
 
Ich suche Radikalisierungsgeschichten der Weimarer Republik, die bspw. Lebensläufe sowohl prominenter als auch einfacher Leute schildert, deren Leben aufgrund damaliger Verhältnisse sich signifikant radikalisiert hat. Welche Quellen wären insofern empfehlenswert?
Meinst du wirklich Quellen?

Die Radikalisierung einfacher Leute, so du damit der Öffentlichkeit unbekannt gebliebene Personen meinst, dürfte sich wohl quellenmäßig äußerst schwer nachverfolgen lassen. Du müsstest schon auf Archivalien zurückgreifen, Briefe, Tagebücher (beides findest du i.d.R. nicht in öffentlichen Archiven), ggf. polizeiliche oder Gerichtsakten, wenn jemand als Ergebnis seiner Radikalisierung strafrechtlich in Erscheinung getreten ist (UND das auch den Akten zu entnehmen ist!). Internet und somit die Asozialen Hetzwerke gab es damals noch nicht, die Selbstradikalisierung im Internet, rekonstruierbar anhand der Timeline ist somit mangels Internet nicht existent.
Und wer sollte als Zeitgenosse die Radikalisierung einfacher Leute am Individuum beobachtet haben?
Bleiben noch Prominente und (Auto)Biographien.
I.d.R. werden Biographien aus einem Bezug des Autors zu seinem Sujet heraus geschrieben, dieses ist meist durch Sym- oder Antipathie getrieben. Bei Sympathie wird die Radikalisierung mitunter - Vorannahme - bagatellisiert oder gar überhaupt nicht thematisiert, bei Antipathie vielleicht sogar übertrieben dargestellt.
Bei Autobiographien ist es eh das Anliegen des Verfassers, die Deutungshoheit über seine Rolle in der Geschichte zu behaupten. D.h. dass damit zu rechnen ist, dass die Rolle des Verfassers bei historischen Ereignissen ins günstigste Licht gerückt wird. Mit schonungsloser Selbstkritik (und somit einer Beschreibung der eigenen Radikalisierung) ist somit eher nicht zu rechnen (unmöglich ist das freilich nicht).

Ein Fall der Radikalisierung, der gut dokumentiert sein dürfte, ist der des Reichspropagandaministers Goebbels, der vom katholischen Verbindungsstudenten - aus der Verbindung wurde er wegen seines Benehmens hinausgeworfen - für den Rest seines Lebens zum glühenden Hitlerverehrer wurde.
 
Danke, eine sehr aufschlussreiche Antwort! :) Politiker und Prominente sind natürlich übliche Verdächtige, die als erste auf Radikalisierung untersucht werden.

Aber es können auch einfache Leute mitberücksichtigt werden. Ich habe mal recherchiert und einige Quellen (Bücher) gefunden, die interessante Radikalisierungserzählungen beinhalten wie:

-- Führer D (2020) Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte: Tagebücher der Weimarer Republik (1913–1934). Weimarer Schriften zur Republik, Band 12. Franz Steiner Verlag, Stuttgart.
-- Bergerson AS (2004) Ordinary Germans in extraordinary times: The Nazi revolution in Hildesheim. Indiana University Press, Bloomington.

Es ist nahe liegend, dass ich einiges übersehen habe. Deshalb meine Frage.
 
Die Radikalisierung einfacher Leute, so du damit der Öffentlichkeit unbekannt gebliebene Personen meinst, dürfte sich wohl quellenmäßig äußerst schwer nachverfolgen lassen. ... ggf. polizeiliche oder Gerichtsakten, wenn jemand als Ergebnis seiner Radikalisierung strafrechtlich in Erscheinung getreten ist (UND das auch den Akten zu entnehmen ist!).
Wie kann ich am besten nach polizeilichen Gerichtsakten suchen oder sie anschauen? Sind sie überhaupt digitalisiert? Kann man die Taten, die damals als Radikalisierung eingestuft worden sind (die Gesetzeslage war doch eine andere), aus heutiger Sicht als Radikalisierungsfälle interpretieren und umgekehrt Fälle bei der damaligen Gesetzeslage herausfiltern, die damals "normal" waren und heute auffällig?

