Anatevka

Gneisenau

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In dem Musical „Anatevka" (Fiddler On The Roof) nach dem Roman „Tewje der Milchmann" von Scholem Alejchem wird eine Welt beschrieben, die es heute nicht mehr gibt. Es ist die Welt des religiös geprägten jüdischen Lebens in Osteuropa, vor allem in Ostpolen, Galizien, der Ukraine und Weißrussland.

Die Geschichte von Tewje und seiner Familie spielt um das Jahr 1905 in dem ukrainische Dörfchen Anatevka. Zu damaliger Zeit fanden sich besonders in der westlichen Ukraine zahlreiche jüdische Gemeinden. Die Juden lebten überwiegend in den Schtetl (Siedlungen mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil) und den Schtot (jüdisch geprägten Städten), wie Lemberg oder Czernowitz.

Der Untergang dieser Welt begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als es aufgrund teilweise staatlich gelenkter Pogrome zu einer Auswanderungswelle von Juden aus dem damaligen Russischen Reich kam. Danach litten die Juden in Galizien, der Ukraine und Weißrussland ebenso wie die gesamte Bevölkerung unter den Folgen der Revolution und des Bürgerkrieges. So wurden nach dem Einmarsch polnischer Truppen in Lemberg im November 1918 bei einem darauf hin folgenden Pogrom ca. 1.000 Juden von polnischen Soldaten ermordet. In den 30er Jahren fielen alleine in der Ukraine ca. 6 Millionen Menschen Stalins Terrorregime zum Opfer. Schließlich brachte die Shoah die nahezu vollständige Vernichtung des Ostjudentums und der Welt der Schtetl bzw. der Schtot. Alleine in Lemberg und Umgebung wurden während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg bis zu 400.000 Juden umgebracht.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist ein zunehmendes Interesse der verbliebenen osteuropäischen Juden an Religion und Tradition festzustellen. Heute leben in der Ukraine bis zu 500.000 Juden, hauptsächlich in Kyiw (Kiew) und den Gebieten (Oblast) Odessa, Dnipropetrowsk und Charkiw. Allerdings ist die Zahl aufgrund starker Abwanderungstendenzen schwer zu schätzen. So begrüßenswert die Immigration osteuropäischen Juden nach Deutschland auch ist - jüdische Kultur ist unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft - so ist sie doch im Hinblick auf die jüdischen Gemeinden in den Herkunftsländern nicht unbedenklich.

Zum Abschluss noch ein touristischer Vorschlag: Kyiw (Kiew), die Geburtsstadt von Golda Meir, heute Boomtown im „Wilden Osten". Eine Stadt mit bewegter Geschichte und zahlreichen historisch interessanten Bauwerken wie z. B. der weltberühmten Klosteranlage Pechers´ka. Von Kiew aus lässt sich auch ein Besuch der Gedenkstätte Babyj Jar organisieren. Auf jeden Fall sollte man das empfehlenswerte jüdische Restaurant „King David" besuchen. Vom Maidan aus, dem Platz der Orangenen Revolution, geht man auf der der Straße Khreschatyk in Richtung Sportpalast und Stadion der Republik. In der Nähe befinden sich die Synagoge und das „King David".

Gneisenau
 
Der Untergang dieser Welt bedeutet auch das zunehmende Verschwinden des "Jiddischen", einer Sprache,die auf besondere Art Herzenswärme und Humor, aber auch Alltägliches und Widrigkeiten des Lebens auszudrücken vermag. Ein nicht wiedergutzumachender Verlust.
Neben "Tewje" bieten Scholem Alejchems "Eisenbahngeschichten" (an anderer Stelle schon einmal erwähnt) einen lebendigen Einblick in die Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung der Ukraine, Bessarabiens etc., erzählen vom Umgang mit den vielfältigen Bedrohungen...
 
Die deutsche Sprache ist voll mit jiddischen Wörtern.
Übrigens die jiddische 14 wird "ferzn" gesprochen.

Das ist wohl wahr. Dennoch wird Jiddisch nur noch von wenigen gesprochen, so z.B. von Chassidim in Mea Shearim.
Langsam gesprochen ist es recht gut zu verstehen.
 
In Israel erlebt Jiddisch allerdings wieder eine Renaissance, nicht zuletzt durch Einwanderer aus Russland. In den USA scheint Jiddisch an der Volkshochschule ziemlich gefragt zu sein. In Jerusalem unterhielt ich mich mit einem Antiquitätenhändler, worauf mich ein Amerikaner ansprach, der mir Elogen machte, wie gut ich Jiddisch könne.

