Zwei Fragen bezüglich des Nationalsozialismus

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Pacificus93

Gast
Hallo,

Ich beschäftige mich momentan mit der Theorie „Extremismus der Mitte“. Im gleichnamige Artikel von Wikipedia wird ein gewisser Jürgen W. Falter erwähnt der1991 angeblich mit elaborierten statistischen Methoden zu dem Ergebnis kam, dass die Wählerschaft der NSDAP nur zu etwa 40 % der Mittelschicht zuzuordnen sei, ebenso viel hätten aber der Arbeiterschicht angehört.

Meine Frage dazu ist folgende: Gibt es Quellen die diese Angaben belegen?

Meine zweite Frage bezüglich des NS bezieht sich auf deren Sozialpolitik. Gab es während der Zeit von 33-39 Ansätze einer sozialistische Sozialpolitik? Gab es im dritten Reich Arbeitslosengeld, Rente usw und konnte man davon besser leben als noch in der Weimarer Republik?

Oder um es ganz konkret zu machen. Inwiefern haben Proletariat und Bürgertum davon profitiert gemeinsam die Nationalsozialisten an die Macht zu bringen falls die oben genannten Zahlen stimmen sollten.

Mit freundlichen Grüßen
Pacificus93
 
Jürgen W. Falter ist mit seinem Buch Hitlers Wähler (München 1991) bekannt geworden, mittlerweile hat er er neu aufgelegt: Hitlers Wähler. Die Anhänger der NSDAP 1924–1933 (Frankfurt/New York 2020)
Einen Artikel von 1993 in einer Sondernummer der Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft kannst du bei Jstor kostenfrei lesen, du benötigst dafür entweder einen Universitäts-Account und ein VPN-Netzwerk oder eine Jstor-Mitgliedschaft. Wähler und Mitglieder der NSDAP. Neue Forschungsergebnisse zur Soziographie des Nationalsozialismus 1925 bis 1933 on JSTOR
 
Hallo,

Oder um es ganz konkret zu machen. Inwiefern haben Proletariat und Bürgertum davon profitiert gemeinsam die Nationalsozialisten an die Macht zu bringen falls die oben genannten Zahlen stimmen sollten.

Mit freundlichen Grüßen
Pacificus93

Nicht ganz so schnell ... die Frage ist zunächst mal, inwiefern HOFFTEN Proletariat und Bürgertum von den Nationalsozialisten profitieren zu können?

Schau Dir mal nur den Namen der Partei an ... National und deutsch ... sozialistisch und Arbeiter ...
Ein Blick ins Parteiprogramm zeigt dann auch sehr schnell, dass tatsächlich für alle Gruppen was drin war (von der Verstaatlichung bestimmter Betriebe bis zur Sondergesetzgebung für "Fremde" (also Nicht-Deutsche)).

Götz Aly hat in seinem Buch Hitlers Volksstaat ja gezeigt, dass die Nationalsozialisten große Anziehungskraft gerade auf die sozial schwächeren Schichten ausübten (auch, weil sie eine neue Bewegung waren, in der man auch noch aufsteigen konnte) und gerade in der SA viele (arbeitslose) Arbeiter zu finden waren.


Das sollte aber nicht überraschen, wenn man die Situation in der Zeit betrachtet: Weltwirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenversicherung bricht zusammen, die traditionellen Regierungsparteien scheinen keine Lösung zu finden, werden von Vielen auch noch für Versailler Vertrag, Reparationen und nun die Krise verantwortlich gemacht.

Wer nun tatsächlich profitiert hat ... naja ... Als Hitler zum Kanzler ernannt wurde, war seine Ansicht, dass die "Revolution" nun in eine "Evolution" über gehen müsse (Juli 1933), dass bestimmte radikale Versprechen des Parteiprogramms nicht umgesetzt werden sollten (er sah ja auch, dass er eine funktionierende Wirtschaft für den geplanten Krieg brauchen würde).
Die Auflösung der Gewerkschaften (März 1933) zeigte davor auch schon, dass es mit den Versprechungen an die Arbeiter nicht so ernst gemeint war ...
Ernst Röhm, der Anführer von Hitlers Truppe für's Grobe (SA), in der sich eben viele Arbeiter / Arbeitslose befanden, wollte dagegen weiter "Revolution" - und die Reichswehr in die SA eingliedern (unter seiner Führung). Das wollte die Reichswehr aber nicht.
Hitler musste sich also nun entscheiden: (sozialistische) "Revolution" oder (bürgerliche) Evolution? SA oder Reichswehr?
Hitler entschied sich gegen seinen Vertrauten Röhm, gegen die eigene (Schläger)Truppe (siehe sog. "Röhm-Putsch" im Juni 1934).

