Götz Aly "Es gibt nichts, das deckungsgleich mit dem Holocaust wäre"

Maglor

Aktives Mitglied
Der Historiker Götz Aly betont im Interview mit www.deutschlandfunkkultur.de die "Singularität" des Holocausts und möchte ihn von ähnlich gearteten Kolonialverbrechen unterscheiden.
Ein wichtiger Unterschied sei, dass die Verbrechen in Afrika seien Strafexpeditionen gewesen seien, während die Nazis die Ausrottung der Juden einfach so ohne konkreten Anlass beschlossen hätten.

Götz Aly schrieb:
Es gab eigene Verbrechen, die in der Zeit des Kolonialismus stattgefunden haben. Die Deutschen haben auch von anderen Kolonialmächten gelernt. Aber es hat keine flächendeckende Ermordung von ganzen Bevölkerungen gegeben, die sozusagen anlasslos war. Juden sollten als Juden, weil sie Juden waren, ausgerottet werden.

In Afrika und bei verschiedenen Strafexpeditionen ging es immerhin darum, Gegenwehr niederzuschlagen. Das ist eine andere Situation. Niemals ist daran gedacht worden, ganze Bevölkerungen einfach nur deswegen auszulöschen, weil sie einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Religion oder Ethnie angehörten.

Kann man den Holocaust wirklich so leicht von einer "Strafexpedition" unterscheiden?
In der Nazi-Propaganda wird nämlich sehr wohl ein Anlass genannt, auch wenn der Anlass aus heutiger Sicht nur als Vorwand gelten kann.

Anlass der Progrome im November 1938 war z.B. das Attentat auf den Diplomaten Ernst von Rath in der Deutschen Botschaft in Paris.

Immer wieder benutzten die Nazis sogar das Wort "Strafexpedition" in ihrer Proaganda.
Der Stürmer im Mai 1939: "Es muß eine Strafexpedition über die Juden in Rußland kommen. Eine Strafexpedition, die ihnen dasselbe Ende bereitet, wie es jeder Mörder und Verbrecher zu erwarten hat. Das Todesurteil, die Hinrichtung! Die Juden in Rußland müssen getötet werden. Sie müssen ausgerottet werden mit Stumpf und Stiel."

In der Reichstagsrede Hitlers vom 30. Januar 1939 erklärte Hitler: "Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann würde das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." Hitlers Propaganda erklärt es also so, dass "die Juden" den Weltkrieg anfangen und deswegen vernichtet werden müssen - quasi als Akt der Verteidigung bzw. als Strafe.

Als die Einsatzgruppen nach dem Angriff auf die Sowjet-Union tausende jüdische Zivilisten ermordeten, hieß ihr Auftrag Bekämpfung der "Reichsfeinde" und "Partisanen", quasi nichts anderes als eine Strafexpedition. Dass es sich nur um vermeintliche Partisanen handelte, ist mir schon klar. Die Fiktion der Propaganda, dass alle Juden "Reichsfeinde" und "Partisanen" seien, wird der Massenmord zum Teil einer "Strafexpedition".
 
Zuletzt bearbeitet:
Zunächst einmal sollte man danach unterscheiden, ob
1. einerseits Täter von Strafexpeditionen etc. schwafeln oder propagandistisch dies vortäuschen oder
2. andererseits Historiker unter Wertung Täterhandlungen als reaktiv und auf Niederschlagung von Gegenwehr ausgerichtet (u.U. als damit verbundene Kriegsverbrechen, andere Verbrechen etc.) beurteilen.

Bereits bei den SS/SD/Polizei-Einsatzgruppen dürfte wohl vorauszusetzen sein, dass kein Historiker deren Handlungen als Niederschlagung/reaktiv bewertetet. Das war anlassloser, gerade nicht-reaktiv staatlich angeordneter Massenmord, und hatte mit "Partisanenkrieg" gerade 1941 rein gar nichts zu tun.
 