Wie Hurvinek schon schrieb, gibt es eine Menge jiddischer Wörter, vor allem in der Umgangs- und Vulgärsprache:

Hals- und Beinbruch, doof, meschugge, marode sein, Schickse, Schore, den Talles haben, etc. etc.
 
Mein Lieblingswort aus dem Jiddischen ist: Schickse oder auch Schixe :D

Das passt vortrefflich auf die Damen meiner Generation die meinen sich Kleiden zu müssen, wie... nunja ... :D :D :D

Soviel ich weiß bedeutete es ursprünglich soviel wie "liederliche Frau"
 
Mein Lieblingswort aus dem Jiddischen ist: Schickse oder auch Schixe :D

Das passt vortrefflich auf die Damen meiner Generation die meinen sich Kleiden zu müssen, wie... nunja ... :D :D :D

Soviel ich weiß bedeutete es ursprünglich soviel wie "liederliche Frau"

Meines Wissens stand der Ausdruck "Schikse" ursprünglich für die gojische, d.h. nicht jüdische Frau
 
Friday night we'll be drinkin' Manischewitz, goin' out to terrorize goyim
Stompin' shegetz, screwin' shiksas, as long as we're home by Saturday mornin'
'Cause hey, we're the Brews, sportin' anti-Swastika tattoos — Oi! Oi!
We're the boys, the Orthodox, Hasidic, O.G. Ois
 
Hals- und Beinbruch, doof, meschugge, marode sein, Schickse, Schore, den Talles haben, etc. etc.

es geht hier weiter:
Zoff, Techtelmechtel, Stuss, einschleimen, Reibach, schachern, Ramsch, Pleitegeier (eigentlich der auf die Flucht gehende), petzen, malochen, verkohlen, Kaff, Großkotz, Ganove, ausgekocht, Mumm
 
es geht hier weiter:
Zoff, Techtelmechtel, Stuss, einschleimen, Reibach, schachern, Ramsch, Pleitegeier (eigentlich der auf die Flucht gehende), petzen, malochen, verkohlen, Kaff, Großkotz, Ganove, ausgekocht, Mumm

Der "gute Rutsch" kommt von "rosh" = Kopf, "rosh ha shana" = Kopf des Jahres, also Neujahr.

Inder Sammlung fehlt noch der Schlamassel, oder habe ich den etwa übersehen? Aber den will ja auch keiner...

Darum allen masel tow!
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Wobei die meisten Wörter, die wir bis jetzt eingebracht haben ja keine genuin jiddischen Wörter sind, sondern Hebraismen im deutschen Dialekt Jiddisch. Also Lehnwörter, die von dem Hebräischen zunächst in den *Idiolekt und schließlich in die deutsche Gemeinsprache eingegangen sind.

*Idiolekt ist hier eigentlich der falsche Begriff, da es die Sprache des Einzelnen ist. Aber wie will man das Jiddische sonst bezeichnen? Als Dialekt? Funktiolekt? Sozioloekt? Irgendwie treffen diese Begriffe alle nicht ganz.
 
Wobei die meisten Wörter, die wir bis jetzt eingebracht haben ja keine genuin jiddischen Wörter sind, sondern Hebraismen im deutschen Dialekt Jiddisch. Also Lehnwörter, die von dem Hebräischen zunächst in den *Idiolekt und schließlich in die deutsche Gemeinsprache eingegangen sind.

*Idiolekt ist hier eigentlich der falsche Begriff, da es die Sprache des Einzelnen ist. Aber wie will man das Jiddische sonst bezeichnen? Als Dialekt? Funktiolekt? Sozioloekt? Irgendwie treffen diese Begriffe alle nicht ganz.


Da streiten sich selbst die Gelehrten. Aber wir können uns jedenfalls darauf einigen, dass Jiddisch im Allgemeinen und die ins Deutsche eingegangenen Lehnwörter im Speziellen eine Bereicherung sind.

@ Scorpio
In welcher Sprache hast Du Dich denn mit dem Antiquitätenhändler unterhalten? Auf Deutsch oder in Jiddisch? Denn ich will mal nicht völlig ausschließen, dass ein (nichtjüdischer) Ami Deutsch für Jiddisch halten kann. Es soll ja auch US-Präsidentenbewerber geben, welche Putin für den deutschen Präsidenten halten.

Gneisenau
 
@ Scorpio
In welcher Sprache hast Du Dich denn mit dem Antiquitätenhändler unterhalten? Auf Deutsch oder in Jiddisch? Denn ich will mal nicht völlig ausschließen, dass ein (nichtjüdischer) Ami Deutsch für Jiddisch halten kann. Es soll ja auch US-Präsidentenbewerber geben, welche Putin für den deutschen Präsidenten halten.

