Belgische Neutralität

Nachtrag

Wie ich sehe, hat arcimboldo seinen Beitrag zeitgleich eingestellt, so daß ich darauf noch nicht eingehen konnte:

Wenn ich den Verweis auf die schlesischen Kriege recht verstehe, dann formulierte ich es so: Die Bezeichnung "Präventivschlag" schließt keine Berechtigung mit ein, sondern nur eine (zumeist subjektiv empfundene) Notwendigkeit zu Handeln. Ich möchte das nur aus meiner Sicht kurz klarstellen, weil ich fürchte, daß dieses Wort im Laufe der Diskussion Mißverständnisse hervorrufen könnte.

Was die Kriegszieldebatte angeht, die im Kriege begann, so geht diese mit Sicherheit aus einer Gefühls- oder Meinungslage aus der Vorkriegszeit hervor. Ob allerdings der möglicherweise schon vor 1914 vorhandene Gedanke, Belgien sei ein anglo-französischer Vasallenstaat, die Wahl der Angriffsmittel gegen Frankreich beeinflußt hat oder haben kann, dürfte schwer nachweisbar sein. Ich sage das, weil ich Deinen Schlußsatz dahingehend deute, daß die Kriegszieldebatte vielleicht Rückschlüsse auf eine derartige Ansicht vor dem Kriege zuläßt.
 
Hierzu könnte man zwei weitere Klassiker anführen:
Ein Fehler in der Aufstellung ist im Gefecht nicht mehr korrigierbar ... und ... Jeder Operationsplan ist nach der ersten Gefechtsberührung überholt.

Über den Schlieffen-Plan sind nach dem Ersten Weltkrieg Kübel von Kritik ausgegossen worden. Ich meine aus dem Stand, dass Frieser dieses kritisch untersucht und davon trotz der Fehler davon abweicht (in seinem Buch geht es allerdings primär um den Operationsplan für Fall Gelb, 1940, Westfeldzug).

Grüße
Thomas

EDIT: Nachsatz:
Die Begehrlichkeiten der z.B. Marine würde ich nicht zu hoch bewerten. Das ist gehört in die Kategorie "Ansprüche anmelden". An der Seekriegslage und der strategischen Blockademöglichkeit durch die überlegene britische Flotte in der Nordsee änderte das 1914-1918 nichts (trotz der U-Boot-Stützpunkte).
In dem Zusammenhang ist vielleicht auch einmal auf die respektierte Neutralität der Niederlande zu verweisen, hier gab es keine Militärplanung, die aus operativen Überlegungen heraus zur Besetzung führte. Auch das zeigt, so meine ich, dass die Neutralitätsverletzung Belgiens dem Grunde nach durch die Schlieffen-Planung ausgelöst wurde.


Soviel hat beim Schlieffenplan zum Erfolg nun auch wieder nicht gefehlt.
ABER ..... es hätte sich die Situation vom Juli 1940 ergeben.

Pickelhaubenbehelmte mit langen Gesichtern am Kanal. Allerdings mit einer wesentlich stärkeren Flotte im Kreuz. Aber ohne Luftwaffe. Ergo: Das einzig erfolgversprechende wäre nicht der Schlieffenplan gewesen, sondern dass wenigstens ernsthaft versucht worden wäre England heraus zu halten.

Die Politik des DR ab 1914 ist pures Hasardspiel. Grand Hand ohne Vieren. Schneider schwarz angesagt. Mit Contra und Ré.

Im Verlustfall wird sowas richtig teuer. Siehe Beispiel.
 
Zuletzt bearbeitet:
Pickelhaubenbehelmte mit langen Gesichtern am Kanal. Allerdings mit einer wesentlich stärkeren Flotte im Kreuz. Aber ohne Luftwaffe. Ergo: Das einzig erfolgversprechende wäre nicht der Schlieffenplan gewesen, sondern dass wenigstens ernsthaft versucht worden wäre England heraus zu halten.

Hallo Repo.

da hast Du völlig recht, der Schlieffen-Plan gibt auch hier keine Lösung her. Die hätte nur in der politischen Behandlung der Krise liegen können.