Der Historiker Götz Aly betont im Interview mit www.deutschlandfunkkultur.de die "Singularität" des Holocausts und möchte ihn von ähnlich gearteten Kolonialverbrechen unterscheiden.
Ein wichtiger Unterschied sei, dass die Verbrechen in Afrika seien Strafexpeditionen gewesen seien, während die Nazis die Ausrottung der Juden einfach so ohne konkreten Anlass beschlossen hätten.



Kann man den Holocaust wirklich so leicht von einer "Strafexpedition" unterscheiden?
In der Nazi-Propaganda wird nämlich sehr wohl ein Anlass genannt, auch wenn der Anlass aus heutiger Sicht nur als Vorwand gelten kann.

Anlass der Progrome im November 1938 war z.B. das Attentat auf den Diplomaten Ernst von Rath in der Deutschen Botschaft in Paris.

Immer wieder benutzten die Nazis sogar das Wort "Strafexpedition" in ihrer Proaganda.
Der Stürmer im Mai 1939: "Es muß eine Strafexpedition über die Juden in Rußland kommen. Eine Strafexpedition, die ihnen dasselbe Ende bereitet, wie es jeder Mörder und Verbrecher zu erwarten hat. Das Todesurteil, die Hinrichtung! Die Juden in Rußland müssen getötet werden. Sie müssen ausgerottet werden mit Stumpf und Stiel."

In der Reichstagsrede Hitlers vom 30. Januar 1939 erklärte Hitler: "Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann würde das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." Hitlers Propaganda erklärt es also so, dass "die Juden" den Weltkrieg anfangen und deswegen vernichtet werden müssen - quasi als Akt der Verteidigung bzw. als Strafe.

Als die Einsatzgruppen nach dem Angriff auf die Sowjet-Union tausende jüdische Zivilisten ermordeten, hieß ihr Auftrag Bekämpfung der "Reichsfeinde" und "Partisanen", quasi nichts anderes als eine Strafexpedition. Dass es sich nur um vermeintliche Partisanen handelte, ist mir schon klar. Die Fiktion der Propaganda, dass alle Juden "Reichsfeinde" und "Partisanen" seien, wird der Massenmord zum Teil einer "Strafexpedition".

So hat man es den "Tötungsarbeitern" und Spezialisten verkauft. Gleichzeitig aber hat man das "Judenproblem" aber auch relativ früh sozusagen epidemisch interpretiert, da war die Rede von einem Virus, einem Bazillus, der auszumerzen war, Juden wurden mit Ratten und Läusen verglichen. Robert Ley sagte in einer Rede: "Warum es Juden, Bakterien, Läuse und Flöhe gibt- ich weiß es nicht! Juda muss vernichtet werden, das ist unser heiliger Glaube." Hitler sah sich offenbar als eine Art Robert Koch der Politik und rühmte sich noch in seinem politischen Testament der Judenvernichtung.

Viele Mitglieder der Einsatzgruppen wurden systematisch aufgehetzt, bevor sie zum Einsatz kamen. Trotz aller Hetze, aller Propaganda dass die Judenvernichtung, die massenhaften Erschießungen zunächst von Männern, bald aber auch von Frauen, Kindern und Alten war offenkundig, dass es sich nicht um Strafexpeditionen handelte, die noch im weitesten Sinn etwas mit Kriegsanstrengungen zu tun hatten. Es gab eine Reihe von Tätern, die damit nicht fertigwurden. Es gab Selbstmorde, Nervenzusammenbrüche, Krankmeldungen, Gesuche um Versetzungen an die Front. Selbst wenn man Verschwörungstheorien teilte, dass es eine jüdische Weltverschwörung gab. Selbst wenn man Juden für Partisanen und "Volksschädlinge" hielt, so war doch offensichtlich, dass jüdische Babys und Kleinkinder keine Partisanen und Schädlinge sein konnten. Das nützte ihnen aber nichts, sie waren aufzureiben, zu vernichten- und sei es auch nur, weil sie unproduktiv und "unnütze Fresser" waren.

