Erfindung der Tradition

Dion

Aktives Mitglied
Gestern war ich bei einer Diskussion mit Alberto Grandi, einem Professor für Wirtschaft und Management in Parma, der vor ein paar Jahren ein Buch publiziert hat, das zunächst niemand drucken wollte. Warum? Weil er darin die „italienische Küche“ zum großen Teil als Reimporte italienischer Auswanderer deutet oder schlicht als Maßnahmen der Politik, um Tourismus zu fördern. Das hat in Italien harsche Reaktionen aus der Wirtschaft und Politik verursacht, die bis heute andauern.

Grandi wurde beeinflusst von Eric Hobsbawm, einem britischen Historiker, der wohl als erster von der Erfindung der Tradition schrieb und dabei z.B. in Erfahrung brachte, dass der „traditionelle“ schottische Kilt eine „Erfindung“ eines Fabrikbesitzers war, der seinen Hochofenarbeitern die damals übliche längere Röcke aus Sicherheitsgründen kürzte. Die Karomusterung kam noch später dazu. Heute gilt Kilt als das schottische Kleidungsstück schlechthin.

Auch Lederhosen und Dirndln der Bayern und Bayerinnen sind eine Erfindung des 19. Jahrhundert, um Tourismus anzukurbeln. Aber sagst du einem bayerischen Burschen, dass seine Hirschledernde nichts mit dem Mittelalter zu tun hat, sondern mit dem Anlocken der zahlungskräftigen Preißn (Preußen), in Bayern die sog. Sommerfrische zu verbringen, da wirst du ein blaues Wunder erleben.

Alberto Grandi sagt auch, dass die sog. „cucina Italiana“ oder auch die sog. Mediterrane-Diät Erfindungen neuerer Zeit sind, verursacht durch eine Studie Ancel Keys‘, der in den 1950er festgestellt hatte, dass Italiener kaum Herz-Kreislauf-Krankheiten kannten. Dieser führte das auf ihre Art sich zu ernähren zurück, dabei waren diese fehlenden Krankheiten einfach das Ergebnis der Armut der Leute in Neapel und überhaupt in Italien: Menschen hatten wenig zu essen, und selbst das, was sie hatten, war qualitativ wenig ergiebig. Grandi sagt, die Auswanderung nach Süd- und Nordamerika war hungerbedingt: Es wanderten ab 1875 bis zum I. Weltkrieg ca. 15 Millionen Italiener aus. Und nach dem Krieg war wieder Hunger angesagt.

Bis zu den 1960er Jahren hat es in Italien keine „cucina italiana“ gegeben, es gab nur jene, die sich vorwiegend von Polenta ernährten (Schimpfwort: polentoni, d.h. Polentafresser in der Po-Ebene, Veneto und Friaul), und andere, die das nicht taten (Schimpfwort: terroni, d.h. Erdfresser). Wobei diejenigen, die sich von Polenta ernährten zu einem Drittel an Pellagra erkrankten, bevor der Grund für diese Krankheit Mitte der 1930er Jahren entdeckt wurde.

Bis Mitte der 1960er Jahre kannte der Norden Italiens so gut wie kein Olivenöl und kaum Käse oder Tomaten, aber sie hatten Mais und Sonnenblumenöl, während der Süden Olivenöl und Hartweizen hatte, das gut für Nudeln aller Art ist (die wahrscheinlich eine Erfindung der Araber sind), aber so richtig war Pasta asciutta nicht verbreitet: Die Spaghetti carbonara ist z.B. eine Erfindung von 1944, als ein Koch für amerikanische Soldaten kochte, weil diese Speck, Sahne, Käse und Eigelb in Pulverform hatten. Früher, also vor dem I. Weltkrieg, haben Italiener fast nur Pasta in Brodo gegessen – meistens in der Hühnersuppe. Trotzdem sagen Römer, Spaghetti carbonara sei ein urrömisches Gericht.