Das zeigt aber zusätzlich, dass Belgien hier das Opfer einer deutschen Operationsplanung geworden ist, mit Besetzungsplänen und Positionsverbesserung hat das im Ursprung wenig zu tun.

Die Frage, was nach einer erfolgreichen Umsetzung der Schlieffen-Planung geschehen wäre-hätte-können-müßte, gehört in die "spannende" Rubrik "was-wäre-wenn", wo man sich die Köpfe einschlagen könnte (Italien - U-Boote-Krieg - französische Flotte - Rußland - USA - Blockademöglichkeit Kontinentaleuropas ...).
Grüße
Thomas
 
Die Frage, was nach einer erfolgreichen Umsetzung der Schlieffen-Planung geschehen wäre-hätte-können-müßte, gehört in die "spannende" Rubrik "was-wäre-wenn",

Ganz zweifellos.

Aber es zeigt doch auf, dass der Schlieffenplan, mit dessen Umsetzung man ja den britischen Kriegseintritt in Kauf nahm, durch diesen wirkungslos wurde.

Es sei denn, man ging von einem unausweichlichen britischen Kriegseintritt aus.

Die Mißachtung neutraler Staaten scheint mir 1914/1918 allgemein "Mode" gewesen zu sein, als Beispiel wäre Japan in China (beim Angriff auf Tsingtau) oder England/Frankreich in Griechenland zu nennen. Die Neutralität Albaniens hat gleich gar niemanden interessiert.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wäre es vielleicht von Interesse, statt die Frage der belgischen Neutralität zu untersuchen lieber ein neues Thema zum Schlieffenplan zu eröffnen, z.B: Beruhte der Schlieffenplan 1914 auf realistischen politischen und militärischen Voraussetzungen?
Wenn ich persönlich diesen Plan, allein schon vor dem Hintergrund in Kauf genommenen Unrechts, skeptisch betrachte, so muß ich doch zugeben, daß er selbst in seiner reduzierten Form 1914 fast zum Erfolg geführt hätte, wie Repo bereits erwähnte.
 
Wäre es vielleicht von Interesse, statt die Frage der belgischen Neutralität zu untersuchen lieber ein neues Thema zum Schlieffenplan zu eröffnen, z.B: Beruhte der Schlieffenplan 1914 auf realistischen politischen und militärischen Voraussetzungen?
Wenn ich persönlich diesen Plan, allein schon vor dem Hintergrund in Kauf genommenen Unrechts, skeptisch betrachte, so muß ich doch zugeben, daß er selbst in seiner reduzierten Form 1914 fast zum Erfolg geführt hätte, wie Repo bereits erwähnte.

Ich habs mal vorher nachgelesen:
ab 1911/12 ging der Generalstab davon aus, dass der britische Kriegseintritt auf jeden Fall erfolgen würde.
Der "Große Ostaufmarsch" wurde ab 1913 auch nicht mehr weiter bearbeitet.


In den 1880er Jahren seien in der englischen Presse Pläne diskutiert worden, "den Deutschen ein beschränktes Durchmarschrecht" durch Belgien zu gewähren, um England aus einem sich entwickelnden Krieg heraushalten zu können. Bismarck hätte aber "dankend" verzichtet.

Also irgendwelche Pläne scheinen schon sehr lange herumgeschwirrt zu sein.


Quelle für beides: Deutsche Militärgeschichte 1649-1939 Band 4
 
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Die Mißachtung neutraler Staaten scheint mir 1914/1918 allgemein "Mode" gewesen zu sein, als Beispiel wäre Japan in China (beim Angriff auf Tsingtau) oder England/Frankreich in Griechenland zu nennen. Die Neutralität Albaniens hat gleich gar niemanden interessiert.
So gesehen zieht m.E. die "moralische Karte" Englands zum Kriegseintritt nicht mehr.
 
So gesehen zieht m.E. die "moralische Karte" Englands zum Kriegseintritt nicht mehr.

Hallo Tekker,

es war keine moralische, sondern eine "vertragliche Karte", basierend auf dem Londoner Protokoll/Garantieabkommen 1830/39 (Großbritannien zusammen mit weiteren Staaten).

Man sollte halt immer damit rechnen, dass es Staaten gibt, die ihre Verträge einhalten. Das ist keine Frage von Moral.