Andere eindeutigere Fälle wären politische Morde, die nach wie vor auf eine Radikalisierung hindeuten können. Gibt es solche Untersuchungen in Quellen/Literatur?
 
Zuletzt bearbeitet:
Du kannst, je nachdem, wo du lebst, in den Archiven schauen, was an Archivmaterial auf uns gekommen ist. Sicherlich gibt es auch - wie in deinem Hildesheimer Bsp. - Untersuchungen lokalhistorischer Natur. Da das nicht selten Abschlussarbeiten sein werden, ist auch hier immer die Möglichkeit gegeben, dass diese zwar unveröffentlicht, als Belegexemplar in den jeweiligen Archiven vorliegen (Archive fordern das i.d.R. ein, dass wissenschaftliche Arbeiten, die mit De- oder Reposita des Archivs erstellt wurden in Form eines Belegexemplars den Archiven überlassen werden. Aber selbst Schülerarbeiten - z.B. im Rahmen des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten könnten hier als Belegexemplare vorliegen).
Die fraglichen Schutzfristen dürften i.d.R. längust abgelaufen sein.
 
Du kannst, je nachdem, wo du lebst, in den Archiven schauen, was an Archivmaterial auf uns gekommen ist. Sicherlich gibt es auch - wie in deinem Hildesheimer Bsp. - Untersuchungen lokalhistorischer Natur.
Ich bin in München. Kann im IfZ nachfragen.

Privat geführt und abhängig von der historischen Sensibilität der Angehörigen und Nachlassempfänger ist das https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Tagebucharchiv
Ja, vom Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen habe ich gehört.
 
Quellen/Literatur -- so genau wusste ich nicht; für mich eine Definitionsfrage.
Quellen sind historische Zeugnisse. Literatur (im geschichtswissenschaftlichen Sinne) sind publizierte wissenschaftliche Untersuchungen zu einem Ereignis. Der Quellenwert bemisst sich an der Fragestellung. Willst du z.B. Goebbels Tagebücher als Quelle verwenden, musst du wissen, dass diese nicht für Goebbels selbst im stillen Kämmerlein geschrieben wurden, sondern zur Veröffentlichung nach dem Endsieg bestimmt und einem stetigen Überarbeitungsprozess unterworfen immer auch auf Wirkung bedacht waren. Das ist etwas anderes, als das Tagebuch von Hans Wurst oder Liese Müller, dessen Eintragungen sicher nicht überarbeitet und wahrscheinlich nicht einmal mehr von der Verfasserin oder dem Verfasser selbst gelesen werden. Memoiren/Autobiographien sind Sekundärquellen, die nicht unmittelbar zum historischen Sachverhalt stehen und deren Ziel es ist, die Deutungshoheit über die Lebensleistung des Verfassers zu erlangen bzw. zu behaupten. Sie sind also weniger eine Quelle für die beschriebenen Ereignisse selbst als vielmehr darüber, wie der Verfasser sich selber sah (Tagebuch) bzw. gesehen werden wollte (Memoiren).
 
Sind sie überhaupt digitalisiert?
Hin und wieder digitalisieren Archive auf Nutzeranfrage hin Archivalien (also sie scannen sie, das kostet natürlich Geld und zwar nicht zu knapp). Manche Archive behalten dann die Scans und manche stellen diese dann sogar öffentlich zur Verfügung (aber auch digitaler Speicherplatz kostet Geld und digital gespeichertes muss regelmäßig migriert werden...) Aber die große Menge an Deposita liegt nur in Papierform vor. (Depositum: behördliches Archivgut, Repositum: privat(wirtschaftlich)es Archivgut, das kommunalen oder staatlichen Archiven überlassen wurde).

Kann man die Taten, die damals als Radikalisierung eingestuft worden sind (die Gesetzeslage war doch eine andere), aus heutiger Sicht als Radikalisierungsfälle interpretieren und umgekehrt Fälle bei der damaligen Gesetzeslage herausfiltern, die damals "normal" waren und heute auffällig?

