7 universelle Moralregeln ...

silesia

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sollen als Ergebnis einer Untersuchung in 60 Gesellschaften herausgekommen sein.
Dass es solche unabhängig voneinander entstandenen, aber deckungsgleiche Verhaltensregeln für soziale Gruppen geben soll, die letztlich die Strategie erfolgreichen Zusammenarbeit in Gruppen sichern sollen, ist keine neue Hypothese (vielleicht auch nicht wirklich überraschend).

Der neuen Studie (Universität Oxford) wird nun nachgesagt, dass sie den bisher umfangreichsten und breitesten Ansatz für den Nachweis bieten soll.

(derzeit) im open access, Erschienen in der 1/2019 von Current Anthropology
Is It Good to Cooperate? Testing the Theory of Morality-as-Cooperation in 60 Societies

Presse, zB
Seven moral rules found all around the world
Oxford-Analyse: Diese sieben moralischen Grundwerte teilt jede Kultur - WELT
 
Die Auflistung der "Regeln", die das soziale Leben strukturieren, ist m.E. nicht verwunderlich. Fast alle Aspekte finden sich seit dem Beginn soziologischer Theoriebildung in den Arbeiten bereits der "Gründer" dieser Disziplin wieder, wie beispielsweise bei Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, wie beispielsweise § 7: Würde des Vaters - des Alters - der Stärke - der Weisheit.

Interessant finde ich 4. "mutig sein", weil er m.E. die zentrale Größe ist, über die Gruppen strukturiert werden (vgl. z.B Homans oder Mills).

Interessant ist dieser Aspekt auch, weil sich diese "anthropologische Konstante" auch in der Internetkultur bzw. der Virtual Reality wieder findet. Die Hierarchisierung von virtuellen Communities wird durch die Frage des Mutes - und auch der "ingame-Kompetenz - strukturiert. Es setzt sich der durch und wird als "Vorgesetzter" akzeptiert, der im Sinne einer "Meritokratie" am meisten geleistet hat. Fast analog zur Herausbildung des "Ritterstandes" im Frühen Mittelalter".

Für mich persönlich ein erstaunliches Phänomen und zeigt die Bedeutung der Ergebnisse für die Vergangenheit und auch für die Zukunft.
 
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der Satz geht weiter - und auch der "ingame-Kompetenz". Das ergibt eine spezifische Form von virtuellem Charisma. Und es funktioniert im Sinne der Strukturierung von Gruppen, die sich freiwillig organisieren und sich als Gruppe zielgerichtet den Vorgaben des "Vorgesetzten" unterwerfen.

Mir ging es dabei im wesentlichem um die Konstante, dass Menschen perfekt sind, sich als Gruppe zu organisieren und sich schnell auf "Spielregeln" einigen können. Mehr sollte nicht gesagt werden.
 
Ich würde ergänzend vermuten, dass sich im Weiteren die "Gewichte" solcher Grundprinzipien situativ (was man über eine große Anzahl wieder zu einer Strömung in der Gesellschaft verdichten kann) verschieben.

Oder anders: die Grundprinzipien sind nicht jederzeit gleichgewichtig bzw. gleich bedeutsam vertreten, sondern das wird sich verändern.

Das zielt natürlich zB auf den "Führerbedarf" bzw. dessen Akzeptanz.
 
Muss man wirklich einen solchen Forschungsaufwand betreiben (60 Gesellschaften untersuchen), um herauszufinden, dass die genannten "Regeln" in menschlichen Gesellschaften universell sind? Mit logischem Denken käme man auch ohne den Aufwand zu einem gleichen oder sehr ähnlichen Ergebnis. Man muss nur die Gegenprobe machen und überlegen, wie überlebensfähig eine Gesellschaft OHNE diese Regeln wäre: Sie würde nicht funktionieren können, weil diese Regeln die Basics für die Funktionstüchtigkeit einer Gesellschaft bilden.

