Ich habe letztens den benannten Film von Robert Soidmak und Billy Wilder gesehen und bin nachhaltig irritiert und beeindruckt.
Menschen am Sonntag – Wikipedia
Es ist ein Stummfilm von 1930, der einfach vier junge Leute auf einem Sonntagsausflug zeigt. Dabei handelt es sich um Laiendarsteller. Die Aufmachung, Einstellungen und die Schnitte etc. wirken auf mich aber heute noch zeitgemäß.
Der erste bemerkenswerte Punkt: Es kommt einem fast so vor, als hätte die Weimarer Republik gewissermaßen ihre "Influenzer" aus der Vergangenheit auf meine Mattscheibe geschickt.
Siehe auch der Artikel in der Welt von 2000:
Berühmt für einen Sommer - WELT
Das scheint dem heutigen Youtube/Tiktok-Phänomenen doch recht nahe zu kommen...
Weiterhin finde ich es irritierend, dass der Film zwar einer Reportage sehr nahekommt bzw. nahekommen will, aber man dann Sachen sieht, die ich so einfach nicht erwartet hätte und Fragen aufwerfen:
a) §§ 180, 180 StGB: Kuppelei. Hier haben mir meine Eltern noch unglaubliche Geschichten aus den 1960er und 1970er Jahren erzählt, bzgl. "Übernachten bei der Freundin"... Dazu im Gegensatz, Menschen am Sonntag (1930): Erwin und Annie leben offenbar in einer gemeinsamen Wohnung! Und lassen sich dabei auch noch für einen Kinofilm filmen...
Das wirft für mich die Frage auf, wie ernst der Kuppelei-Paragraf im Berlin der Weimarer Zeit überhaupt noch genommen wurde. In den 1950ern kam bekanntermaßen der große Sittlichkeits-Kickback. Wenn man sich Menschen am Sonntag ansieht, muss dieser ja wirklich dramatisch ausgefallen sein...?
b) Politische Situation: Laut meinen Geschichtsbüchern gab es zu Beginn der 1930er Jahre in Berlin oft Straßenschlachten zwischen Rechts und Links, was die Bürger verschreckte. Menschen am Sonntag: Eine superfriedliche Stadt, in der jeder nach seiner Facon selig werden kann. Überall friedliche Menschenmassen am Wannsee und in den Gartenlokalen... Wie dokumentarisch ist der Film hier? Zeigt er evtl. nur eine "Billy-Wilder-Bubble"? Oder waren die Straßenkämpfe doch nicht viel Schlimmer als das, was heute am 1. Mai in Kreuzberg so abgeht? Hier würde mich mal eine Bewertung interessieren...
c) Wirtschaftliche Situation: ich hätte jetzt eher Massenarbeitslosigkeit und Armut erwartet. Stattdessen gutgelaunte Menschen in den Gartenlokalen. Taxifahrer Erwin mit Goldzähnen, d.h. eine erschwingliche Gesundheitsversorgung. Brigitte verkauft Schellackplatten in einem Electrola-Geschäft und hat damit ein Auskommen. Es handelt sich also um Konsum- und Luxusartikel, genau wie der Wein, den Wolfgang verkauft. Auch sind Taxifahrten eher etwas gehobenes...
In den Straßen kein Bettler zu erkennen, alles geht irgendwelchen Geschäften nach.
In dem gesamten Film sind wirtschaftliche und politische Probleme kaum erkennbar. Es wirkt wie ein einziger Werbefilm für die Weimarer Republik oder Berlin, auch mit den damals neuen S-Bahn-Triebwagen, auf die die BVG so stolz war. Man könnte nach der letzten Szene direkt einen Schnitt zum Einmarsch der Nationen bei Olympia München 1972 machen.
Generell kann ich auf den Bildern keinen Grund erkennen, NSDAP zu wählen oder 9 Jahre später Polen zu überfallen. Auf diesen Bildern befindet sich Deutschland oder zumindest Berlin in einem guten Soll-Zustand.
Auf der einen Seite
--> Was verschweigt dieser Film?
--> Wurden unliebsame Straßenszenen etc. bewusst vermieden?
--> Wie realistisch ist die Darstellung z.B. der gemeinsamen Wohnsituation?
--> Wie aufwändig war es für Erwin, sich Goldzähne einsetzen zu lassen, gemessen am Einkommen?
Auf der anderen Seite
--> Muss ich meine Weimar-Vorstellungen an Punkten korrigieren?
--> Wieviel von dem Bild der "chaotischen" und "unsicheren" Weimarer Republik, gerade um 1930, was gezielte Propaganda z.B. der Hugenbergpresse? Und welche Missstände existierten wirklich für große Bevölkerungsteile? Wurde die Staatsform z.B. von Hugenberg bewusst schlecht geschrieben? Die Berliner in "Menschen am Sonntag" scheinen ja mit der Staatsform gut zurecht zu kommen. Erhofften sich ausschließlich die Wirtschaft und nationalistische Minderheiten mehr Stabilität? Mir drängen sich da fast Parallelen zu GB/Brexit auf ...