Apropos amerikanische Soldaten. Es gibt während des II. Weltkriegs von ihnen Briefe nach Hause, in denen sie schrieben, es gäbe keine Pizzerien in Italien. Grandi hat herausgefunden, dass die erste Pizzeria in USA 1911 eröffnet wurde und sie sich dann in ganz USA ausbreiteten. Erst danach kam sie auch in Italien in Mode – vorher waren Pizzas in Süditalien so etwas wie Streetfood.

Während bis Mitte der 1990er Jahre Barilla ein Symbol für die gute Pasta-Qualität war – die haben einen Namen zu verlieren! – ist heute regionale Küche Trumpf. Deren Zutaten kommen nicht von der Nahrungsmittelindustrie, sondern von lokalen Bauern und Handwerksbetrieben. Dass ihre Produkte in der Qualität schwanken, nimmt man nicht nur hin, sondern zahlt gern doppelten und dreifachen Preis.

Jede Region, ja jede Gemeinde ist heute bestrebt, das Besondere ihres Ortes herauszustellen – auch bei Nahrungsmitteln. Und sie registrieren ihre Produkte bei den nationalen und EU-Behörden, haben damit so etwas wie Patent drauf, was allen anderen Produzenten verbietet, die nun geschützte Herkunftsbezeichnung etc. für das gleiche Produkt zu verwenden. Es gibt DOP (Denominazione di Origine Protetta), IGP (Idicazione Geografica Protetta), STG (Spezialità Tradizionale Garantita). Diese haben die bisherigen Kennzeichnung DOC, DOCG und IGP ersetzt, die aber gleichwohl, neben den offiziellen, noch weiterverwendet werden dürfen. Dann gibt es noch die lokalen Kennzeichnungen der Regionen PAT (Prodotti Agroalimentari Tradizionali) und der Gemeinden DE.CO. (Denominazioni Comunali).

Das alles, um sich von anderen zu unterscheiden, was natürlich zu Streitereien führt, wer nun was wann erfunden hat. Und die berufen sie gern auf Tradition, selbst wenn sie nur wenige Jahrzehnte alt ist.
 
Das ist ein tolles Thema, was Du da aufmachst.
Wer etwas gut findet, und wünscht, dass es immer so bleiben möge, freundet sich gern mit dem Gedanken an, es könnte auch in der Vergangenheit "schon immer so" gewesen sein.
Und natürlich lassen sich Traditionen auch vermarkten: Die älteste Brauerei der Welt, die älteste Wallfahrt in Bayern - dass die jeweiligen Dokumente Fälschungen späterer Jahrhunderte sind, stört bei der Vermarktung nicht.
In nationalistischen Mythen werden dem eigenen Volk bevorzugt jahrtausendealte Traditionen zugeschrieben, und wenn diese sich nur wenige Jahrhunderte zurückverfolgen lassen, sucht man sich ein antikes "Volk", von dem man direkter Linie abstammen will und auf das alle Volksbräuche zurückgehen.

der vor ein paar Jahren ein Buch publiziert hat, das zunächst niemand drucken wollte
Diese Erzählung ist vielleicht auch Teil einer Vermarktungsstrategie; Der Autor stilisiert sich damit als einsamer Held, der dem übermächtigen Mainstream trotzt.

Dieses Buch ist allerdings im größten Verlag Italiens erschienen!
 
Bis Mitte der 1960er Jahre kannte der Norden Italiens so gut wie kein Olivenöl
Das meiste Olivenöl („abgefüllt in Italien“) stammt eh aus Spanien und Tunesien...

Nudeln aller Art ist (die wahrscheinlich eine Erfindung der Araber sind), […]
Während bis Mitte der 1990er Jahre Barilla ein Symbol für die gute Pasta-Qualität war – die haben einen Namen zu verlieren! –
Der Name Familienname Barilla könnte auf das Arabische zurückzuführen sein. Die Pasta allerdings ist wahrscheinlich keine arabische/nordafrikanische Erfindung. Bezeichnenderweise benutzen die Araber für Pasta ein amerikanisches Wort, das aus dem Deutschen entlehnt wurde: Nudeln > noodles > نودلز nūdlz
Letzteres ist aber nicht das Argument gegen die Erfindung der Nudel durch die Araber, sondern schlicht das, dass es ältere Belege für nudelartige Teigwaren in Italien gibt. Es sind vor allem Obst- und Gemüsesorten gewesen, mit welchen die arabische Küche die italienische Küche bereichert hat. Der arabische Einfluss ist in Italien sehr viel schwächer, als auf der iberischen Halbinsel.
 
