Die Konstituante 1917/1918

Shinigami

Aktives Mitglied
Mir ist, nachdem ich mittlerweile einige Werke über das ausgehende Zarenreich, die "Oktoberrevolution" und die frühe Sowjetunion immer wieder aufgefallen, dass bei der Bewertung des Umsturzes durch die Bolschewiki das Faktum der konstituierenden Versammlung und ihre Abkanzelung durch Lenin und Konsorten, desöfteren als ein mehr oder minder wegweisendes Ereignis dargestellt.
Dabei wird dann gerne die Perspektive der Entwicklung eines demokratischen Russlands gegenüber den Verlauf der tatsächlichen Geschichte kontrastiert oder wenigstens angedeutet.


Ich möchte der Vorstellung dieser Perspektive auch gar nicht grundsätzlich widersprechen oder das staatssreichartige Vorgehen der Bolschewiki irgendwie marginalisieren oder legitimieren, um hier von vorn herein nicht falsch verstanden zu werden.


Allerdings, frage ich mich schon, ob die Rezeption der konstituierenden Versammlung an und für sich, da nicht ein wenig sehr übertrieben positiv im Hinblick auf demokratische Perspektiven ist, unabhägig von den sonstigen Entwicklungen.
Dabei möchte ich natürlich nicht den fiktiven Übergang zu einer modernen Demokratie im heutigen Sinne, (mit Frauenwahlrecht und allem drum und dran) zum Maßstab erheben, das wäre sicherlich überzogen.
Ein für mich dabei maßgebendes Problem ist dabei die Frage, inwiefern diese Konstituante tatsächlich als legitimes Werkzeug betrachtet werden kann, im damaligen Sinne die Plattform für die Bildung des authentischen Willens der Bevölkerungen Russlands darzustellen.

Mein Hauptproblem dabei ist, dass sie unter Kriegesbedingungen stattfand, die es der Bevölkerung Russisch-Polens, Litauens, Kurlands und von Randgebieten Livlands, der Ukraine und Weißrusslands durch das Faktum der Besetzung dieser Territorien durch die Zentralmächte, offensichtlich nicht so ohne weiteres möglich war, entsprechend der jeweiligen Proportionen an der Gesamtbevölkerung Deputierte zur Wahrnehmung ihrer Interessen zu wählen und nach Petrograd zu entsenden.
Gleichzeitig hielt ja die provisorische Regierung Kerenskij eisern an dem Prinzip fest, in keinem Fall einen Frieden auf der Basis von Gebietsabtretungen schließen zu wollen.

Das bringt für mich, was die Bewertung der Konstituante als wichtigen Schritt zu einer greifbar nahen Demokratisierung Russlands angeht, so ein wenig das Problem mit sich, dass auf diese Weise ein durchaus ansehnlicher Teil der nationalen Minderheiten innerhalb des Staatsverbandes, de facto an der Mitgestaltung der angestrebten, künftigen verfassungsmäßigen Realität gehindert wurde, während die amtierende provisorische Regierung Gebietesabtretungen nicht in Betracht zog.
Wäre das "Projekt Konstituante" also zu einem erfolgreichen Abschluss gelangt, hätte das bedeutet, dass die nationalen Minderheiten in den westlichen Provinzen sich dann einer verfasungstechnischen Realität hätten beugen müssen (da ein Ablehnen von Gebietsabtretungen ja auch die Unabhängigkeit ausschließt), die in ihrer Abwesenheit von einer konstituierenden Versammlung ausgehandelt wurde, in der kriegsbedingt die russische Bevölkerung des Reiches deutlich stärker vertreten gewesen wäre, als es ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sonst hergegeben hätte, mit der entsprechenden Möglichkeit eigene, zentralistischere Interessen wesentlich effektiver in die verfassungsmäßige Realität einzubringen, als das ansonsten der Fall gewesen wäre.

Wie es im Rahmen der konstituierenden Versammlung en detail um die Vertretung der Minderheiten aus Sibirien, Turkistan und dem fernen Osten stand, ist mir nicht im Detail klar, demgegenüber durchaus, dass die Ukraine, so weit nicht besetzt und die kaukasischen Territorien durchaus (mitunter auch wirkmächtig) vertreten waren, wenn auch nicht als ethnisch organisierte Gruppe, sondern im Rahmen der verschiedenen Parteiungen.

An der Stelle möchte ich auch nochmal deutlich betonen, dass das, was ich hier bezwecke, Kritik an der Konstituante per se, ihres Abhaltens während des Krieges, inklusive der Besatzung zu üben oder unterstellen möchte dass man dies absichtlich so gehalten hätte um die entsprechenden nationalen Minderheiten in dieser Hinsicht zu diskriminieren.
Durch die Lasten des Krieges und dessen Fortstezung war die provisorische Regierung natürlich bereits schaon aus Grünen der eigenen Glaubwürdigkeit und Legitimation dazu gezwungen Schritte zu unternehmen, die in Richtung der Setzung einer Verfassung und von Reformen zielte um nicht jeden Kredit in der Bevölkerung zu verspielen.

