Auch bei den Römern mussten Bauern Nahrung produzieren - trotzdem wurden sie in der meisten Zeit der Republik im Bedarfsfall als Krieger eingezogen. Das führte zwar zu veritablen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, änderte aber trotzdem nichts daran. Ich sehe also keinen Grund anzunehmen, wieso bei den Germanen produzierende Bauern geschont worden sein sollten.

Der Vergleich scheint mir auch deutlich schlüssiger und naheliegender als das Kaiserreich oder das NS-Regime. Man darf wohl schon davon ausgehen, dass germanische Bauern wie römische zur Waffe griffen oder greifen mussten, wenn sie ihr Land bedroht sahen oder Beute erhofften, selbst wenn die politischen Einheiten/ Stämme östlich des Rheins nicht in derselben Weise organisiert waren wie die römische Republik. Wenn ein Feind den Hof niederbrannte, führte das ja ebenfalls zu wirtschaftlichen Problemen.
 
Welche konkrete Zahl kann nicht stimmen? (Bitte mit Seitenzahlangabe)
Die Zahlen habe ich bereits in meinem zweiten Beitrag in diesem Faden zitiert – ich zitiere sie hier noch einmal:

„Für die Cherusker werden 20 000 bis 80 000 Menschen in einem Territorium zwischen 10 300 (etwa 100 auf 100 km) und 22 000 (etwa150 auf 150 km) km2 geschätzt; dann können sie 4000 bis 16 000 Krieger (jeweils ein Fünftel) stellen. Für die Angrivarier werden 22 000 bis 25 000 Menschen gerechnet und ein Territorium von 7400 (86 auf 86 km) bis 8000 (89 auf 89 km) km2. Die Zahl der zu rekrutierenden Krieger wird auf 7500 Krieger geschätzt.“

Dieser Absatz findet sich auf den Seiten 814 und 815.

Konkret bedeutet dies: Wenn nur die Hälfte der Cherusker für den Krieg gegen Römer war, dann könnten sie keine "4000 bis 16 000 Krieger" stellen, sondern nur 2000 bis 8000.
 
Konkret bedeutet dies: Wenn nur die Hälfte der Cherusker für den Krieg gegen Römer war, dann könnten sie keine "4000 bis 16 000 Krieger" stellen, sondern nur 2000 bis 8000.
In die Zahlendiskussion will ich mich nicht einmischen. Jedoch wissen wir nicht, wie viele Cherusker sich gegen die Römer stellten.Wir wissen nur, dass auch noch im Jahr 16 Cherusker im Heer des Germanicus waren. Ob diese eine bedeutende Fraktion des Stammes darstellten oder nur eine verschwindend geringe Anzahl, wissen wir nicht. Im Grunde genommen wissen wir von ihnen nur durch die Anwesenheit von Arminius' Bruder, der sich nach dem Bericht des Tacitus mit Arminius am Ufer der Weser gestritten haben soll. Und hätten nicht die jeweiligen Umstehenden sie zurückgehalten, behauptet Tacitus, dann hätten sich Arminius und Flavus in die Weser gestürzt, um sich zu prügeln (und wahrscheinlich gegenseitig ersäuft (das schreibt Tacitus so explizit nicht)).
Wie viel ich von dieser Anekdote für historisch halte? Dass Flavus im römischen Heer diente. Das war's dann auch. (Mit Gruß an @Ravenik)
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Zahlen habe ich bereits in meinem zweiten Beitrag in diesem Faden zitiert – ich zitiere sie hier noch einmal:

„Für die Cherusker werden 20 000 bis 80 000 Menschen in einem Territorium zwischen 10 300 (etwa 100 auf 100 km) und 22 000 (etwa150 auf 150 km) km2 geschätzt; dann können sie 4000 bis 16 000 Krieger (jeweils ein Fünftel) stellen. Für die Angrivarier werden 22 000 bis 25 000 Menschen gerechnet und ein Territorium von 7400 (86 auf 86 km) bis 8000 (89 auf 89 km) km2. Die Zahl der zu rekrutierenden Krieger wird auf 7500 Krieger geschätzt.“

Dieser Absatz findet sich auf den Seiten 814 und 815.