Andere eindeutigere Fälle wären politische Morde, die nach wie vor auf eine Radikalisierung hindeuten können. Gibt es solche Untersuchungen in Quellen/Literatur?
Hay que poner los codos! - man muss sich auf seine Ellebogen stützen (also lesen, lesen, lesen, auswerten, auswerten, auswerten.
 
Der Quellenwert bemisst sich an der Fragestellung. ... Memoiren/Autobiographien sind Sekundärquellen, die nicht unmittelbar zum historischen Sachverhalt stehen und deren Ziel es ist, die Deutungshoheit über die Lebensleistung des Verfassers zu erlangen bzw. zu behaupten. Sie sind also weniger eine Quelle für die beschriebenen Ereignisse selbst als vielmehr darüber, wie der Verfasser sich selber sah (Tagebuch) bzw. gesehen werden wollte (Memoiren).

Ich möchte soweit wie möglich von Subjektivität Abstand nehmen. Radikalisierungsfälle, von denen auf Grundlage der Autobiographien berichtet wird, wären insofern vom begrenzten Nutzen für mich, zumal der Autor einer Autobiographie psychologisch gesehen sowohl als Subjekt als auch Objekt geriert, was unmittelbar zur Selbstzensur führt und der Objektivität schadet. Mir wäre lieber eine akademische Untersuchung von einem neutralen Beobachter wie Pistorius, Peter (1970): Rudolf Breitscheid (1874-1944). Ein bibliographischer Beitrag zur deutschen Parteiengeischichte. Dissertation. Universität Köln.
 
Ich möchte soweit wie möglich von Subjektivität Abstand nehmen. Radikalisierungsfälle, von denen auf Grundlage der Autobiographien berichtet wird, wären insofern vom begrenzten Nutzen für mich, zumal der Autor einer Autobiographie psychologisch gesehen sowohl als Subjekt als auch Objekt geriert, was unmittelbar zur Selbstzensur führt und der Objektivität schadet. Mir wäre lieber eine akademische Untersuchung von einem neutralen Beobachter wie Pistorius, Peter (1970): Rudolf Breitscheid (1874-1944). Ein bibliographischer Beitrag zur deutschen Parteiengeischichte. Dissertation. Universität Köln.
Auch wissenschaftliche Untersuchungen arbeiten ja mit Quellen. Und da muss man eben das Material nehmen, was für die Fragestellung vorliegt. Aufgabe des Historikers ist es im Rahmen der Quellenkritik, Überlieferung einer Quelle und somit eben auch ihren Subjektivitätsgrad (der auch in derselben Quelle nicht immer gleich sein muss) zu bestimmen.
 
Kann man die Taten, die damals als Radikalisierung eingestuft worden sind (die Gesetzeslage war doch eine andere), aus heutiger Sicht als Radikalisierungsfälle interpretieren und umgekehrt Fälle bei der damaligen Gesetzeslage herausfiltern, die damals "normal" waren und heute auffällig?

Zunächst mal Rückfrage, was meinst du mit einer "Einstufung als Radikalisierung"?
Politische Radikalisierung war weder damals ein Straftatbestand, noch ist es das heute.
Allenfalls könnte man ein Verbrechen als politisch motiviert einstufen.

Das ist in der Weimarer Republik, bei den spektakuläreren Dingen, wie Umsturzversuchen und politischen Morden offensichtlich getan worden, wobei je nach Gusto der Richter diese Einstufung als politisch motivierte Tat als Begründung genutzt wurde um von Strafe abzusehen oder diese zu minimieren, wenn die Richter diese politischen Überzeugungen goutierten.

Bei deutlich niedrigschwelligeren Fällen, bei denen niemand ernstlich dauerhaft zu Schaden kam, interessierte sich niemand dafür ob das politisch motiviert war oder nicht.
Einfach weil nicht nur die rechtlichen Bestimmungen, sondern auch die sozialen Normen ganz andere waren.

Individuelle Gewaltausübung in Form von Schlägereien etc. waren vollkommen alltägliche Erscheinungen. Das war damals demographisch eine recht junge Gesellschaft, mit mitunter schlechter wirtschaftlicher Perspektive, im Schnitt geringer Bildung, in der Alkohol sozial eine sehr große Rolle spielte und die was die jungen Männer betraf zum überwiegenden Teil aus Kriegsveteranen bestand, die an die Ausübung noch ganz anderer Formen von Gewalt gewöhnt waren.
 