Insofern stimme ich Thane zu, dass diese Regeln "nicht verwunderlich" sind. Verwunderlich ist für mich eher, wie gesagt, der enorme Aufwand, der um ihre Erkenntnis betrieben wurde.

Natürlich ist auch "Mut" eine dieser Regeln, allerdings gehört Mut nicht zur Moral, sondern ist eine Tugend. Ihr Wert für die Gesellschaft ist aber unbestritten, weil die mutige Haltung einzelner Menschen für die Überlebensfähigkeit einer Gruppe höchst bedeutsam ist (z.B. in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen). Sie kann aber nicht moralisch eingefordert werden. Zwar wird "Mut" dem Anschein nach wie eine Moral beim Soldaten eingefordert, in Wahrheit aber handelt es sich um eine Unterordnung unter eine höhere Instanz (superior), wenn der Befehl gegeben wird, in einen Kampf zu ziehen. Relevant ist hier also die moralische Norm der Unterordnung (Befolgen eines Befehls) unabhängig davon, ob der Soldat die Tugend der Tapferkeit besitzt oder nicht. Es gibt aber auch Situationen, wo Gehorsamkeit allein nicht ausreicht, sondern die Tugend der Tapferkeit erforderlich ist.

Man sollte diese Regeln also genauer daraufhin betrachten, ob sie der Moral oder der Tugend zuzurechnen sind. Moral reguliert den gegenseitigen Umgang der Menschen durch verinnerlichte Normen, wohingegen Tugend eine Qualität ist, die ein Mensch unabhängig vom Umgang mit anderen Menschen hat, sie ist eine als wertvoll erachtete Haltung, die auch moralisch relevant sein kann, wenn es um die Tugend ´Gerechtigkeit´ geht, die zu den fünf Tugenden zählt, die Platon zusammengestellt hat:

Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Klugheit, Weisheit.

Die anderen vier Tugenden, darunter die Tapferkeit (Mut), können der Moral hingegen nicht zugerechnet werden, was man bei einer Gegenprobe leicht erkennt: Ist Feigheit unmoralisch? Sicher nicht. Sie ist verächtlich, aber nicht unmoralisch. Als Gegenpart der Tapferkeit kann aber auch "Angst" gelten (Mut ist die Überwindung der Angst), und die ist erst recht nicht unmoralisch. Ist Unbesonnenheit unmoralisch? Natürlich nicht. Das gleiche gilt für den Mangel an den Tugenden Klugheit und Weisheit.

Eine Schwäche der Studie ist also die ungenaue Begrifflichkeit, weil sie eine Tugend, die Tapferkeit, den moralischen Normen zurechnet.
 
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Ich denke bei Respekt gegenüber dem Vorgesetzten an zweierlei Dinge. Zunächst einmal an die Zehn Gebote, wo ja drei Gebote Gott gewidmet sind. Gleichzeitig aber auch an das Gebot, man solle die Eltern ehren.
Ansonsten sehe ich den Respekt gegenüber dem Vorgesetzten nicht als bedingunslose Unterordnung, wie das in monarchisch verfassten oder dikatorisch administrierten Gesellschaften erwartet wird. Eher ein Schüler-Meister-Verhältnis. In Jagdkontexten ist es auch sinnvoll, wenn einer die Kommandogewalt hat, damit jeder weiß, wo er hin muss. Das muss weder immer derselbe sein, noch geht die Anführerschaft zwingend über die Situation hinaus. Aber wenn man sich nicht koordiniert und die Koordination zeitweilig einer Person übergibt, vertreibt man durch unkoordiniertes Herumgerenne das Wild und erlegt nichts oder verletzt sich gegenseitig. Nomadisch lebende Menschen suchen sich jemanden aus, der die besten Wasserstellen und Lagerplätze kennt...