Konkret bedeutet dies: Wenn nur die Hälfte der Cherusker für den Krieg gegen Römer war, dann könnten sie keine "4000 bis 16 000 Krieger" stellen, sondern nur 2000 bis 8000.

Soweit ich sehe, behauptet Steuer hier mitnichten, die Cherusker hätten 4.000 bis 16.000 Krieger gegen die Römer eingesetzt. Du unterschiebst ihm etwas, was er nicht geschrieben hat.
 
In den erwähnten germanischen Gesellschaften hatte der Kriegerstand ein sehr hohes Prestige, insofern ist es nicht verwunderlich, wenn man von einem für heute sehr hohen Anteil von ca ein Fünftel der Bevölkerung ausgeht.
Sind hauptberufliche Krieger gemeint ?
(Falls ja, sind sie durch Raub zu Nahrungsmitteln gekommen oder gab es genug Zinspflichtige ?)
 
Sind hauptberufliche Krieger gemeint ?
Natürlich nicht.
Caesar, der die Sueben bekämpfte, erklärt ihre beeindruckende Heeresstärke (auch wenn die Zahlen stark "aufgerundet" sein dürften) wie folgt:

(3) Sueborum gens est longe maxima et bellicosissima Germanorum omnium. (4) hi centum pagos habere dicuntur, ex quibus quotannis singula milia armatorum bellandi causa suis ex finibus educunt. (5) reliqui, qui domi manserunt, se atque illos alunt. hi rursus invicem anno post in armis sunt, illi domi remanent. (6) sic neque agri cultura nec ratio atque usus belli intermittitur.
=
(3) Die Sueben sind nämlich das größte und das meist kriegerische Volk von ganz Germanien. (4) Ihr Land hat, wie man sagt, hundert Gaue; aus jedem von diesen führen sie jährlich tausend Bewaffnete außer Landes in den Krieg, (5) während die übrigen in der Heimat zurückbleiben, um sich und dem Heer die nötige Nahrung zu sichern. Im folgenden Jahr ziehen dann zur Abwechslung diese ins Feld, die anderen bleiben zu Hause. (6) Auf solche Weise wird weder der Feldbau unterbrochen, noch die Kenntnis und Übung des Kriegswesens.​
Caesar - De bello Gallico 4,1-4,19: Caesars Einschreiten gegen Usipeten und Tenkterer
 
Soweit ich sehe, behauptet Steuer hier mitnichten, die Cherusker hätten 4.000 bis 16.000 Krieger gegen die Römer eingesetzt.
Stimmt - er sagt nur, so viele Krieger hätten die Cherusker stellen können (ein Fünftel der Bevölkerung). Wie viele dann gegen Varus gekämpft haben, hängt davon ab, wie viele sich Arminius angeschlossen haben. Um keine Partei zu bevorteilen bzw. zu benachteiligen, habe ich die Hälfte der genannten Zahlen genommen: 2000 bis 8000.

Die Zahlen sind wichtig, denn Steuer vertritt die These, Varus wurde von zahlenmäßig gleichstarken oder sogar stärkeren germanischen Verbänden besiegt. Und die Tatsache, dass auf dem Schlachtfeld in Kalkriese fast ausschließlich römische Waffen und Ausrüstungen gefunden wurden, spräche dafür, dass auch auf der germanischen Seite nicht nur mehrheitlich aus Germanen bestehende Auxiliareinheiten des Varus gekämpft haben, sondern auch zurückgekehrte Legionäre. Das spräche wiederum für größere Kampfkraft – jemand hat hier mal gesagt, germanische Krieger hätten beim Kampf Mann gegen Mann gegen Legionäre keine Chance.
 