Gneisenau

Ich hatte Scorpio so verstanden, dass die Verwechslung von Deutsch und Jiddisch durch den Amerikaner als Pointe zu sehen sei. Vielleicht habe ich mich ja geirrt.
 
Da streiten sich selbst die Gelehrten. Aber wir können uns jedenfalls darauf einigen, dass Jiddisch im Allgemeinen und die ins Deutsche eingegangenen Lehnwörter im Speziellen eine Bereicherung sind.

@ Scorpio
In welcher Sprache hast Du Dich denn mit dem Antiquitätenhändler unterhalten? Auf Deutsch oder in Jiddisch? Denn ich will mal nicht völlig ausschließen, dass ein (nichtjüdischer) Ami Deutsch für Jiddisch halten kann. Es soll ja auch US-Präsidentenbewerber geben, welche Putin für den deutschen Präsidenten halten.

Gneisenau

Ich hab zwar an der Uni mal einen Jiddischkurs gemacht, aber meine Kenntnisse sind wirklich sehr, sehr marginal. Wir sprachen Deutsch.

Es schreibt ja Marcel Reich- Ranicki in seiner Biographie dass er glaubte, die Sprache Walther von der Vogelweides und Wolfram von Eschenbachs zu hören, als er im Warschauer Ghetto erste Erfahrungen mit Jiddisch machte.
 
Ich hab zwar an der Uni mal einen Jiddischkurs gemacht, aber meine Kenntnisse sind wirklich sehr, sehr marginal. Wir sprachen Deutsch.

Es schreibt ja Marcel Reich- Ranicki in seiner Biographie dass er glaubte, die Sprache Walther von der Vogelweides und Wolfram von Eschenbachs zu hören, als er im Warschauer Ghetto erste Erfahrungen mit Jiddisch machte.

Es gibt in Trier eine Fakultät der Jiddistik, warst Du dort?
Kannst Du vielleicht die Frage beantworten, ob es nach Isaac B. Singer einen jiddisch schreibenden Autor gibt?
 
Am Holocaust-Gedenktag wurde im Bayerischen Fernsehen unter dem Titel "Der unbekannte Soldat" eine Doku ausgestrahlt.

Dabei wurden auch Wochenschauaufnahmen gezeigt über den Einmarsch der Wehrmachtverbände in der Ukraine im Sommer 1941. Am Wegesrand standen junge Mädchen mit Blumen, welche den vorrückenden deutschen Soldaten zujubelten, sowie ältere Frauen mit Kreuzen und Heiligenbildern, welche die deutschen Panzer segneten. In Lemberg wurden unter dem Jubel der Bevölkerung die Symbole von Stalins Terrorherrschaft gestürzt. Aber noch während die Befreiung vom Stalinismus gefeiert wurde, kam es zu den ersten Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung in Lemberg. Die Ukrainer suchten Schuldige, an denen sie ihren Hass auf Stalins Regime abreagieren konnten. „Die Bevölkerung liefert die Sowjetkommissare und GPU-Schergen an die deutschen Soldaten aus, damit sie ihrer gerechten Strafe nicht entgehen". So kommentierte der Wochenschausprecher die Aufnahmen, bei denen Ukrainer jüdische Männer zur deutschen Kommandantur treiben.

Zugegeben, der „Jüdische Kommissar mit der Lederjacke" war nach dem Russischen Bürgerkrieg zu einem Synonym für den bolschewistischen Terror geworden. Hierfür aber die jüdische Bevölkerung in der Ukraine insgesamt verantwortlich zu machen, war absurd. Tatsächlich hatten sich die wahren Schuldigen, die Kommissare, Funktionäre sowie GPU-Polizisten und Spitzel, rechtzeitig aus dem Staub gemacht und waren mit der Roten Armee abgezogen. Die jüdischen Frauen, welche vom Mob nackt durch die Straßen von Lemberg getrieben wurden, waren für Stalins Terror ebenso wenig verantwortlich wie die deutschen Frauen, welche später in den Ostgebieten von Rotarmisten vergewaltigt und massakriert werden sollten, für Hitlers Verbrechen.

Natürlich wurden die Bilder der jüdischen Frauen, welche Opfer des Mobs wurden, in der Wochenschau nicht gezeigt. Dort sah man jüdische Männer, während der Wochenschausprecher kommentierte: „Verbrecher, Gesindel, Diebe, Betrüger, Mädchenhändler, Schieber, Hehler!" Psychologisch äußerst geschickt - passender: verbrecherisch - erzeugte man dabei Verachtung und suggerierte dem Betrachter, dass es sich bei dem Vorgehen gegen die Ostjuden, dessen letzte Konsequenz allerdings verschwiegen wurde, um eine gerechte Sache handele.