Ja, ja die liebe Tradition…
Nach der Vereinigung gabs ja eine wahre Flut von Erzeugnissen mit den Prädikat – aus Tradition - .

Ich meine das bekam im Osten eine zusätzliche Dynamik aus begreiflichen Gründen.
Wir z.B. verwiesen darauf das in Erfurt die älteste Nudelfabrik Deutschlands beheimatet ist.
Immerhin, seit 1793 werden in Erfurt Nudeln hergestellt.
Die Erfurter Nudelmacher belieferten sogar die napoleonischen Truppen.
So ab 1996 war sie dann durch Neuinvestitionen wiederum aus der Schweiz/Uzwil die modernste Nudelfabrik in Deutschland.
1876 nahm diese Fabrik auch an der Weltausstellung in Philadelphia/Bundesstaat Pennsylvania teil und errang in ihrer Branche so gar einen Preis.
 
Die Erfindung der "kulinarischen Tradition", der "Nationalküchen" samt allem, was ihnen zugeschrieben wird - abseits von mal nachschauen, seit wann es Pizza gibt, hatte ich das kaum je auf dem Schirm, d.h. mir erschien es als selbstverständlich, dass es ungefähr "traditionelle nationale Küche" gibt (russ., poln., span., franz., ital. etc Küchen/Gerichte) und dass mir nebenbei über den Weg lief, wie es um Pizza, Döner, Paella bestellt ist, hatte bei mir daran nicht viel geändert. Spaßeshalber in diesem Kontext sei der Faden über die britische Küche erwähnt, die mir stets sehr zusagte :)
Was @Dion über die italienische Küche zusammengetragen hat, saperlot, das stimmt nachdenklich - und ich ziehe es nicht in Zweifel. Vermutlich gab es verschiedene regionale Traditionsgerichte (?) wie z.B. lombard./österr. Malfatti/Nockerln mit Spinat und Salbei: eines unserer Kochbücher behauptet, dieses Rezept reiche ein paar Jahrhunderte zurück, was aber augenzwinkernd als eher legendär bezeichnet wird.

Ein möglicher Fundort wenn nicht für nationale Küchentraditionen, so wenigstens für einzelne (möglicherweise typische?) Gerichte ist die belletristische Literatur. Bei Dostojewski, Bely, Sologub u.a. tauchen als typisch en passent Bliny, Piroggen, Kohlgerichte auf, also 2.Hälfte 19. &Anfang 20. Jh. für Russland, bei Mickiewicz wird 1.Hälfte 19. Jh. das Rezept für Bigos verarbeitet (Pan Tadeusz) was bis heute als poln. Nationalgericht gilt - sicher lassen sich noch viele weitere derartige Literaturstellen finden.

ABER ich frage mich, ob solche literarischen "Quellen" für kulinarische nationaltypische Küchen weiter zurück als bis ins frühe 19. Jh. reichen - meine Vermutung ins Blaue hinein ist, dass Nationalküchen/Traditionen eine Erfindung des späten 18. und des 19. Jhs. sind: im Kontext der "Erfindung der Nationalstaaten".

Und natürlich, wie @Sepiola geschrieben hat, wimmelt es da von Rückprojektionen, Fälschungen etc. Ulkig z.B. wie Dahn das weintrinken "nach alter Väter Sitte, unvermischt" den Goten (als Urdeutschen) zuschreibt (Kampf um Rom, Theoderichs Tod).

