Der Hinweis auf den europäischen Charakter des Antisemitismus ist berechtigt. Es gab die Dreyfus-Affäre in Frankreich und gewalttätige Pogrome in Rußland. In Österreich war die antisemitische Alldeutsche Vereinigung des Georg von Schönerer erfolgreich.
Im Deutschen Reich war der Antisemitismus besonders erfolgreich im akademischen Milieu. Dies mag mit ordinärem Futterneid der nichtjüdischen Akademiker zu tun haben.
Im 19. Jahrhundert vollzog sich in Deutschland (den deutschen Ländern) ein erstaunlicher sozialer Aufstieg des Judentums. Der Schlüssel dazu war die Bildung. Da Juden viele traditionelle Wege des Aufstiegs - Militär, Beamtentum - durch antijüdische Gesetze oder Vorurteile versperrt waren, blieb ihnen vielfach nur der akademische Bereich. Dies traf sich mit der kulturellen Affinität des Judentums zur Bildung; jeder jüdische Junge musste z.B. zur Bar Mitzwa aus der Thora vorlesen, was einen weit über der christlichen Mehrheitsbevölkerung liegenden Alphabetisierungsgrad zur Folge hatte. So waren Juden Pioniere der Modernisierung: Um 1900 lagen sie in allen Indizes vor der nichtjüdischen Mehrheit, d.h. sie waren urbanisierter, gebildeter, der Trend zur Kleinfamilie setzte sich bei ihnen ein, zwei Generationen früher durch, und als Resultat waren sie meist deutlich wohlhabender als ihre christlichen Mitbürger.
Schließlich waren Juden in vielen Fachbereichen der Universitäten gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung geradezu grotesk überrepräsentiert. Es ging der Witz, Doktor sei ein jüdischer Vornahme; vor dem Ersten Weltkrieg waren etwa die Hälfte aller Rechtsanwälte in Berlin Juden und etwa 70% aller Ärtzte in Wien.* Die nichtjüdischen Akademiker waren deshalb besonders Anfällig für Ressentiments und Verschwörungstheorien aller Art.
*Für diese Zahlen habe ich jetzt freihändig grad leider keine Literaturbelege, ich habe meine alten Vorlesungsmitschriften von Dr. Klaus Saul aus den 90er Jahren durchgesehen, den ich in diesen Punkten, wie allen anderen, für absolut seriös halte.