Menschen am Sonntag – Wikipedia
Es ist ein Stummfilm von 1930, der einfach vier junge Leute auf einem Sonntagsausflug zeigt. Dabei handelt es sich um Laiendarsteller. Die Aufmachung, Einstellungen und die Schnitte etc. wirken auf mich aber heute noch zeitgemäß.
Der erste bemerkenswerte Punkt: Es kommt einem fast so vor, als hätte die Weimarer Republik gewissermaßen ihre "Influenzer" aus der Vergangenheit auf meine Mattscheibe geschickt.
Siehe auch der Artikel in der Welt von 2000:
Berühmt für einen Sommer - WELT
Das scheint dem heutigen Youtube/Tiktok-Phänomenen doch recht nahe zu kommen...
Weiterhin finde ich es irritierend, dass der Film zwar einer Reportage sehr nahekommt bzw. nahekommen will, aber man dann Sachen sieht, die ich so einfach nicht erwartet hätte und Fragen aufwerfen:
a) §§ 180, 180 StGB: Kuppelei. Hier haben mir meine Eltern noch unglaubliche Geschichten aus den 1960er und 1970er Jahren erzählt, bzgl. "Übernachten bei der Freundin"... Dazu im Gegensatz, Menschen am Sonntag (1930): Erwin und Annie leben offenbar in einer gemeinsamen Wohnung! Und lassen sich dabei auch noch für einen Kinofilm filmen...
Das wirft für mich die Frage auf, wie ernst der Kuppelei-Paragraf im Berlin der Weimarer Zeit überhaupt noch genommen wurde. In den 1950ern kam bekanntermaßen der große Sittlichkeits-Kickback. Wenn man sich Menschen am Sonntag ansieht, muss dieser ja wirklich dramatisch ausgefallen sein...?
b) Politische Situation: Laut meinen Geschichtsbüchern gab es zu Beginn der 1930er Jahre in Berlin oft Straßenschlachten zwischen Rechts und Links, was die Bürger verschreckte. Menschen am Sonntag: Eine superfriedliche Stadt, in der jeder nach seiner Facon selig werden kann. Überall friedliche Menschenmassen am Wannsee und in den Gartenlokalen... Wie dokumentarisch ist der Film hier? Zeigt er evtl. nur eine "Billy-Wilder-Bubble"? Oder waren die Straßenkämpfe doch nicht viel Schlimmer als das, was heute am 1. Mai in Kreuzberg so abgeht? Hier würde mich mal eine Bewertung interessieren...
c) Wirtschaftliche Situation: ich hätte jetzt eher Massenarbeitslosigkeit und Armut erwartet. Stattdessen gutgelaunte Menschen in den Gartenlokalen. Taxifahrer Erwin mit Goldzähnen, d.h. eine erschwingliche Gesundheitsversorgung. Brigitte verkauft Schellackplatten in einem Electrola-Geschäft und hat damit ein Auskommen. Es handelt sich also um Konsum- und Luxusartikel, genau wie der Wein, den Wolfgang verkauft. Auch sind Taxifahrten eher etwas gehobenes...
In den Straßen kein Bettler zu erkennen, alles geht irgendwelchen Geschäften nach.
In dem gesamten Film sind wirtschaftliche und politische Probleme kaum erkennbar. Es wirkt wie ein einziger Werbefilm für die Weimarer Republik oder Berlin, auch mit den damals neuen S-Bahn-Triebwagen, auf die die BVG so stolz war. Man könnte nach der letzten Szene direkt einen Schnitt zum Einmarsch der Nationen bei Olympia München 1972 machen.
Generell kann ich auf den Bildern keinen Grund erkennen, NSDAP zu wählen oder 9 Jahre später Polen zu überfallen. Auf diesen Bildern befindet sich Deutschland oder zumindest Berlin in einem guten Soll-Zustand.
Auf der einen Seite
--> Was verschweigt dieser Film?
--> Wurden unliebsame Straßenszenen etc. bewusst vermieden?
--> Wie realistisch ist die Darstellung z.B. der gemeinsamen Wohnsituation?
--> Wie aufwändig war es für Erwin, sich Goldzähne einsetzen zu lassen, gemessen am Einkommen?
Auf der anderen Seite
--> Muss ich meine Weimar-Vorstellungen an Punkten korrigieren?
--> Wieviel von dem Bild der "chaotischen" und "unsicheren" Weimarer Republik, gerade um 1930, was gezielte Propaganda z.B. der Hugenbergpresse? Und welche Missstände existierten wirklich für große Bevölkerungsteile? Wurde die Staatsform z.B. von Hugenberg bewusst schlecht geschrieben? Die Berliner in "Menschen am Sonntag" scheinen ja mit der Staatsform gut zurecht zu kommen. Erhofften sich ausschließlich die Wirtschaft und nationalistische Minderheiten mehr Stabilität? Mir drängen sich da fast Parallelen zu GB/Brexit auf ...