Und die Tatsache, dass auf dem Schlachtfeld in Kalkriese fast ausschließlich römische Waffen und Ausrüstungen gefunden wurden, spräche dafür, dass auch auf der germanischen Seite nicht nur mehrheitlich aus Germanen bestehende Auxiliareinheiten des Varus gekämpft haben, sondern auch zurückgekehrte Legionäre.
Ist das jetzt Mutmaßung deinerseits oder soll das indirekte Rede sein?
Wie können zurückgekehrte Legionäre gekämpft haben, wenn ausschließlich in Italien geborene Legionäre sein konnten? Allenfalls können wir hier von Auxiliartruppen sprechen, die römisch gerüstet waren. Aber auch zwischen der Ausrüstung römisch ausgerüsteter Auxiliarii und Legionären bestanden Unterschiede.

Noch mal zu den archäologischen Fakten: das meiste, was in Kalkriese an militärischen Ausrüstungsbestandteilen gefunden wurde, war Buntmetall, also gewissermaßen die Accessoires zu den Waffen etc. Das, was beim Plündern verloren geht. Große Teile hat man so gut wie keine gefunden. Eine dolabra bereits in den Anfangsjahren, vor wenigen Jahren den pugio und als letzten herausragenden Fund die intakte Lorica Segmentata in Kombination mit einer Halsfessel. Und viele Fragmente von Schildrandbeschlägen, die wahrscheinlich beim Falten der für den Abstransport bestimmten und von den Schildern abgezogenen Schildrandbeschläge abbrachen. (Solche gefalteten Schildrandbeschläge sind auch gefunden worden.).

Von den gut gerüsteten Römern ist ja einiges zu erwarten an Funden. Von den Germanen hingegen sehr viel weniger. Das muss eine Schieflage im archäologischen Fundspektrum verursachen, die nicht überrascht und auch nicht erklärungsbedürftig ist (die aus der Ignoranz dieser Schieflage resultierende aber überflüssige Erklärung: die Germanen waren alle römisch gerüstet). Die Interpretation geht also sowohl an den archäologischen Fakten (so viele intakte Militaria gibt es gar nicht) als auch an dem archäologisch zu Erwartenden (Ausrüstungsgefälle Römer/Germanen) vorbei. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass unter den germanischen Gegnern der Römer keine römisch gerüsteten Krieger waren, eben die cheruskischen (und weiteren?) Auxiliarii.

Um das mal an einem anderen Beispiel zu erklären: wenn man protohistorische Grabungen durchführt, wird man in derselben Kultur völlig verschiedene Fundspektren haben, je nachdem, ob man ein Gräberfeld, einen Opferplatz oder eine Siedlung ausgräbt. Die Archäologen sprechen von positiver und negativer Auswahl.

Friedhof und Opferplatz: positive Auswahl (niedergelegte Dinge, je nach kulturellem Kontext und Zeitstellung auch rituell zerstört, aber ziemlich vollständig).

Dagegen die Siedlung: negative Auswahl (hier finden wir vor allem Dinge, die kaputt gegangen sind und der Kreislaufwirtschaft nicht wieder zuzuführen waren (daher findet man Metall öfter in Gräbern, als in Siedlungen). Eher unvollständige Bruchstücke der Scherben als intakte Scherben (ein Scherben [sic!] ist nicht das, was wir umgangssprachlich und feminin meinen, wenn wir von „Scherben“ (> die Scherbe) sprechen. Das sind eigentlich nur Scherbenfragmenge/Bruchstücke.)