Grüße
Thomas


EDIT: http://de.wikipedia.org/wiki/Belgische_Revolution
 
Der Schlieffenplan war natürlich ein sehr riskantes Projekt, und auch wenn man 1914 größere Erfahrung in der Führung von Massenheeren besessen hätte und die russische Mobilmachung langsamer vonstatten gegangen wäre, war die Erfolgsaussicht von Anfang an ziemlich gering. Allerdings hatte das Reich auf diplomatischer Bühne eine ganze Reihe von Schlappen erlitten. Das Mißtrauen in die deutsche Politik war gewachsen und der Spielraum für deutsche "Weltpolitik" war damit sehr eng geworden. Militärisch aber, war das Reich stärker als jede einzelne der europäischen Großmächte. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Rüstungsanstrengungen in Rußland untergrub die Vorraussetzungen für ein günstiges Gelingen des Schlieffenplanes. In dem Maße, wie sich das deutsche Reich diplomatisch isolierte, wuchs bei den Verantwortlichen die Bereitschaft zu einer Flucht nach vorn, zum Präventivschlag zu einem Zeitpunkt, in dem das Deutsche Reich einen großen europäischen Krieg noch gewinnen zu können glaubte. Unter dem Druck der Prämissen des Schlieffenplanes schlug man dann schließlich los, womit sich die deutsche Politik auch bei den Neutralen in ein schlechtes Licht rückte.
 
Der Militärisch aber, war das Reich stärker als jede einzelne der europäischen Großmächte. .

Davon geht man allgemein aus.
Lauf MGFA stimmt das aber so auch nicht. Das franz. Heer war bei wesentlich geringerer Bevölkerungszahl 1914 stärker als das deutsche. Vom russischen gar nicht zu reden.
 
Hallo Gandolf,
das berühmte Zitat.
Hast du Informationen über eine politische oder militärische Opposition gegen diese Inanspruchnahme des "Rechts" auf Notwehr?
Das interessante an dem Zitat von Bethmann Hollweg (vgl. # 6) ist weniger der erste Teil, in dem der Kanzler die Verteidigungslüge formulierte, derzufolge Deutschland sich gegen Rußland und Frankreich verteidigen müsse. Die Verteidigungslüge wurde von rechts bis links geglaubt. Nur im linken SPD-Flügel gab es opponierende Stimmen.

Bemerkenswert an dem Zitat (vgl. # 6) ist vor allem Bethmann Hollwegs Einschätzung, dass der Einmarsch in Belgien "völkerrechtswidrig" war und ein "Unrecht" darstellte. Wenn man bedenkt, dass das damalige Völkerrecht nur geringe Schranken für einen Waffengang kannte, wird klar, was Bethmann Hollweg in seiner Reichstagsrede eigentlich einräumte: die völlig grundlose und willkürliche Verletzung der belgischen Neutralität.

Diese Ehrlichkeit dauerte freilich nicht lange an. Der deutsche Einmarsch in Belgien rief in der internationalen Öffentlichkeit Befremdung und Empörung hervor. Vor allem die kleineren europäischen Staaten mussten vernünftigerweise die Befürchtung hegen, in einer entsprechenden Situation in gleicher Weise in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Briten konnten sich deshalb als diejenigen präsentieren, die für das RECHT und die SICHERHEIT gerade der kleineren Staaten eintraten, währenddessen sich das Deutsche Reich in die Rolle des OUT-LAWS begeben hatte, der auf die berechtigten Sicherheitsinteressen seiner Nachbarn keine Rücksicht nimmt.

Von dieser Welle der Empörung getroffen, versuchte man nun auch in Deutschland den Einmarsch in Belgien zu verteidigen. Berühmt ist der Aufruf "An die Kulturwelt!" vom 4.10.1914. Dieser Aufruf wurde von 93 herausragenden Gelehrten und Künstler unterzeichnet, darunter Max Planck und Gerhart Hauptmann, aber auch Juristen wie z.B. Paul Laband, Theodor Kipp und Franz von Liszt. Dieser Aufruf hatte sechs Abschnitte. Jeder Abschnitt begann mit der fett hervorgehobenen Formulierung "Es ist nicht wahr". Der Passus zum Einmarsch in Belgien lautete:

"Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen" (zitiert nach "An die Kulturwelt!" in: Jürgen von Ungern-Sternberg u.a., "Der Aufruf >>An die Kulturwelt!<<", HMRG-Beiheft Band 18, 1996, S. 144).