Aber ja, es gab eine NS-Sozialpolitik für DEUTSCHE (und als Deutscher war definiert, wer deutschen Blutes war ... ein Jude konnte das nicht sein, ebenso wenig jemand, dessen Eltern nach Deutschland eingewandert waren und der in Deutschland geboren war).
Andererseits: nein, der Lebensstandard der Weimarer Republik vor der Wirtschaftskrise wurde insgesamt nicht wieder erreicht, manche "positiven" Zahlen der Statistiken wurden verfälscht oder geschönt.
Arbeitslosigkeit: Ja, innerhalb von wenigen Jahren gab es fast keine Arbeitslosen mehr. Nur ... wie wurde das erreicht? Z.B.:
a) Zahlreiche Bauprojekte (Problem der Finanzierung ... siehe unten)
b) Einführung der Wehrpflicht / Rüstung (Bruch bestehender Verträge)
c) bestimmte Bevölkerungsgruppen wurden aus dem Berufsleben verdrängt (Juden und Frauen), aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen
d) die Wirtschaftskrise war schon am Abklingen, es gab also eine erste natürliche Erholung
e) "Erste Pflicht des Staatsbürgers ist die körperliche oder geistige Arbeit" (steht im Parteiprogramm der Nationalsozialisten). Nur wer seine Pflichten erfüllt, ist ein vollwertiger Staatsbürger und hat auch alle Rechte. Wer seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nicht erfüllt, gilt als "asozial". Asoziale wiederum waren eine Kategorie in den seit März 1933 aufgebauten Konzentrationslagern ... (wer aus irgend welchen Gründen verhaftet wird, braucht eben auch keine Arbeit).
Finanzierung: Bauprojekte, Sozialpolitik und Aufrüstung kosteten Geld. Die Finanzierung erfolgte
- durch Enteignung z.B. der Juden (die Sozialleistungen an Deutsche basierten also z.T. auf Enteignung der Juden - für Götz Aly ein Grund, warum so viele Deutsche bei der Entrechtung der Juden mitmachten bzw. keinen Widerstand leisteten: sie profitierten davon (auch Stichwort "Arisierung"). Aly nennt den Holocaust deshalb auch den "größten Massenraubmord der Geschichte".)
- Schulden (das Deutsche Reich war bei Kriegsbeginn mehr oder weniger pleite, der Reichsbankchef wurde entlassen, weil er diese Politik kritisierte, 1938 schaffte man nur noch, weil den Juden wegen der Pogromnacht auch noch eine "Sühnemilliarde" aufgebrummt wurde. Es gibt Historiker, die soweit gehen, dass das Dt. Reich 1939 den Krieg beginnen musste - unabhängig davon, dass Hitler ihn ja schon 1938 eigentlich wollte). Durch Beute aus dem Krieg hoffte man, aus der Schuldenproblematik raus zu kommen.
- Neudruck von Geld ... das würde aber nun zu einer Inflation führen ... die wurde dadurch verhindert, dass man die Preise fest setzte (ohne diese Maßnahme wären die Preise bis kurz vor Kriegsbeginn fast doppelt so hoch gewesen, wie bei der Machtübernahme der Nazis).

Für den einzelnen Arbeiter ergab sich das Bild:
- keine richtige Interessenvertretung durch unabhängige Gewerkschaften mehr
- längere Arbeitszeiten
- niedrigere Löhne
- Geld weniger wert
dafür aber einige staatliche Sozialleistungen (Finanzierung siehe oben).

Das war jetzt ein ganz grober Überblick, der sicher in einigen Punkten ausführlicher diskutiert werden könnte ...
 
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