Dieses sich revanchieren/erkenntlich zeigen dagegen klingt mir zu sehr nach do ut des, nach Konto im Kopf. Natürlich ist das do ut des-Prinzip universal. Aber mit Moral hat es m.E. wenig zu tun.
 
Aber mit Moral hat es m.E. wenig zu tun.

Um den Hinweis auf den Sprachcode aufzugreifen:
Z.B. in ökonomischen, juristischen, militärischen Bezügen wird "Moral" in einem Sinn verstanden, der nicht unbedingt mit anderen Fachbereichen in Deckung zu bringen ist.

Nur ein Beispiel: LMF - Lack of Moral Fibre - Wikipedia ("Kampfmoral")
oder: Arbeitsmoral, Organisationstheorie, Behavorial Economics in der Makroperspektive etc.
 
Stimmt schon, die Zahlungsmoral gibt es natürlich auch. Es ist dann eher mein persönliches Empfinden, dass ich do ut des als Pflichtschuldigkeit sehe und dem freiwilligen Geben, im Vertrauen darauf, dass es mir nicht zum Schaden gereicht, ohne aber zu überprüfen, ob ich auch eine gleichwertige Gegenleistung bekomme, als egoistischer und weniger weit entwickelt wahrnehme.
 
Da es sich bei der Studie um eine computergestützt Inhaltsanalyse handelt, werden die Kategorien zur Klassifikation anhand des realen Materials gewonnen. Die Kategorien, zusammengefaßt im Codebook, sind dabei Abstrahierungen der Ausgangsbegriffe, die in den Texten vorkommen.

OT: Ähnliche Arbeiten liegen beispielsweise für englische Thronreden (vgl. Weber) und untersuchen den Zusammenhang zwischen den Aussagen in Dokumenten / Reden und der spezifischen Problemlage in Gesellschaften zu bestimmten historischen Zeitpunkten.

Weber, Robert P. (1982): The long-Term Dynamics of Societal Problem-Solving: A Content-Analysis of British Speeches from the Throne, 1689-1972*. In: Eur J Political Res 10 (4), S. 387–405.

Und sie legen im technischen Anhang offen, welche Textpassagen als Indikator für welche moralischen Werte anzusehen sind. Zudem ist diese Studie, soweit man es sehen kann, sehr stark durch entsprechende theoretische Arbeiten in der Phase der Hypothesenbildung bzw. der Formulierung der Kategorien angeleitet gewesen.

Ansonsten:
Sie schreiben ja, um welchen Moralbegriff es ihnen geht. Dabei ist der Begriff "Moral" eher irreführend.

"And, according to the theory of morality- as- cooperation, it is precisely these multiple solutions to problems of cooperation – this collection of instincts, intuitions, inventions and institutions – that constitute human morality (Curry 2005, 2016)."
 
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Sie schreiben ja, um welchen Moralbegriff es ihnen geht. Dabei ist der Begriff "Moral" eher irreführend.

"And, according to the theory of morality- as- cooperation, it is precisely these multiple solutions to problems of cooperation – this collection of instincts, intuitions, inventions and institutions – that constitute human morality (Curry 2005, 2016)."

Die genannten Regeln gehen mit den herkömmlichen Moralregeln aber doch weitgehend konform.

Zudem betonen die Autoren, dass Tapferkeit, worauf ich oben hingewiesen habe, eine Tugend (virtue) ist, siehe:

Seite 49:
(the “heroic virtues” of bravery, fortitude, skill, and wit)

So auch der Autor einer anderen älteren Studie zum gleichen Thema (Morality as Cooperation: A Problem-Centred Approach, S. 35) aus dem Jahr 2016, welche das gleiche Regelschema wie die von Silesia verlinkte Studie bietet, mit dem Unterschied, dass Mut und Unterordnung in eine gemeinsame Kategorie fallen, die in sich gespalten ist (hawk vs. dove).

https://www.the-brights.net/morality/statement_1_studies/DOI/10.1007_978-3-319-19671-8_2.pdf

Morality as cooperation predicts that resolving conflicts by means of contests will give rise to two apparently opposing sets of moral values, reflecting the two branches of the ‘display–defer’ strategy—the virtues of the hawk and the virtues of the dove.