Ein Exempel für Werbung mit erfundener regionaler Tradition als Nachweis für Qualität ist der Travemünder Honig "da weiß man, was man hat", den Tony Buddenbrook in der Sommerfrische zu schätzen gelehrt wird...;) In ein ähnlicher Horn tutet zw. 1907-14 ein Bierbrauer auf dem mondänen Berghof, was Settembrini als "völkerpsychologischen Vortrag" verspottet:D -- So weit zwei Thomas Mann Beispiele. Ein drittes weist womöglich in Richtung dessen, was @Dion referiert hat: "Tod in Venedig" spielt am ital. Badestrand, mondäne Hotels, Kurbetrieb - kein einziges "ital. Gericht" wird erwähnt.
 
Und natürlich lassen sich Traditionen auch vermarkten: Die älteste Brauerei der Welt, die älteste Wallfahrt in Bayern - dass die jeweiligen Dokumente Fälschungen späterer Jahrhunderte sind, stört bei der Vermarktung nicht.
z.B. Freiburg im Breisgau - manchen dort genügen das Münster, das Kaufhaus, die Bächle samt Gerberviertel und auf dem Schloßberg die Reste der Vauban-Festung nicht: also muss das älteste Gasthaus - https://de.wikipedia.org/wiki/Zum_roten_Bären - auch mit von der Partie sein :D mir ist egal, ob es das älteste ist: als ich vor über 30 Jahren da zuletzt was gegessen hatte, war es eher eher mau...
 
ABER ich frage mich, ob solche literarischen "Quellen" für kulinarische nationaltypische Küchen weiter zurück als bis ins frühe 19. Jh. reichen - meine Vermutung ins Blaue hinein ist, dass Nationalküchen/Traditionen eine Erfindung des späten 18. und des 19. Jhs. sind: im Kontext der "Erfindung der Nationalstaaten".

Der Vermutung würde ich mich anschließen wollen.

Ein möglicher Fundort wenn nicht für nationale Küchentraditionen, so wenigstens für einzelne (möglicherweise typische?) Gerichte ist die belletristische Literatur. Bei Dostojewski, Bely, Sologub u.a. tauchen als typisch en passent Bliny, Piroggen, Kohlgerichte auf, also 2.Hälfte 19. &Anfang 20. Jh. für Russland

Sagen wir mal, wahrscheinlich typisch für Osteuropa, jedenfalls was diverse Formen von Kohlgerichten angeht, die durchaus auch in Polen und in die preußischen Ostprovinzen hinein ihre Entsprechung hatten.
 
Diese Erzählung ist vielleicht auch Teil einer Vermarktungsstrategie; Der Autor stilisiert sich damit als einsamer Held, der dem übermächtigen Mainstream trotzt.

Dieses Buch ist allerdings im größten Verlag Italiens erschienen!
Das sagt erstmal nicht viel, denn auch seine Behauptung könnte wahr sein, denn wer will schon einen "Nestbeschmutzer" unterstützen. Und als das wurde er bezeichnet, denn selbst jene, die nicht an seinen Feststellungen zweifeln, sagen: Du schadest damit deinem eigenen Land.

Das meiste Olivenöl („abgefüllt in Italien“) stammt eh aus Spanien und Tunesien...
Das ist bekannt. Griechenland exportiert Olivenöl über Italien schiffstankerweise nach Europa, ohne dass es auf der (italienischen) Flasche in der Deklaration auftaucht; wenn es da steht Öl aus EU und Drittländern, dann ist sicher Tunesien dabei. Aber da kann auch stehen, Öl aus Italien oder Öl aus der EU. Fest steht, dass Italien nicht genug Olivenbäume hat, um den Eigenverbrauch und die Exportmengen selbst zu erzeugen.