Wenn wir erwarteten Siedlungen in dem Zustand zu finden, wie Pompei, das an einem Tag unterging und danach unter einer so hohen Tuffschicht lag, dass nachträgliche Plünderungen unmöglich waren, dann kommen wir in eine Schieflage der archäologischen Erwartungshaltung. So, wie wir in eine Schieflage der Erwartungshaltung kommen, wenn wir a) nicht berücksichtigen, dass die Germanen weniger Metall mit sich führten als die Römer und b) gerade das wertvollste Metall (sofern nicht vor den Blicken der Plünderer verborgen) alsbald abtransportiert wurde. Und mal abgesehen von durch Oxidation von Eisen akzidentell erhaltenen Holzresten, wenigen Knochen und Zähnen, die aufgrund von Kalksteinzugaben im sauren Boden überdauerten, haben wir in Kalkriese praktisch nur Metall im Fundgut.
 
Stimmt - er sagt nur, so viele Krieger hätten die Cherusker stellen können (ein Fünftel der Bevölkerung).
Dann nennt er in diesem Zusammenhang noch die Angrivarier, außerdem dürften die Marser, Brukterer und Chatten sich der Arminius-Koalition angeschlossen haben. (Die Rachefeldzüge des Germanicus richteten sich gegen diese Gruppen; einer der von den Varus-Gegnern erbeuteten Legionsadler soll den Marsern, ein anderer bei den Brukterern wiedergefunden worden sein.)

Wenige Jahre später behauptete sich Arminius mit seinen Verbündeten gegen Marbod, der laut Velleius über 70.000 Fußsoldaten und 4.000 Reiter verfügt haben soll. Diese Zahl dürfte wahrscheinlich übertrieben sein (das ist auch bei Steuer so zu lesen); es darf aber festgehalten werden, dass sie von einem römischen Offizier überliefert wird, der die Vorbereitungen für den Marbod-Feldzug des Tiberius miterlebt hat. Tacitus überliefert, Tiberius sei gegen Marbod mit zwölf Legionen marschiert, das wäre eine vergleichbare Größenordnung.
 
. Und die Tatsache, dass auf dem Schlachtfeld in Kalkriese fast ausschließlich römische Waffen und Ausrüstungen gefunden wurden, spräche dafür, dass auch auf der germanischen Seite nicht nur mehrheitlich aus Germanen bestehende Auxiliareinheiten des Varus gekämpft haben, sondern auch zurückgekehrte Legionäre.
Ist das jetzt Mutmaßung deinerseits oder soll das indirekte Rede sein?

Okay, das ist tatsächlich Steuer:

Auffällig ist, dass unter den tausenden Fragmenten von Waffen und Ausrüstung nur Material römischer Herkunft gefunden worden ist, kaum eindeutig germanische Waffenteile. Das hat zum Nachdenken gezwungen, lässt sich aber dadurch erklären, dass die germanischen Krieger des Arminius genau so ausgerüstet waren wie die römischen Legionäre bzw. deren Auxiliartruppen; denn Arminius befehligte Hilfstruppeneinheiten auf römischer Seite, und seine Erhebung wird als Militärrevolte erklärt.
Aus oben angeführten Gründen ist das m. E. nicht der Weisheit letzter Schluss. Laut Tacitus wurden bei Segestes römische Ausrüstungen gefunden, die als Beute aus der Varusschlacht gewertet wurden (Tac. ann I, 57) und es wird bemerkt, dass in der Schlacht zwischen Marbod und Arminius viele Germanen mit römischen Beutestücken ausgerüstet waren. (Tac. ann II, 45)
 
Wie können zurückgekehrte Legionäre gekämpft haben, wenn ausschließlich in Italien geborene Legionäre sein konnten?
Ja, das wird so gesagt. Aber Steuer sagt (Seite 1138) – Zitat: „Die Angehorigen der Praetorianergarde des Augustus und weiterer romischer Kaiser waren Germanen.“

Da frage ich mich, wie kann das sein: Gewöhnliche Legionäre mussten Römer sein, aber die Elitetruppe (Prätorianer), deren Angehörige aus den Legionen ausgewählt wurden, nicht?