Die gezeigten Wochenschauberichte machten wieder einmal deutlich, wie die Nazi-Propaganda der Macht der Bilder eine neue, vorher nicht gekannte Dimension verschaffte. Die Wochenschauberichte waren filmtechnisch hervorragend aufgenommen und propagandistisch raffiniert aufbereitet. Welcher 17-jährige Junge wollte nicht auf einem Panzer Richtung Osten rollen, während einem dabei hübsche Mädchen zuwinken. Dieser Kreuzzug gegen den Bolschewismus zur Rettung des Abendlandes musste auf die meisten jungen Deutschen als ein Riesenabenteuer gewirkt haben, das man nicht verpassen durfte. Durch diese Form der Darstellung gelang es der Nazi-Propaganda, selbst die Mitwirkung an den Verbrechen des Holocaust als Heldentum zu verklären.

Gneisenau
 
Pogrom ist ein osteuropäisch-slawisches Wort. Pogrome im Osten fanden lange vor Einmarsch der Deutschen Wehrmacht auch statt.
Die Ukraine wurde faktisch im Handstreich genommen. Die Niederschlagung der nationalen Republiken der Ukraine 1918/1922 (Machno-Bewegung) und später durch die geplante Aushungerung Anfang der 30er Jahre durch den russisch beherrschten Kommunismus steckte tief in den Ukrainern.
Der Bolschewismus war zudem wirklich von vielen jüdischen Führungspersönlichkeiten gelenkt. Mancher bolschewistische Jude benannte sich um, um nicht als Jude erkannt zu werden.
Kamenew - eigentlich Rosenfeld
Sinowjew - eigentlich Radomyschelski-Apfelbaum
Trotzki - eigentlich Bronstein

Die Geschichtsschreibung der ehemaligen kommunistischen Staaten und ihrer Nachfolge Nationalstaaten (z.B. Polen) zur Judenverfolgung in ihrer Zeit wird sehr stiefmütterlich behandelt.

Stalin schickte die Juden ab 1928 an den Amur, um dort in einer autonomen jüdischen Republik zu wirken.
Hintergrund: in der Ukraine und auf der Krim sollten die Juden nicht weiter Fuß fassen, da deren nicht-jüdische Bevölkerung jüdische Siedlungen mit äußerster Kritik betrachteten. Stalin wollte Pogrome verhindern. Als selbsternanntes friedensliebendes Land gab es offiziell keine Judenverfolgungen.

Die Amur-Besiedlung scheitert, weil in den stalinistischen Säuberungen Mitte der 30er Jahre sehr viele Juden Opfer sowie jüdische Schulen geschlossen wurden.
 
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Übelste Pogrome gab es schon vor Jahrhunderten. 1648-56 gab es Massenverfolgungen von Juden in Ostpolen und der Ukraine durch aufständische Kosaken mit geschätzten 300.000 bis 500.000 Opfern, etwa 9/10 der jüdischen Gemeinde tot oder geflüchtet (nach W. Keller).

Das hat schon, gemessen an der damaligen Bevölkerung, Ausmaße des Holocaust. Der nicht zu vergessene entscheidende Unterschied zu diesem besteht darin, dass wir Deutsche keine marodierenden berittenen Tataren oder Kosaken waren, sondern ein "Kulturvolk des 20. Jh." Das macht ihn einmalig in der Geschichte.
 
Übelste Pogrome gab es schon vor Jahrhunderten. 1648-56 gab es Massenverfolgungen von Juden in Ostpolen und der Ukraine durch aufständische Kosaken mit geschätzten 300.000 bis 500.000 Opfern, etwa 9/10 der jüdischen Gemeinde tot oder geflüchtet (nach W. Keller).

Das hat schon, gemessen an der damaligen Bevölkerung, Ausmaße des Holocaust. Der nicht zu vergessene entscheidende Unterschied zu diesem besteht darin, dass wir Deutsche keine marodierenden berittenen Tataren oder Kosaken waren, sondern ein "Kulturvolk des 20. Jh." Das macht ihn einmalig in der Geschichte.

Das war im Rahmen des Smelnycki Kosakenaufstands, was auch für die westeuropäischen Gemeinde Folgen hatte, denn bis dahin hatten es die jüdischen Gemeinden immer irgendwie geschafft, ihre Armen zu versorgen. Durch die Polenvertreibungen wurden die Gemeinden durch die Scharen vagierender "betteljuden" total überfordert. Familiennamen und Spitznamen wie Afrom Polack, Mausche Polack oder Feist Wallach nahmen Bezug auf die Herkunft ihrer Namensträger.
 
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