Grandi schreibt, dass gerade Olivenölverkauf in Italien unter 5 Familien seit mehr als 100 Jahren aufgeteilt ist: Sasso (seit 1860), Bertolli (1865), Carapelli (1893), Dante (1898) und Carli (1911). Die kauften am Anfang Öl direkt bei den Bauern aus ganz Italien und machen daraus eine Mischung mit mehr oder weniger gleichen Qualität, egal wie gut oder wie schlecht der Jahrgang in bestimmten Regionen war. Das war ein Erfolgsrezept, weil man im Laden dann einigermaßen sicher sein konnte, dass das Öl okay sein würde. Das im Unterschied zum lokalen Erzeuger, der das nicht bieten konnte. Aber Export im großen Stil war erst möglich, nachdem der Transport durch die Eisenbahnen billiger wurde.

Der arabische Einfluss ist in Italien sehr viel schwächer, als auf der iberischen Halbinsel.
Das gilt für Sizilien weniger – die letzte Reste der Araber auf Sizilien hat erst der Stauferkaiser Friedrich II. vernichtet bzw. nach Apulien umgesiedelt. Obwohl es ohnehin klar sein dürfte, dass es nicht den einen Ort gibt, wo Nudeln erfunden wurden, so gibt es doch dies – Zitat:

Im 12. Jahrhundert schrieb der Geograf Al-Idrisi, dass in der Nähe von Palermo auf Sizilien Fäden aus Weizen gekocht werden, die von Muslimen wie von Christen gleichermaßen gern gegessen werden. Ebenso berichtet er über einen umfangreichen Export dieser Itryah genannten Pasta in den gesamten Mittelmeerraum. Es handelt sich hier um das erste schriftliche Dokument, in dem von Pasta nach heutiger Definition die Rede ist.

Immerhin, seit 1793 werden in Erfurt Nudeln hergestellt.
Ja, allerdings heißt die Fabrik jetzt nicht mehr Erfurter Teigwaren GmbH, sondern Bon Pasta GmbH. :D

Und – Zitat: Die Firma spezialisierte sich auf die Großserienproduktion für Handel und Industrie und hat seit 2006 bewusst keine eigene Marke mehr.

Die Firma produziert Teigwaren unter Fantasienamen, die jedoch italienisch klingen uns so in die Läden kommen. Das hat den Vorteil, dass im Falle eines Lebensmittelskandals – z.B. eines Fehlers in der Produktion –, der eigene Name nicht beschädigt wird: Die ausgelieferten Produkte werden vom Markt genommen und es wird unter einem anderen Fantasienamen weiter produziert.

Und natürlich, wie @Sepiola geschrieben hat, wimmelt es da von Rückprojektionen, Fälschungen etc. Ulkig z.B. wie Dahn das weintrinken "nach alter Väter Sitte, unvermischt" den Goten (als Urdeutschen) zuschreibt (Kampf um Rom, Theoderichs Tod).
In diesem Zusammenhang meint Grandi, dass immer der Staat tonangebend war, der gerade wirtschaftlich und/oder gesellschaftlich ein Modell für andere darstellte.

Die Römer hatten Öl und Wein, die Barbaren im Norden (also über den Alpen) Speck und Bier. Daraus resultierte auch die jeweilige Küche und Essgewohnheiten. Dabei blieb es auch lange Zeit. Aber als sich im MIttelalter in Italien Städte bildeten, die mit Handel und Banken reich geworden sind (Genua, Pisa, Florenz, Venedig) und Häuser aus Stein bauten, sie mit Fresken schmückten, etc., wurden sie als kulturell hochstehend bewundert mit der Folge, dass alle so werden wollten wie sie.

Das dauerte ein paar Jahrhunderte, aber als die beiden Amerikas entdeckt wurden, wurden die Karten neu gemischt: Länder, die an den Atlantik grenzten, übernahmen das Kommando. Das waren Spanien und Portugal, aber auch Niederlande und Großbritannien. Zunächst machte Spanien das Rennen, aber weil es Fehler machte, übernahmen andere die Führung – zuletzt jedoch wurde Paris und damit Frankreich führend. Seit Ludwig XIV. wollten alle ein Schloss mit Garten haben, die ein wenig nach Versailles aussehen sollten, und Mode tragen, die dort Mode war, und selbstverständlich genauso fein essen wie dort.