Von den gut gerüsteten Römern ist ja einiges zu erwarten an Funden. Von den Germanen hingegen sehr viel weniger.
Da frage ich mich, wie konnten die „sehr viel weniger“ gerüsteten Germanen die „gut gerüsteten Römer“ besiegen?

Steuer (Seite 1286) sagt dazu: „Wenn auf den Schlachtfeldern von Kalkriese oder Harzhorn keine „germanischen“ Waffen oder Teile davon gefunden werden, dann liegt das daran, dass sowohl die von Arminius geführten Einheiten als auch die späteren germanischen Truppen wie römische Auxiliarverbände ausgerüstet oder wie die Legionen selbst bewaffnet waren.“

Die Zukunft wird zeigen, ob sich Steuers Meinung durchsetzen wird.
 
Da frage ich mich, wie kann das sein: Gewöhnliche Legionäre mussten Römer sein, aber die Elitetruppe (Prätorianer), deren Angehörige aus den Legionen ausgewählt wurden, nicht?
Augustus und andere Kaiser unterhielten zeitweise tatsächlich eine germanische Leibwache. Sie war formal aber nicht Teil der Prätorianergarde.

Da frage ich mich, wie konnten die „sehr viel weniger“ gerüsteten Germanen die „gut gerüsteten Römer“ besiegen?
Über Sieg und Niederlage entscheiden nicht nur die Rüstung, sondern auch die Kampfweise der Gegner, das Gelände, die Verfassung und Moral der Soldaten, das Zusammenwirken verschiedener Waffengattungen etc. Schwere Infanterie kann durchaus von leichter Infanterie besiegt werden - wenn sich die leichte Infanterie nicht auf einen Nahkampf in Formation einlässt, nicht dazu gezwungen werden kann und auch nicht wirkungsvoll von Kavallerie bekämpft werden kann, siehe etwa die Schlacht bei Lechaion, als spartanische Hopliten, der Stolz der Nation und die angesehensten Kämpfer Griechenlands, von Peltasten aufgerieben wurden.
 
Die Zukunft wird zeigen, ob sich Steuers Meinung durchsetzen wird.
Ich „kenne“ Steuer ja nun schon seit einigen Jahren (gemeint ist nicht die Person, ich bin ihm nie begegnet, sondern verschiedene Publikationen). Insofern war ich ein wenig enttäuscht, als ich mich heute ins Varusschlachtkapitel in seinem Buch eingelesen habe, es liest sich für mich teilweise wie eine oberflächliche Zusammenschau der Diskussionen vergangener Jahre, symptomatisch dafür ist auch, dass er aus Ortisi einen römischen Adeligen macht („Orsini“). Viel Forschung wird Steuer auch nicht mehr betreiben, der Mann ist emeritiert und über 80 Jahre alt.
 
Auf die Gefahr hin, dass es nach Totalverriss aussieht (was es nicht ist und auch nicht sein soll), aber je mehr ich in Steuers Germanenbuch lese, desto mehr habe ich den Eindruck, dass es sein wissenschaftliches Vermächtnis werden sollte, quasi die große Monographie am Ende seines Lebens, der krönende Abschluss seines akademischen Lebenswerks (was nicht heißt, dass er nicht noch den einen oder anderen Aufsatz veröffentlicht) und er am Ende unter Zeitdruck geraten ist, also angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 80 Jahren, schnell fertig werden wollte, weshalb das Buch stellenweise schlampig wirkt (wobei einige Fehler natürlich solche sind, die auf Konzentrationsmängel beim Schreiben zurückzuführen sind, hier geht der Schwarze Peter klar ans Lektorat).

Es ist auch nicht ganz konzise. Zwar sagt Steuer ganz klar, dass Archäologen auch Historiker sind, wie es dem europäischen Archäologieverständnis entspricht (das amerikanische Archäologieverständnis sieht die Archäologie eher als anthropologisches Fach), aber er will sich dann nur auf archäologische Quellen beziehen, diskutiert dann aber wiederum Dinge, die in archäologischen Quellen gar nicht zu fassen sind und wo die Archäologie auch kaum einen Beitrag zu leisten kann und was eher sein Verständnis einzelner historiographischer Quellenstellen widerspiegelt (ich denke hier an seine Äußerungen über die Cherusker auf S. 810 f.) .