Mein Ansatzpunkt bezieht sich also nicht auf Kritik an den Ereignissen an und für sich, sondern auf deren Rezeption, weil ich mich schon durchaus frage, ob man das so ohne weiteres als einen weiten Schritt in Richtung Demokratisierung betrachten kann, wie das meinem Eindruck nach häufig getan wird.
Natürlich war es ein Schritt in Richtung Pralamentarisierung.

Eine tatsächlich demokratischer Akt, wäre diese Verfassungsgebende Versammlung nach meinem Dafürhalten aber nur dann gewesen, wenn man sie entweder erst einberufen hätte, nachdem der Krieg vorbei war und wirklich auch alle Landesteile durch die Wahl von Deputierten an der Willensbildung mitwirken konnten oder aber, wenn man von vorn herein den Geltungsbereich dieser Verfassung auf die nicht zum Zeitpunkt der Wahl zur konstituierenden Versammlung nicht besetzten Teile des Landes bechränkt und den besetzten Teilen des Landes später freigestellt hätte, der in ihrer Abwesenheit aussgehandelten Verfassung entweder freiwillig beizutreten oder dem russischen Staat künftig nicht mehr anzugehören.
Beide Varianten sind unrealistisch, weil sie die provisorische Regierung um jeden Kredit bei der Bevöklerung gebracht hätten und weil daraus logisch kaum kontrollierbare Folgeprobleme hervorgegangen wären.


Dennoch bleibt für mich festzuhalten, dass diese Konstituierende Versammlung, unabhängig ihrer Kujonierung durch die Bolschewiki und deren Absichten, für mich, im Hinblick auf die Frage zum Übergang zu einer wirklichen Demokratie da einen ganz gravirenden Schönheitsfehler ausfweist.
Weswegen ich dann auch der Meinung bin, dass eine Umgestaltung Russlands zu einer bürgerlichen Demokratie nach westlichem Vorbild, gegebenenfalls perspektivisch durchaus möglich gewesen wäre, man allerdings durch diese Form der Konstituante, wäre sie zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen, wahrscheinlich noch einen langen Weg sehr zählebiger innterer Kämpfe mit zweifelhaftem Ausgang hätte durchmachen müssen.


An der Stelle würde mich sehr interessieren, wie ihr die konstituierende Versammlung in Russland und ihre Rezeption bewerten würdet.
 
Für mich ist das eine Fragestellung, die an der damaligen Realität vorbei geht. Im Prinzip folge ich da Hobsbawn, der richtigerweise betont, dass die Bereitschaft der ex- zaristischen Bürokratie zur Kooperation mit den Bolschewiki in der gemeinsamen Idee des "Imperium", sprich der Einheit des bisherigen Reichs, fundiert war.

An diesem Punkt wurde die Revolution zur einer politischen Kraft, da sie die Exekutive auf ihre Seite gezogen und von den Zentren aus agieren konnten. Politisch, administrativ und auch militärisch.

Die Gewährleistung des Imperiums war für viele "bürgerliche Spezialisten" die einigende Idee mit den Bolschewiken, die sie als die primäre politische Kraft ansahen, die zentrifugalen Kräfte zu beherrschen.

Zusätzlich ist sicherlich zu beachten, dass die Bolschewiken die Revolution auf dem Land nicht initiiert haben, sondern die Veränderungen in die Programmatik aufnahmen.
 
Die Fragestellung nach dem demokratischen Potential des Konstituante (5.1.1918) wirft ähnlich Protasov in seinem Beitrag auf und fragt, ob sie eine Möglichkeit gewesen wäre, den Schrecken des Stalinismus zu verhindern und das "Kommunistische Experiment" zu umgehen. Allerdings: "The only certainty is that the Russian legislative assembly did not, in an of itself, provide guarentees for a democratic path of development." (Protasov, S. 245)

Die Zeit im Winter 1917/18 bis Ende 1918 war durch eine rasche Veränderung des politischen Momentums gekennzeichnet. Aus den November-Wahlen zur Konstituante erhielten die Bolschewiken 24 %, die SR 38 % und die Kadetten 13 %. (Smith, S. 29). "By October support for the Bolsheviks was overwhelming in the large industrial center.....It was in the vast rural areas that Bolshevik forces remain weak.(Smith, S. 29)

Zusätzlich ist zu betonen, dass bei den November-Wahlen zur Konstituante ca. 4/5 eine linke bzw. sozialistische Partei gewählt haben und sich darin der Wunsch nach deutlichen Reformen manifestierte, allerdings die moderaten - agrarisch geprägten - Sozialrevolutionäre (SR) - die Mehrheit der Delegierten stellten.

Vor diesem Hintergrund wurde die Konstituante von Lordkipanidse (Verkehrminister der Georgischen Republik) eröffnet (Hellmann, S. 339-340). Diesem Anspruch widersprach Swerdlow im Namen des Zentralvollzugskommitee der Räte der Arbeiter- und Bauerndeputierten und beanspruchte in ihrem Namen die Sitzung zu eröffnen.