Das war sicher durch die Tatsache begünstigt, dass sich Frankreich schon sehr früh als Nationalstaat verstand. Das erklärt auch, dass es diese Führung auch nach der Revolution nicht abgegeben hatte. Aber dass es sie bis heute halten konnte, obwohl inzwischen mächtigere Staaten entstanden sind, ist ein Rätsel, das wahrscheinlich schwer zu lösen sein wird.
 
Allerdings: Die italienische Küche hat halt immer Nahrungsmittel verwendet, die in Italien gut gedeihen; für die, die es sich leisten konnten, gab es Hartweizen, Oliven, Tomaten (ab 1700 oder so), Fisch aus dem Mittelmeer, Thymian, Oregano, Wein. Auch vor Erfindung der italienischen Küche dürfte dieser das, was in Italien gegessen wurde, ähnlicher gewesen sein, als was in Deutschland auf den Tisch kam.
 
Bei uns im Ort hat ein italienisches Restaurant eröffnet, das sich auf Pinsa spezialisiert hat und damit wirbt, dass die Pinsa bereits vor über 2000 Jahren auf dem Speiseplan der Römer gestanden habe.
wiki schreibt zur Pinsa:
"Die Pinsa geht auf eine Idee des italienischen Unternehmers Corrado Di Marco zurück, der 2001 den Markennamen Pinsa romana registrieren ließ. Bereits 1981 hat das von Di Marco geführte Unternehmen mit Sitz in Guidonia Montecelio nordöstlich von Rom den Teig vom Blech, der später als Pinsa bezeichnet wurde, erstmals in seine Produktpalette aufgenommen. Als Marketingstrategie wurde, wie Di Marco später zugab, ein nicht vorhandener historischer Bezug der Pinsa zum Alten Rom in Umlauf gebracht, um das Produkt besser zu verkaufen.

Dabei wurde mit dem Namen Pinsa eine Verbindung auf das Lateinische pinsere (deutsch zerdrücken oder zerquetschen) hergestellt. Zudem war bei der Namensentwicklung eine Ähnlichkeit mit den Begriffen Pizza und Pita erwünscht. Mit dem Erfolg des Produktes wurde auch die erfundene römische Vergangenheit der Pinsa ungeprüft von den Medien übernommen und verbreitet."
 
Auch vor Erfindung der italienischen Küche dürfte dieser das, was in Italien gegessen wurde, ähnlicher gewesen sein, als was in Deutschland auf den Tisch kam.
Das bezweifle ich, weil die „italienische Küche“ zwar ab den 1960er Jahren den Deutschen durch die Urlaube dort zwar teilweise – in Jesolo z.B. warben die italienische Restaurants auf den draußen aufgestellten Tafeln mit Schnitzel, Kraut und Würsten (genauso geschrieben) –, aber sie wurde hier erst heimisch mit den italienischen Gastarbeitern, weil auch sie, ähnlich wie die Deutschen in ihren Urlaubsorten, in Deutschland ihre Spaghetti etc. essen wollten.

Jedenfalls gab es zuvor hier in den Läden keine Zucchini, Auberginen, Artischocken, luftgetrockneten Schinken, Olivenöl, Mozzarella, Ricotta, Melonen, etc. um von der Vielzahl der Weine, die man heute überall bekommt, gar nicht zu reden.

Bei uns im Ort hat ein italienisches Restaurant eröffnet, das sich auf Pinsa spezialisiert hat und damit wirbt, dass die Pinsa bereits vor über 2000 Jahren auf dem Speiseplan der Römer gestanden habe.
Ja, Italiener verstehen was vom Verkauf. Siehe auch das mit dem Olivenöl: Obwohl auch Griechen und Spanier exzellente Öle haben, sieht man in den Läden fast nur „italienische“. Warum? Weil Italiener das Öl in einer Weise anbieten, die uns anspricht. Das hat mit den Namen der Produkte und dem Design der Flaschen und Etiketten, also mit dem äußeren Erscheinungsbild zu tun.