Zu meiner Kritik: Aus den ca. 1300 Textseiten greife ich mir punktuell Stellen heraus, bei denen ich irritiert bin, wo ich etwas Kritikables finde. Das führt vielleicht zu einem schiefen Bild des Buches, also bitte nicht von der Kritik auf das Gesamtwerk zurückschließen.
 
Augustus und andere Kaiser unterhielten zeitweise tatsächlich eine germanische Leibwache. Sie war formal aber nicht Teil der Prätorianergarde.
Steuer sagt was anderes. Aber er hat das wohl auch nur (falsch) übernommen von Bédoyère 2017 und Bingham 2013. Von Bédoyère (Praetorian: the rise and fall of Rome's imperial bodyguard) gibt es online nur Abstract zu lesen. Aber das Binghams Dokument (The Praetorian Guard: a history of Rome's elite special forces) konnte ich online einsehen – und dort steht im Kapitel über Augustus, was auch du gesagt hast:

Indeed, he had another group that served almost exclusively to ensure his safety, the German bodyguard (Germani corporis custodes). 51 It was Caesar who first had used Germans as an escort for his own security and it is possible that Augustus took over this idea from him. 52

Und Bingham ihrerseits übernahm das vom Heinz Bellen, Die germanische Leibwache der römischen Kaiser des julisch-claudischen Hauses (Wiesbaden, 1981) und von Michael P. Speidel, Riding for Caesar (Boston 1994). Ob sie das korrekt getan hat, habe ich nicht überprüft.

… es liest sich für mich teilweise wie eine oberflächliche Zusammenschau der Diskussionen vergangener Jahre, …
Ob oberflächlich oder nicht, dürfte eine Ansichtssache sein. Und wenn jemand wie er 80 Jahre alt wird, dann ist es normal, Erkenntnisse, die er in seinem langen Forscherleben gesammelt hatte, zusammenfassend darzustellen – jedenfalls ist dieses Buch „Germanen“ aus Sicht der Archäologie gespickt mit Literaturverweisen auch neueren Datums, d.h.: Er ist nach wie vor gut informiert. Außerdem gefällt mir sein Ansatz, die antiken Schriftsteller, um deren Glaubwürdigkeit heftig gestritten wird, erstmal beiseite zu lassen und sich mehr auf archäologische Spuren zu verlassen; denn wo diese Spuren die schriftlichen Zeugnisse bestätigen, gewinnen die letzteren an Glaubwürdigkeit.

PS:
weshalb das Buch stellenweise schlampig wirkt
Das sieht man z.B. an obigen Beispiel über Prätorianer.
 
Und wenn jemand wie er 80 Jahre alt wird, dann ist es normal, Erkenntnisse, die er in seinem langen Forscherleben gesammelt hatte, zusammenfassend darzustellen – jedenfalls ist dieses Buch „Germanen“ aus Sicht der Archäologie gespickt mit Literaturverweisen auch neueren Datums, d.h.: Er ist nach wie vor gut informiert.
Nicht dass wir uns missverstehen: wenn ich sage, dass von ihm nicht mehr viel Forschung kommen wird, dann ist das a) auf sein fortgeschrittenes Lebensalter bezogen und b) darauf, dass er wohl kaum noch mal die Gelegenheit bekommt ein wissenschaftliches Großprojekt anzustoßen, es sei denn, er würde es aus seinem Privatvermögen finanzieren. Man wählt geisteswissenschaftliche Studiengänge nicht, um einen Beruf zu erlernen*. Sprich, Geisteswissenschaftler mögen verrentet, pensioniert oder emeritiert werden, sie bleiben aber immer Geisteswissenschaftler - sofern sie nicht überraschende Charakterwandel vollziehen. Das sehe ich bei anderen Berufsgruppen, auch bei den anderen Wissenschaften, nicht so in dem Maß wie bei Geisteswissenschaftlern (aber das mag natürlich auch an meiner speziellen Brille liegen).
Es ist also fast „natürlich“, dass Steuer informiert bleibt. Aber - auch da er ja auch schon beitragender Teilnehmer auf Tagungen zum Varusschlachtkomplex war - seine Skizzierungen der letzten Entwicklungen und Diskussionen (bis ca. 2017) sind doch seltsam oberflächlich.