In der folgenden Kampfabstimmung wurde der Sozialrevolutionär Tschernow mit 244 Stimmen gegen 151 Stimmen für die von Swerdlow vorgeschlagene Maria Spiridonowa gewählt.

Die Auflösung der Konstituante machte er auch die politische Situation im revolutionären Russland deutlich. So zitiert Kotkin (in Magnetic Mountain) Oliver Radkey, der auf folgendes hinwies. Die Soldaten der Petrograder Garnison boten dem SR Zentralkommittee an, die Sitzungen der Konstituante zu schützen, die abgelehnt wurden und so wurde sie durch die "hands of a small number of Red Guards" aufgelöst (vgl. FN 57) Diese Episode, in Kombination mit der Revolte der Tschechischen Legion, die der SR in Samara ihre Unterstützung bei der Durchsetzung einer Regierungsbildung anbot, zeigt die Schwierigkeiten der Partei effektiv machtpolitisch in der damaligen Situation zu handeln.

Die Begründung für die Beendigung der Konstituante wurde von Lenin formuliert (Daniels, 180-182), indem er die Konstituante als Vertreter der Gruppen darstellt, also primär der landbesitzenden Klassen, gegen die sich die Revolution eigentlich gewendet hatte. Diese Kritik traf vor allem die "Kadetten".

Da Lenin bewußt war, dass eine isolierte nationale Revolution in Russland gegen die zentralen Prämissen der Weltrevolution verstieß, mußte er auch jeden Prozess einer nationalstaatlichen Ausprägung ablehnen.

Mit der Schließung der Konstituante, so Smith (2002), machten die Bolschewiken deutlich, "that they were ready to wage war in defence of their regime not only against the exploiting classes, but against the socialist camp. The dissolution doomed the chances of democracy in Russia for 70 years;"


Verwendete Literatur und zusätzliche relevante Bücher
Daniels, Robert V. (1972): The Russian Revolution. Englewood Cliffs, N.J.: Spectrum Prentice Hall
Fitzpatrick, Sheila (2001): Russian Revolution: Oxford, Oxford University Press.
Hellmann, Manfred (Hg.) (1964): Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki. München: Deutscher Taschenbuch Verlag
Hildermeier, Manfred (1989): Die Russische Revolution. 1905-1921. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Kowalski, Ronald (1997): The Russian revolution 1917-1921. London, New York: Routledge
Protasov, Lev Grigorèvich (2004): The All-Russian Constituent Assembly and the democrativ alternative. In: Rex A. Wade (Hg.): Revolutionary Russia. New approaches. New York: Routledge (Rewriting histories), S. 243–266.
Rabinowitch, Alexander (1991): Prelude to Revolution. The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 uprising. 1. Midland book ed. Bloomington u.a.: Indiana Univ. Press
Rabinowitch, Alexander (2008): The Bolsheviks in power. The first year of Soviet rule in Petrograd. 1. Aufl. Bloomington, Indianapolis: Indiana Univ. Press.
Rabinowitch, Alexander (2017): The Bolsheviks Come to Power . The Revolution of 1917 in Petrograd. London: Pluto Press.
Smith, Steve A. (2002): The Russian Revolution. A very short introduction. Oxford, New York: Oxford University Press
Smith, Steve A. (2004): Petrograd in 1917: the view from below. In: Rex A. Wade (Hg.): Revolutionary Russia. New approaches. New York: Routledge , S. 13–32.
 
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Der Juli-Umsturz 1917 war schief gegangen, die Hälfte der Anführer der Bolschewiki musste fliehen, die andere Hälfte landete in Haft und wäre sehr wahrscheinlich dort verschimmelt, wäre Kronilow nicht auf 'St. Petersburg' marschiert und die Regierung Kerenskij hätte sich nicht angesichts dessen zu der Fehlannahme hinreißen lassen, dass sie die Bolschewiki brauchte, mit dder Konsequenz, dass man sie freiließ, amnestierte und bewaffnete oder sich zumindest bewaffnen ließ.

Antony Bevoor – Russia, Revolution and Civil War *
nennt das die „Kornilov Krise“. Diese habe im wesentlichen auf einem Missverständnis beruht welches auch einer sehr unsicheren Kommunikation geschuldet war. So wie einem dubiosen Pendeldiplomaten zwischen Kerensky und Kornilov.
Das ganze findet vor dem Hintergrund unbeherrschter Gewalt und Anarchie statt. Plünderung, Raub, Mord, Brandstiftung.

Das war vielleicht schon der Todesstoß für die Konstituante, der Verfassungsgebenden Versammlung der es doch so dringend bedurfte um den Rahmen einer friedlichen Ordnung zu schaffen.
Mit dem Bürgerkrieg war die Konstituante tot.
Zwar gab es noch die „komuch“ unter Kappel die in ihrem Namen kämpfte, doch überwogen die radikalen Pole in einem unfassbar grausamen Krieg Vieler gegen Viele.



* gibt es auch in deutscher Übersetzung
 
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