Interessante Beiträge bisher. Einige allgemeine Gedanken (ohne direkte Zitate, weil sie regelmäßig von mehreren Personen angesprochen wurden):
Auf die Gefahr hin, in die Niederungen der Tagespolitik abzugleiten: Ich halte es für unstrittig, dass in Deutschland eine paternalistische Betrachtungsweise den Ton angibt, fraglich war für mich nur, was von Snyders Kernaussage zu halten ist, dass Berlin sozusagen Hitlers koloniale Brille noch nicht abgesetzt habe.
Diese Sichtweite scheint auch durchaus verbreitet, wie mehrere Umfragen der letzten Monate nahelegen, in denen regelmäßig bis zu vierzig Prozent der Befragten gegen Militärhilfe für die Ukraine plädierten, und/oder der Regierung in Kiew eine Mitschuld gaben, und/oder eine Verhandlungslösung forderten.
(Anmerkung: In Anbetracht der verbrieften Äußerungen der russischen Regierung, warum sie die Ukraine angegriffen hat und was sie dort zu tun gedenkt, behaupte ich, dass man die Aufforderung, eine Verhandlungslösung anzustreben, nur als politisches Statement wider die Sache der Ukraine werten kann.)
Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass der offene Brief Alice Schwarzers eine Minderheitenmeinung repräsentiere, so kann sie dennoch den Diskurs bestimmen und Politik prägen (sonst würden sich Prominente schwerlich politisch engagieren). Insofern sehe ich Snyders Theorie noch nicht widerlegt.
Insgesamt würde ich meinen, dass pro-russische und anti-ukrainische Positionen in Ostdeutschland und im linken Flügel der SPD mehrheitsfähig sind, sowie unter Anhängern von Die Linke und AfD die absolute Mehrheit bilden. In jedem Falle handelt es sich um eine politisch bedeutsame Wählermasse.
Zu konstatieren ist auch, dass die deutsche Bundesregierung keineswegs alle Maßnahmen ergreift, die sie ergreifen könnte und die Deutschlands Partner von ihr einfordern. Führende Parlamentarier der Koalition, wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, widersprechen dem Bundeskanzler hier in eindeutiger Schärfe.
Es lassen sich mehrere Erklärungsansätze dazu entwickeln.
Erstens, Snyders koloniale Brille. Ich halte seine Erklärung für insgesamt überzeugend, zögere aber, mich ihr anzuschließen, weil sie zwar die Haltung der Entscheidungsträger des Landes erklärt, aber womöglich nicht die der Bevölkerung. Waren Hitlers koloniale Absichten im Dritten Reich allgemein verinnerlicht?
Ich bin zwar kein ein Experte für die NS-Zeit, wage aber zu behaupten, dass die Deutschen Hitler gefolgt wären, ganz gleich, was er ausgeheckt hätte. Die Losung vom "Lebensraum im Osten" scheint mir eher diffus, und zumindest im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit nicht gegen die Ukraine per se gerichtet.
Dann steht die Frage im Raum, ob der Durchschnittsdeutsche im Weltkrieg, und danach bis 1991, die Ukraine als eigenständige Entität wahrnahm. Ich zweifle daran, denn so würde die Verwunderung erklärt, die Kiews Aussage auslöste, Deutschland habe wegen seines Angriffs auf die Ukraine eine Bringschuld.
Denn anders als etwa die Japaner zögern viele Deutsche ja nicht, sich anderen Staaten gegenüber zur historischen Verantwortung Deutschlands zu bekennen. Warum also sollten sie die Ukraine ausnehmen?
Freilich sehe ich, dass diese Diskrepanz nahelegt, dass Snyder Recht hat. Bereits daraus, dass die ukrainische Regierung eine (im Innern unwidersprochene) derartige Position einnimmt, sollte doch erhellen, dass sie der Wahrnehmung der Ukrainer ihrer
eigenen Geschichte Ausdruck verleiht.
Demnach würden wir wirklich an einem blinden Fleck leiden.
Welche Erklärungsansätze gäbe es noch?
Recht simpel ist, zweitens, mein Vorschlag, dass die langen Jahre, in der der Ukraine die Eigenstaatlichkeit verwehrt blieb, unbewusst den Eindruck erzeugt haben, dass es sich um keine "richtige" Nation handele. Allerdings bliebe damit offen, warum nur die Deutschen diesem Irrtum aufgesessen wären.
Drittens existiert unter vielen Ostdeutschen, Spätaussiedlern und, natürlich, russischen Immigranten ganz einfach eine starke Russland-Affinität. (Dieses Wählerreservoir will nicht vergrätzt werden.)
Viertens herrscht in Deutschland eine starke pazifistische Grundhaltung vor.
(Ich persönlich würde diesen Pazifismus zwar in Anführungszeichen setzen, denn ich habe nie auf Ostermarsch-Plakaten die Forderung gelesen, die Nordvietnamesen möchten sich den Amerikanern ergeben, oder die Palästinenser den Israelis, um "weiteres Blutvergießen" und eine "Eskalation" zu vermeiden.
Insofern handelt es sich vielleicht eher um moralisch bemäntelten Anti-Imperialismus und Isolationismus, eine biedermeiereske Neigung zur Nichteinmischung, eine sich als nobel gerierende Ausprägung der deutschen Tendenz zum Wegsehen. Aber natürlich kann ich mich auch irren.)
Fünftens und zuletzt gibt es im links- und rechtspopulistischen Milieu starke Sympathien für die Person Wladimir Putins, für die erzkonservativen Werte der russischen Gesellschaft, für die Rolle Russlands als Gegengewicht zu den USA, und natürlich eine nostalgische Sympathie für die untergegangene UdSSR.
All dies dürfte die Haltung der Gesellschaft, und damit die der Bundesregierung, ebenfalls beeinflussen.
Bitte max. 20 % </= 12 Seiten.
Also, aus einem Buch kannst du bist zu 12 Seiten wiedergeben, wenn diese 12 Seiten nicht 20 % der Textmasse überschreiten. Aus kürzeren Textformaten - also z.B. einem Zeitungsartikel - Max. 20 %.
Verstanden.
"Ist Deutschlands Blick auf Osteuropa "kolonial"? (Zitat Timothy Synder)"
@-muck- , das ist schon eine sehr verunglückte Überschrift. Was ist den nun ein Zitat Snyders? Nur "kolonial"?
Das äußere Paar Anführungszeichen stammt nicht von mir, soweit ich das sehen kann. Zur Diskussion gestellt habe ich das Adjektiv "kolonial". Den Bezug zum Autor habe ich nur deshalb schon in der Überschrift hergestellt, damit unverkennbar wird, wohin die Reise geht.