In der internationalen Öffentlichkeit wirkte dieser Aufruf verheerend. Der Erklärung des Kanzlers vom Rechtsbruch wurde wegen dessen Ehrlichkeit und dem Wiedergutmachungsversprechen noch ein gewisser Respekt gezollt. Der Aufruf der geistigen Elite Deutschlands hingegen schien (auch in Bezug auf das deutsche Volk) die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
Hallo Tekker,
es war keine moralische, sondern eine "vertragliche Karte", basierend auf dem Londoner Protokoll/Garantieabkommen 1830/39 (Großbritannien zusammen mit weiteren Staaten).
Man sollte halt immer damit rechnen, dass es Staaten gibt, die ihre Verträge einhalten. Das ist keine Frage von Moral.
Ich will es mal so formulieren: Wenn man zum Bereich der Moral auch die Vertragstreue zählt, war es auch eine Frage der Moral.

Weiter gefragt: Was für eine Moral hatten eigentlich jene deutschen Kritiker des britischen Kriegseintritts, die sich gar nicht mehr vorstellen konnten, dass sich eine Regierung an ihr vertraglich gegebenes Wort hielt? Und noch weiter gefragt: Was sollten eigentlich die Neutralen von einer solchen (deutschen) "Moral" halten?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich will es mal so formulieren: Wenn man zum Bereich der Moral auch die Vertragstreue zählt, war es auch eine Frage der Moral.

Da muß ich off-topic ergänzen, bis zum vorletzten Menschen:
Verträge werden gemacht, weil man der ethisch-moralischen Intergrität des Anderen nicht vertraut. Sie werden benötigt, weil ab einer bestimmten Gewichtung von Entscheidungen Interessen vor Moral gehen. Verträge werden regelmäßig gebrochen, wenn man dieses als nützlich und in den Folgen beherrschbar ansieht.

Grüße
Thomas
 
Das Thema Belgien verführt doch dazu, Details zur sog. “Schlieffen-Planung” zu berichten:

Seit Ende 1879 sahen die Moltke-Pläne (d.Ä.) im Westen eine strategische Defensive vor. Diese Planung ging davon aus, dass die Franzosen mehrere Armeen an der oberen Mosel und hinter der Maas zwischen Epinal/Verdun versammeln würden, vorwärts der Forts würden nur Kavallerie-Divisionen auftreten. Unter dem Druck der Öffentlichkeit würde nach einer Zeit des Abwartens der Einfall in Lothringen erfolgen, weswegen zwischen Hunsrück und Vogesen eine starke deutsche Stellung, im allgemeinen zur Wahrung der Offensivfähigkeit vorwärts der Saar, aufzubauen war. Eine Umgehung der starken deutschen Stellung sei unmöglich, bei Entwicklung der französischen Kräfte in die Breite würde dort zuzuschlagen sein, wo Überlegenheit herrsche. Die Moltke-Planung berücksichtigte zwei grundsätzlich mögliche französische Umgehungen der dt. Stellung: eine unwahrscheinliche durch die Schweiz/Oberrhein und eine wahrscheinliche durch Belgien. Die schwachen dt. Sicherungskräfte nördlich der deutschen Konzentration sollten sich daher ggf. sogar hinter den Rhein zurückziehen, die elsäßische Deckungsgruppe auf Straßburg. Die dt. Hauptgruppe sollte im Gegenschlag nach Nordwesten die frz. Hauptkräfte in Belgien stellen, angreifen und vernichten.

Moltkes Nachfolger Graf Waldersee hielt am Grundgedanken der strategischen Defensive fest. Nur bei beweglicher Abwehr sollten bei Gelegenheit unterlegene frz. Kräftegruppen (z. B. in Belgien vorgerückt) angegriffen werden.