Radikalisierung in der Weimarer Republik!?

Da fällt mir immer als erstes die SA der NSDAP eine und der Rote Frontkämpferbund der KPD.

Dann die Angehörigen der „Marine Brigade Ehrhart“ und da ganz besonders Erwin Kern und Hermann Fischer.
Dann auch die Organisation „Consul“.
Unter der „völkischen Bewegung“ findet man auch viele Namen die zu dieser Frage passen.
Sehr oft sind deren Biografie auch im Netz zu finden.
 
Zunächst mal Rückfrage, was meinst du mit einer "Einstufung als Radikalisierung"?
Politische Radikalisierung war weder damals ein Straftatbestand, noch ist es das heute.
Allenfalls könnte man ein Verbrechen als politisch motiviert einstufen.
Ich meine mit der "Einstufung als Radikalisierung" bspw. solche Fälle, die in Zusammenhang mit bestimmten sozialen Gruppen verbreitet waren: Gewalt durch NSDAP-Frauen, Diskriminierung von Frauen, von Sinti und Roma, von Menschen mit Behinderung, von Homosexuellen, und wie immer von Juden. Damals galten sie als "normal", heute sind sie Radikalisierungsfälle.
 
Ich meine mit der "Einstufung als Radikalisierung" bspw. solche Fälle, die in Zusammenhang mit bestimmten sozialen Gruppen verbreitet waren: Gewalt durch NSDAP-Frauen, Diskriminierung von Frauen, von Sinti und Roma, von Menschen mit Behinderung, von Homosexuellen, und wie immer von Juden. Damals galten sie als "normal", heute sind sie Radikalisierungsfälle.

Du hast mir noch immer nicht nicht erklärt, was eine "Einstufung als Radikalisierung" ,deiner Meinung nach, sein soll.

Ein Verbrechen kann allenfalls das Ergebnis einer vorangegangenen Radikalisierung sein, nicht die Radikalisierung an und für sich.

Deswegen müsstest du einmal erklären, ob du dich für politisch motivierte Verbrechen interessierst oder für Radikalisierungsverläufe und deren Ursachen.

"Diskriminierung" an und für sich setzt erstmal voraus dass es in der Gesellschaft anerkannte Norm ist dass jeder Mensch als gleichwertig zu gelten habe.
Das ist vielleicht unsere heutige Ansicht, dass ist natürlich nicht die Ansicht einer Gesellschaft gewesen, die bis 1918 z.B. noch stolz darauf war ein eigenes Kolonialreich zu besitzen mit allem, was dazu gehörte und die bis weit in die Sozialdemokratie hinein massiv sozialdarwinistisch geprägt war.
Wer im sozialdarwinistischen Sinne das "Recht des Stärkeren" für den natürlichen und erstrebenswerten Zustand hält, dem muss eo ipso das Konzept der Diskriminierung an und für sich geistig fremd sein, denn um diskriminieren zu können, müsste erstmal eine Gleichheit und Gleichwertigkeit zur Norm erklärt werden, die ein so denkender Kopf als widernatürlich empfinden würde.
Will heißen, gemäß unseren Normen diskriminiert eine so geprägte Gesellschaft ohne Ende, aber das kommt ihr auch überhaupt nich zu Bewusstsein, noch wird sie das für irgendwie verwerflich halten.

Natürlich kann man zu den gesellschaftlichen Umständen damals heute eine andere politische Meinung haben. Die könnte man auch zu jeder anderen vorangegangenen Gesellschaft haben, die Frage ist nur, wem nutzt das und wen bringt das weiter?
 
Zuletzt bearbeitet:
"Diskriminierung" an und für sich setzt erstmal voraus dass es in der Gesellschaft anerkannte Norm ist dass jeder Mensch als gleichwertig zu gelten habe.
Gleichwertigkeit kann man in der Weimarer Republik als anerkannte Norm ansehen:
Artikel 109 der Weimarer Verfassung: "Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich."
 
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