Außerdem gefällt mir sein Ansatz, die antiken Schriftsteller, um deren Glaubwürdigkeit heftig gestritten wird, erstmal beiseite zu lassen und sich mehr auf archäologische Spuren zu verlassen; denn wo diese Spuren die schriftlichen Zeugnisse bestätigen, gewinnen die letzteren an Glaubwürdigkeit.
Dieser Ansatz ist nicht neu** und kann durchaus nützlich sein, um Zirkelschlüsse oder Betriebsblindheit zu vermeiden. Für die Wissenschaft ist es z.B. letztlich unwichtig, ob Kalkriese das Varusschlachtfeld (bzw. einen Teil davon) abbildet - sofern man das Einwerben von Drittmitteln mal außer Acht lässt. Die Frage für die Wissenschaft ist eher, wie man Kalkriese zu lesen hat und was uns Funde und Befunde von Kalkriese darüber hinaus mitteilen können.
Was ich kritisiere, ist, dass Steuer diesen Ansatz einerseits postuliert, sich dann aber nicht an sein eigenes Konzept hält. Da wirkt das Buch nicht, wie aus einem Guss. Ich gebe aber auch gerne zu, dass es bei einem 1300-Seiten-Text durchaus nicht ganz einfach ist, ein solches Vorhaben strikt durchzuziehen.




*das Lehramtsstudium ist dann oft der Kompromiss; ich kenne allerdings auch Leute, bei denen nicht das Fach im Vordergrund stand, sondern der Lehrberuf, wo das Fach dann eher nachrangig ist.
**vor ca. 25 Jahren gruben Archäologen*** in Jotapata, der leitende Archäologe kritisierte, dass frühere Archäologengenerationen „mit Flavius Josephus in der Hand“ gegraben hätten, worauf er ganz bewusst verzichte. (Wenn wir davon ausgehen, dass er der „Erfinder“ dieses Konzepts war, dann gibt es das schon über ein Vierteljahrhundert, wenn er nicht der Erfinder war, länger.)
***eigentlich graben Archäologen nicht selbst, sie legen nur hin und wieder mal Hand an.
 
Guten Morgen liebe Leute,

ich weiß nicht, ob Ihr Lust habt, erneut dieses Fass aufzumachen und hoffe, dass diese Punkte noch nicht diskutiert wurden.
Die Varusschlacht ist ein Dauerbrenner und vielleicht gibt es hier ja noch ein paar neue und unbekannte Aspekte.

Wenn man nur auf die topographische Reliefkarte eines alten Diercke-Weltatlas aus dem Schulbetrieb schaut, ist der Ort doch relativ schlüssig. Nicht bewiesen aber allein durch die Geländegeographie, durch das Relief in Westdeutschland vorgegeben.

Ist folgender Stand schlüssig?
Varus zieht im Spätsommer des Jahres 9 mit den Legionen XVII., XVIII. und XIX. Legion (Namen der Legionskommandeure/Legaten sind nicht bekannt) entlang der Lippe, der Signalkette und der dortigen Römerlager in Haltern, Anreppen, etc. entlang, um östlich von Paderborn zwischen Teutoburger Wald und Eggegebirge im Bereich der Mittleren Weser eine Strafexpedition gegen abtrünnige Cherusker zu starten.
Was Varus und seine Legionen dort anstellten (Gericht, Rechtsprechung, Steuern + Abgaben erzwingen) ist nicht bekannt. Ebenso wenig ihre Zielregion. Bei Hameln, Holzminden, Höxter? Hier wird die Spekulation eines möglichen Römrelagers Alisia an der Weser.

