Welche Rolle spielte der Friede von Tilsit in der Wahrnehmung und Denke im dt. Kaiserreich?

Arnaud28

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Der Friede von Tilsit war für Preußen ein Schock.
Frankreich und Rußland hatten sich auf Kosten Preußens geeinigt.
Die Folgen waren für Preußen dramatisch, man verlor fast die Hälfte seiner Einwohner und seines Territoriums. Die Gebiete Neuostpreußen und Südpreußen gingen verloren.
Andererseits gilt der Friede als Keimzelle für die Modernisierungsbemühungen Preußens.

Doch welche Rolle spielte dieses Ereignis im deutschen Kaiserreich?
 
Kaiser Wilhelm I. war Zeitzeuge von den dramatischen Ereignissen in Tilsit. Sein Vater war nur Objekt; er war ja nicht einmal zu den Verhandlungen zugelassen worden. Eine schlimme Demütigung. Wilhelm I. gab auch Napoleon den Schuld an dem Tod seiner Mutter Luise.

Bei den eigentlichen Gestalter der preußischen-deutschen Politik Bismarck, so glaube ich, spielte diese Demütigung keine Rolle. Bismarck war Pragmatiker und hatte keine Problem mit dem Neffen von Napoleon. Natürlich nur solange es seinen Zwecken dienlich war.
 
Mit Legendenbildung und Propaganda sah es natürlich anders aus. Die Katastrophe von 1806 und der folgende Friede waren der Tiefpunkt von dem aus Preußen wieder aufstieg. Das bedingte natürlich auch die Schuld zumindest teilweise in Preußen zu suchen, anstatt alles beim Gegner abzuladen.
 
Laut überlegt: Könnte es sinnvoll sein, die Fragestellung zeitlich und räumlich differenziert zu betrachten? Ich denke hierbei an Perioden nationalistischen Überschwanges wie 1871 ebenso wie daran, dass einem Bayern oder Oldenburger der "Tilsiter Diktatfriede" wohl weniger in der Seele wehtat als dem preußischen Patrioten.
 
Gab es denn von deutscher/preußischer Seite Initativen die "verlorenen" Gebiete zurückzuholen/erwerben?
Wurde dies von irgendjemandem mal thematisiert? Oder war das Thema durch die Alvensleben Konvention überlagert? Könnte doch durchaus sein, dass dies mit den Russen ab und wann mal besprochen wurde?
 
Es war natürlich naheliegend, das Preußen und Österreich, die bekanntermaßen ja an den polnischen Teilungen des 18.Jahrhundert beteiligt waren, auf dem Wiener Kongress, auf dem überaus wichtigen Territorialangelegenheiten verhandelt werden sollten, Ansprüche auf ihre ehemaligen Gebiete erhoben.

Der Zar aber wollte das von seinen Truppen eroberte und besetzt gehaltene Großherzogtum Warschau als Grundlage eines polnischen Reiches erhalten und in Personalunion mit Russland vereinen. Er beanspruchte für sich den Titel eines Königs von Polen. Diese Ansprüche kollidierten mit den Ansprüchen und Interessen der übrigen europäischen Mächte.

Am 23.Oktober 1814 wurde diese Thematik zwischen den englischen Außenminister Castlereagh und den österreichischen Außenminister Metternich besprochen. Talleyrand wollte unbedingt verhindern, das Preußen seine Gebiete zurückerhält, da es nach Pariser Lesart sonst zuviel Macht im deutschen Raum gewinnen würde. Metternich und Castlereagh lehnten die Vorstellungen des Zaren ab, da es ihrer Meinung nach ein zu großer Machtzuwachs Russlands sein würde. Österreich und Preußen sollten gemeinsam einen starken Block in Mitteleuropa bilden. Der Territorialzuwachs auf Kosten des Großherzogtums Warschau sollte die militärische Sicherheit der beiden Großmächte garantieren.

Den Zaren ist es jedenfalls gelungen den Friedrich Wilhem III. auf seine Seite zu ziehen. Der preußische König untersagte seinen Minister Hardenberg sogar an den weiteren Besprechungen Metternichs und Castlereagh teilzunehmen.

Das war ein erheblicher Streitpunkt auf dem Kongress. Der preußische König verbot seinen Minister Hardenberg an den Besprechung

Die polnischen Gebieten waren durchaus Thema auf dem Wiener Kongress. Allerdings standen dort weniger alte Rechtsansprüche Preußens und auch Österreichs zur Diskussion. Es ging vielmehr um rein machtpolitische Überlegungen.
 
Es war natürlich naheliegend, das Preußen und Österreich, die bekanntermaßen ja an den polnischen Teilungen des 18.Jahrhundert beteiligt waren, auf dem Wiener Kongress, auf dem überaus wichtigen Territorialangelegenheiten verhandelt werden sollten, Ansprüche auf ihre ehemaligen Gebiete erhoben.

Stellt sich allerdings die Frage, ob sie jemals ernsthaft an der Wiedrerlangung dieser Territorienn interessiert waren oder es von Anfang an nur darum ging Ansprüche zu reklamieren, die man sich dann anderswo kompensieren lassen konnte?
 
Aus den Akten, so weit ich das übersehe, jedenfalls finden deine Überlegungen keine Bestätigung.
 
Aus den Akten, so weit ich das übersehe, jedenfalls finden deine Überlegungen keine Bestätigung.

Mir war so, als hätte Preußen bereits vor dem Kongress Russland gegenüber im Umfeld des Vertrags von Kalisz zu Gunsten Russlands auf Territorien in Polen verzichtet, sich aber Entschädigung in vergleichbarer Größenordnung ausbedungen.

Der Wiki-Artikel zum Vertrag von Kalisz deutet das auch so an:

Vertrag von Kalisch (1813) – Wikipedia

"Der dann maßgebliche russische Vorschlag wurde wesentlich von dem in Russland im Exil am Zarenhof wirkenden Freiherrn vom Stein mitbestimmt. Dieser garantierte in zwei geheimen Artikeln die Wiederherstellung Preußens in den „statistischen, geographischen und finanziellen“ Verhältnissen von 1806 sowie territoriale Abrundungen. Preußen musste auf das Territorium des Herzogtums Warschau verzichten. Eine Verbindung zwischen dem „alten“ Preußen und Schlesien wurde jedoch zugestanden – gemeint war dabei nicht die schon bestehende Verbindung über Pommern und die Neumark, sondern die Abtretung eines Teils von Großpolen, nämlich des späteren Großherzogtums Posen."

Dem folgend wäre es zumindest für Preußen von Anfang an nicht darum gegangen alle Gebiete aus den polnischen Teilungen zurück zu erlangen, wobei mir da natürlich unklar ist, ob Falls das in Kalisz tatsächlich so vereinbart worden war, Wien unnd London Kenntnis davon hatten und falls ja, ob das Wien veranlasst haben könnte eine vergleichbare Vereinbarung mit Russland betreffend der Gebiete, die Österreich aus der dritten Teilung dazugewonnen hatte, zu treffen.
Ich muss jetzt leider erstmal los, kann aber heute Abend nochmal nachschlagen ob ich hier etwas zur preußisch-deutschen Geschichte herumstehen habe, dass zu Kalisz etwas sagt.
Ich meine, würde es aber nicht beschwören, dass in Thierry Lenz' Buch zum Wiener Kongress im Bezug auf die polnische Frage Kalisz mal kurz angesprochen wurde, da kann ich mich aber auch irren.
 
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