Ein Beispiel: Als ich in den 1990er Jahren noch in Schwabing wohnte, gab es nebenan ein griechisches Laden mit Produkten aus Griechenland. Da gab es auch Olivenöl in Literflaschen, aber sie waren griechisch beschriftet (mit einem kleinen Aufkleber in deutscher Sprache). Das wäre noch gegangen, aber sie waren äußerlich so ölig, dass ich sie nicht anfassen wollte. Auf die Frage, warum dem so ist, sagte die Verkäuferin: Sie kamen so an. Und in der Tat: Alle Flaschen waren ölig, inkl. der Etiketten. Offenbar arbeitete deren Abfüllmaschine nicht sauber. Dann verstehe ich auch, dass sie ihr Öl lieber per Tankschif an die Italiener liefern und haben keine weitere Arbeit damit.
 
Auffällig ist jedenfalls, dass die italienische Küche ganz anders vermarktet wird als die "griechische". Griechische Spezialitäten werden in Deutschland nicht als gesunde Alternative vermarktet, sondern als das genaue Gegenteil. Der Fokus der "griechischen Küche" deutscher Art liegt auf riesigen Fleischbergen, häufig auch mit Pommes Frites als Beilage. Danach gibt es dann auch noch Ouzo.
Die Unterschiede zwischen der traditionellen griechischen und süditalienischen Küche sind aber gar nicht so groß. Die Aufmachung ist nur eine völlig andere.
 
...Ja, Italiener verstehen was vom Verkauf. Siehe auch das mit dem Olivenöl: Obwohl auch Griechen und Spanier exzellente Öle haben, sieht man in den Läden fast nur „italienische“. Warum? Weil Italiener das Öl in einer Weise anbieten, die uns anspricht.

Das trifft genauso auf den Kaffee zu. Seit einer riesigen Werbekampagne in den 90-er und 2000-ern trinken alle ihren Kaffee "herrlich italienisch". Mir ist immer noch ein gebrühter lieber....
 
aber sie wurde hier erst heimisch mit den italienischen Gastarbeitern, weil auch sie, ähnlich wie die Deutschen in ihren Urlaubsorten, in Deutschland ihre Spaghetti etc. essen wollten.
@Dion die jugoslawischen (Cevapcici &Co.) Gasthäuser und - deutlich weniger - die spanischen (Paella &Co.) waren die ersten solchen in der damaligen BRD, ihnen folgte dann eine Flut von Pizzerien. Die span. verschwanden rasch, die jugoslaw. wurden immer weniger, bis sie auch nahezu verschwunden waren in den 90ern. Alle drei hatten sich im Gefolge der Gastarbeiter in den 60er-70er Jahren etabliert. Nur die Pizzerien hatten sich gehalten.
Ob das, was man "beim Italiener" in den 70er Jahren bekam echte italienische Küche war, kann ich nicht beurteilen, ich erinnere mich aus der Schulzeit nur an Pizza, Lasagne und Tintenfischringe; beim "Jugo" Cevapcici, Duvecreis, Rasnici. Wann sich in Sachen Gasthäuser "der Grieche" etabliert hatte, weiß ich nicht mehr - ich meine, in den 80ern hatte es schon viele griechische Restaurants (Ortef, Suvlaki, ein Ouzo aufs Haus beim bezahlen) wobei diese auch weniger geworden sind.

Je nach Urlaubsgegend: was es "daheim" beim Griechen gab, das konnte ich auch in Athen, Korinth etc essen; dasselbe in Florenz, in Belgrad, Costa del Sol usw. Aber gut möglich, dass diese als typisch angepriesenen Küchen überwiegend mit dem Massentourismus "erfunden" wurden.

Wo du es erwähnst: deine Beobachtung, welche Gemüsesorten bei uns erst peu a peu "normal" wurden (Zucchini, Aubergine, neuerdings Butternut usw) kann ich bestätigen.