Für mich bleibt die Mut-Kategorie im Rahmen der morality-as-cooperation-Theorie dennoch problematisch. Mut kann sich sehr wohl auch in Taten zeigen, die nicht "kooperativ" sind, zum Beispiel beim Tyrannenmord, wenn ein Einzelner zwar im Interesse der Gesellschaft handelt, aber eben nicht kooperativ. Mut kann sich aber auch in Taten zeigen - und das ist ein noch gravierenderes Logikproblem -, die gegen die Interessen der Gesellschaft gerichtet sind, wenn z.B. die Leibwächter eines Tyrannen ihr Leben riskieren, um einen Tyrannenmörder abzuwehren.

Mut kann sich zudem in Taten erweisen, die eine Gesellschaft aus einem guten in einen schlechten Zustand überführen, z.B. wenn eine demokratische Regierung gewaltsam gestürzt wird, um eine Diktatur einzuführen. Die Putschisten setzten dabei ihr Leben aufs Spiel, handeln aber nach Kriterien, die wir sicher nicht ´gut´ nennen würden, weil es ihnen um die Etablierung eines Systems geht, in dem die Regeln der morality-as-cooperation gewiss nicht vollumfänglich zur Geltung kommen.

Mehr noch, Mut kann als moralischer Wert in Gesellschaften gelten, die herzlich wenig morality-as-cooperation aufweisen, wie z.B. die mittelalterlichen feudalen Gesellschaften, in denen ritterliche Tapferkeit gepriesen wurde, wobei doch leicht vergessen wird, wie unmenschlich die meisten Ritter das niedere Volk behandelten, auch in Schlachten, wenn wehrlose Gegner, die am Boden lagen, von ihnen grausam in Stücke gehackt wurden.

Mut steht also nicht zwingend in Beziehung mit Moral, auch nicht mit der morality-as-cooperation. Er kann auch dazu beitragen, dass Gesellschaften entstehen und bestehen bleiben, die mit der morality-as-cooperation nicht vereinbar sind.

Von daher bin ich mir nicht sicher, ob diese Kategorie zum Regelset der morality-as-cooperation mit der gleichen Unbedingtheit wie die anderen Regeln gehören sollte. Sie impliziert einfach zu viele Ungereimtheiten.
 
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Von Curry stammt eine ausführliche Auseinandersetzung mit "morality as cooperation", in der seine Überlegungen dargestellt wird.

Das Abstrakt sagt folgendes:

What is morality, where does it come from, and how does it work? Scholars have struggled with these questions for millennia. But we now have a scientific answer. The theory of ‘morality as cooperation’ uses the mathematics of cooperation—the theory of nonzero-sum games—to identify the many distinct problems of cooperation and their solutions, and it predicts that it is the solutions employed by humans that constitute ‘morality’.

Thus, morality turns out to be a collection of biological and cultural solutions to the problems of cooperation and conflict recurrent in human social life. This theory generates a comprehensive taxonomy of moral values—a Periodic Table of Ethics—that includes obligations to family, group loyalty, reciprocity, bravery, respect, fairness, and property rights.

And because morality as cooperation makes principled predictions about the structure and content of human morality, which can be tested against those of rival theories, it reveals that the study of morality is simply another branch of science.


und ausführlicher
https://www.the-brights.net/morality/statement_1_studies/DOI/10.1007_978-3-319-19671-8_2.pdf

und seine PhD Thesis
http://etheses.lse.ac.uk/2/

Erster Eindruck: Ungewöhnlicher theoretischer Ansatz, der m.E. wichtige Aspekte ausblendet. Und auch bei der Diskussion des "Moralbegriffs" selektiv vorgeht.

 
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