Im Stürmer stand zu lesen, dass Judentum gleich Verbrechertum sei. Manstein schrieb in einem Tagesbefehl von einer "harten aber notwendigen Sühne am Judentum", Göring brachte es fertig, den deutschen Juden eine Sühnezahlung von 1 Milliarde abzupressen. Ganze Kleinstädte und Dörfer in der Sowjetunion wurden zerstört, die Bewohner zum großen Teil getötet im Rahmen von "Sühnemaßnahmen", Vergeltungsaktionen und Strafexpeditionen. Im Grunde aber war jedem klar, dass das verlogener Quatsch war, dass mit dem Unternehmen Barbarossa ein neues Kapitel begonnen hatte: Ein Rasse- und Vernichtungskrieg wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte. Im Winter 1941/42 waren an der Ostfront Grausamkeiten Alltag geworden, die man früher für unerhört hielt. Die Shoah, die mit dem Unternehmen Barbarossa begann, wurde von vielen deutschen Soldaten, die das an der Front oder im Hinterland mitbekamen als etwas besonders Grausames betrachtet. Das waren Leute, die eine Reihe von Kriegsverbrechen mitbekommen hatten. Die sich nicht (mehr) aufregten, wenn Kriegsgefangene erschossen wurden, weil man sie nicht ernähren und bewachen konnte (oder wollte), wenn Ernten beschlagnahmt und Bauern aufgehängt wurden, wenn es zu Übergriffen und Vergewaltigungen kam. SD und Gestapoberichte aus dem Jahr 1943 beklagten, dass sich die Empörung über die Massaker von Katyn in Grenzen hielt, da man wusste, dass die Judenvernichtung weit grausamer war.

Bei allem Antisemitismus, bei aller Bereitschaft, sich an Arisierungen und anderen Maßnahmen zur Ausplünderung der Juden zu beteiligen, war doch den allermeisten klar, dass es dafür keine Rechtfertigung geben konnte. Mag es auch noch so verquer und widersprüchlich sein, so etwas wie ein Gewissen hat jeder, und jeder muss es eigenhändig totschlagen.
 
Zunächst einmal sollte man danach unterscheiden, ob
1. einerseits Täter von Strafexpeditionen etc. schwafeln oder propagandistisch dies vortäuschen oder
2. andererseits Historiker unter Wertung Täterhandlungen als reaktiv und auf Niederschlagung von Gegenwehr ausgerichtet (u.U. als damit verbundene Kriegsverbrechen, andere Verbrechen etc.) beurteilen.

Bereits bei den SS/SD/Polizei-Einsatzgruppen dürfte wohl vorauszusetzen sein, dass kein Historiker deren Handlungen als Niederschlagung/reaktiv bewertetet. Das war anlassloser, gerade nicht-reaktiv staatlich angeordneter Massenmord, und hatte mit "Partisanenkrieg" gerade 1941 rein gar nichts zu tun.

Wenn ich mich nicht täusche, hat Hitler sich in seinen Tischgesprächen zu Partisanenaktivitäten geäußert und sinngemäß gesagt, das habe auch sein Gutes, da es uns erlaubt, die Zivilbevölkerung als Indianer zu behandeln.
 
"Deckungsgleich" scheint mir ein ziemlich ungünstiges Wort, bezogen auf die zugrunde liegende abstrakte Überlegung. "Deckungsgleich" bedeutet so viel wie 'kongruent', 'in allen Punkten übereinstimmend'. Es gibt aber keine zwei historischen Sachverhalte gleich welcher Art, die 'in allen Punkten übereinstimmend' wären.
 
Eine von Götz Alys zentralen Thesen zur Entstehung des deutschen Antisemitismus ist, dass dieser Antisemitismus auf Sozialneid basiere. Die deutschen Antisemiten hätten die Juden um ihre Bildung und ihre Erfolge beneidet.
So etwas wie Sozialneid spielte bei den Kolonialverbrechen sicherlich keine Rolle.
 
Zurück
Oben