Ab wann es Mode wurde bei uns, zum "Chinesen" Pekingente essen zu gehen, weiß ich nicht. Aber ich weiß von meinen chinesischen Studenten und Kollegen, dass unsere Chinarestaurants fast nichts mit chinesischen Gepflogenheiten zu tun haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Meine Vermutung:
- Grundsteinlegung bzw Erfindung der "Nationalküchen" im 19. Jh.
- Ein weiterer Schub infolge Massentourismus und Mobilität
 
Wann sich in Sachen Gasthäuser "der Grieche" etabliert hatte, weiß ich nicht mehr - ich meine, in den 80ern hatte es schon viele griechische Restaurants (Ortef, Suvlaki, ein Ouzo aufs Haus beim bezahlen) wobei diese auch weniger geworden sind.

Das war auch im Zuge des Gastarbeiter-Zuzugs. Verstärkt etwa um Stuttgart, viele arbeiteten zB bei Mercedes, da ist heute noch die Dichte an griechischen Restaurants deutlich höher.
 
Die Erfindung der "kulinarischen Tradition", der "Nationalküchen" samt allem, was ihnen zugeschrieben wird - abseits von mal nachschauen, seit wann es Pizza gibt, hatte ich das kaum je auf dem Schirm, d.h. mir erschien es als selbstverständlich, dass es ungefähr "traditionelle nationale Küche" gibt (russ., poln., span., franz., ital. etc Küchen/Gerichte) und dass mir nebenbei über den Weg lief, wie es um Pizza, Döner, Paella bestellt ist, hatte bei mir daran nicht viel geändert. Spaßeshalber in diesem Kontext sei der Faden über die britische Küche erwähnt, die mir stets sehr zusagte :)

Dort hatte ich im Zusammenhang mit dem "Filet Wellington" ein unterhaltsames Büchlein genannt:
Petra Foede, Wie Bismarck auf den Hering kam. Kulinarische Legenden, Zürich 2009
Die italienische Küche ist hier mit Panettone, Pizza, Spaghetti carbonara und Zabaione vertreten.

Die Spaghetti carbonara ist z.B. eine Erfindung von 1944, als ein Koch für amerikanische Soldaten kochte, weil diese Speck, Sahne, Käse und Eigelb in Pulverform hatten.
Bei Foede wird die Jahreszahl 1944/45 noch als Vermutung bezeichnet. Grob dürfte sie stimmen, da das Gericht erst ab den 1950er Jahren nachweisbar ist und jedenfalls in dem um 1930 erschienenen Kochbuch La cucina romana noch nicht zu finden ist.
Nun denn, dann werden eben ausgehend von dieser Jahreszahl weitere Legenden gesponnen. Die Website eines Hotels in Riccione weiß inzwischen haarklein zu berichten, dass das Gericht in Riccione erfunden wurde, und zwar am 22. September 1944 von dem Bologneser Koch Renato Gualandi.

Zum Zabaione nennt Foede zwei ätiologische Legenden, von denen die eine behauptet, Namengeber sei der Hauptmann Giovanni Baglione (im Dialekt 'Zvàn Bajòun' genannt) gewesen. Die andere, noch hübschere, weiß von dem heiligen Franziskanerbruder Pasquale Baylon zu berichten, der im Volksmund 'San Bayon' genannt worden sei. Diese Geschichte hat den Schönheitsfehler, dass der Spanier Pascual Baylón erst 1690 heiliggesprochen wurde, das Rezept für eine ginestrata over zambaglione con rossi d'uove fresche aber bereits 1570 im Druck veröffentlicht wurde:
'Opera di Bartolomeo Scappi' - Digitalisat | MDZ

Das Zabaione-Kapitel beginnt und schließt mit den Sätzen:

Es ist nicht ganz unpassend, ein Buch über kulinarische Irrtümer, Legenden und Lügen mit einem Kapitel über Schaumschlägerei abzuschließen, denn genau darum geht es hier.
[...]
Es ist halt wie so oft mit diesen Geschichten: Viel heiße Luft, nochmal gehörig aufgeschäumt und sonst nichts dahinter.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zurück
Oben