Hochinteressant ist die Theorie von Wilm Brepohl aus dem Jahr 2005, dass Varus Legionen ein germanisches Opferfest störten (Was könnte das sein? Erntedankfest?). Vielleicht an den Extersteinen im Teutoburger Wald, die möglicherweise ein germanischer Kultplatz waren.
Die Route der Legionen + Troß könnte ja eigentlich nur durch das Lippische Land, also bei Bad Salzuflen, Lemgo, Lage, durch das Tal der Werre in Richtung Nordwesten gezogen sein. Jenes Tal, welches vom Teutoburger Wald im Süden und Wiehengebirge begrenzt wird. Warum die Legionen plötzlich von dieser Route, die sie bei Osnabrück wieder ins Flachland geführt hätte, abgewichen sind, ist für mich unlogisch.
Für einen Troß mit Ochsenkarren und vielleicht auch schweren Katapulten etc. wäre es ja absolut widersinnig, freiwillig ohne Not ins Mittelgebirge hinein zu müssen. Die Schluchten, die erwähnt werden, gibt es natürlich im Teutoburger Wald und im Wiehengebirge. Welche Form sie vor 2.000 Jahren hatten weiß man natürlich nicht.

Warum also ins Wiehengebirge hinein, um dann auf der anderen Seite auf den Kalkrieser Berg|Schmittenhöhe zu stoßen, wo dann im Norden auch noch das Große Moor liegt und es mit Pferden etc. überhaupt nicht mehr durchgeht.
Waren die Römer komplett orientierungslos? Komplett lost in Norddeutschland? Anscheinend ja, wenn die Kundschafter und Späher auf einmal gänzlich verschwunden waren. Anscheinend gab es auch keine Karten noch von den Drusus-Feldzügen, die aber wohl nicht in jenem Gebiet stattgefunden hatten.

Frage: wie ist der Stand der Wissenschaft jetzt im Mai 2023? Sind die Erkenntnisse von Martin Hülsemann (2015) und Annette Panhorst (2017) die aktuellsten?
Theorien und Spekulationen zum Ort der Varusschlacht – Wikipedia Theorien und Spekulationen zum Ort der Varusschlacht

Ach so, und dann wurde natürlich richtig gesagt, dass die germanische Sicht und Planung des Schlachtgemäldes vollkommen unbekannt ist. Mit welchen Argumenten (nur die Aussicht auf Beute oder war da gar mehr) er die Angrivatier, Brukterer, Marser und Chatten an einen "Verhandlungstisch" bekommen hat, wie sie operiert hatten, welche Stellen des Hinterhaltes den jeweiligen Stammesgefolgschaften zugeordnet wurden und welche Freiheit im Handeln sie hatten. Das ist und bleibt wohl für ewig eine BLACK BOX.

Bitte verzeiht, wenn hier einige Teilaspekte schon ausgiebig diskutiert wurden.
 
Also, was mich am meisten interssiert ist Eure Meinung zur Geographie.
Kurz gesagt, von der Mittleren Weser geht es zurück ja nur über das Werretal. Oder über den Teutoburger Wald|Eggegebirge wieder zurück ins Münsterland, wo die Legionen vielleicht gerettet gewesen wären.
Also auf fatale Weise einmal falsch abgebogen. Vielleicht war es ja der Jahrhundertorkan, der die Römer zu diesem eigenartigen Richtungswechsel bewogen hat.

Pardon, wurde tatsächlich einmal diskutiert:
Zugstrecke des Varus Zugstrecke des Varus
 
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