Schlieffen legte in seiner Denkschrift 1894 das Schwergewicht der Kriegführung auf den westlichen Schauplatz. Angesichts der gewachsenen gegnerischen Streitkräfte und der Erweiterung des Operationsfeldes sollte die eigene Armee bei Saarburg aus der eigenen Stellung herausgehen und frühzeitig angreifen. Die Offensive sollte zugunsten der Frühzeitigkeit auch bei Unterlegenheit gegen die Summe der Kriegsgegner als Präventivschlag gegen die schwächere Seite geführt werden. Seine Denkschrift von 1894 empfahl im Prinzip noch den reinen Frontalangriff, mit der Schlüsselstellung Nancy und der Umgehung von Verdun. Eine große operative Umfassung wurde nicht erwogen.

Die frz. Festungsfront wurde nun Jahr um Jahr stärker ausgebaut. Auch mit der immer stärkeren eigenen Artillerie reduzierten sich die Aussichten dieser ersten Schlieffen-Planung immer mehr.

Statt einer frz. Offensive wurde nun ein erstes Abwarten Frankreichs unterstellt, bis aus Deutschland zum Osten gegen Russland Truppen abgezogen werden müssten. Unverändert wurde hinter der Mosel die Masse der frz. Kräfte in der Versammlung unterstellt. Ein Präventivschlag hiergegen war nunmehr frontal gedacht chancenlos, weswegen Schlieffen aus „zwingenden operativen Gründen“ die notwenige Offensive um Verdun herum zur Beschleunigung durch belgisches Territorium vorschlug. Er war dabei wie Moltke d.Ä. der Ansicht, dass die frz. Offensive ebenfalls durch belgisches Territoium führen würde, und sich nicht zwischen Oberrhein und luxemburgischer Grenze zusammen pressen ließe. Der Aufmarschplan von 1898/99 enthielt zum ersten Mal sechs dt. Armeen in der Linie St. Vith-Trier-Saabrücken-Saarburg-Straßburg, eine siebte Armee gestaffelt hinter dem rechten Flügel, bereit zum Vormarsch durch Belgien. Die Landung des englischen Expeditionskorps wurde in der Festung Antwerpen für möglich gehalten. Sodann sollte der berüchtigte deutsche Schwenk um Verdun herum in der Offensive geführt werden (was aber nach der Planung immer chancenloser wurde).

Operativ konsequent verschob Schlieffen die dt. Konzentration immer weiter nach rechts, um überhaupt noch zu einer Umfassung kommen zu können. Dieses gipfelte in der Denkschrift von Dez. 1905: „Ganz Frankreich muss als eine einzige große Festung betrachtet werden“, die Linie bis Verdun ist uneinnehmbar, nur noch zwischen Lille und Dünkirchen durchbrechbar (1905 Plan Aufmarsch I). Dazu musste die Masse der Kräfte im Westen stehen, mit der Konzentration auf dem rechten Flügel. Das englische Exp.Korps sollte in Antwerpen eingeschlossen werden, gegen Elsaß-Lothringen wurde eine frz. Offensive erwartet.

Schlieffen plante damit eine völlige und riesige Vernichtungsschlacht gegen das frz. Heer, welches von rückwärts gegen die Moselfestungen, Jura und Schweiz zu drücken sei. Die Operation sollte anfangs auf Kosten des linken dt. Flügels bei der Verteidigung Elsaß-Lothringens geführt werden, dieses war sogar eine Voraussetzung für den deutschen Erfolg. Der schwache Flügel sollte zunächst sogar auf Nancy angreifen, um die große frz. Offensive damit zu provozieren: möglichst viel frz. Kräfte waren durch möglichst wenig deutsche Kräfte zu binden.

Der strategische Grundgedanke der Schlieffen-Planung entspricht damit dem Drehtüreffekt der Sichelschnittplanung von Manstein 1940, allerdings mit Drehtüreffekt gegen den Uhrzeigersinn. Beide Umfassungsstrategien planten die Verletzung der belgischen Neutralität mit ein, einmal zur Beschleunigung der Umfassung (Schlieffen), einmal als Sammelbecken der Umfassung (Manstein).

Die Denkschrift und Planungen dienten Moltke d.J. als Grundlage. 1908 nahm er eine Veränderung der Kräftekonzentrationen vor, eigentlich planwidrig und inkonsequent zu Gunsten des linken Flügels. Die Schwächung ging weiter: erstmals 1908/09 im Aufmarschentwurf wurde ein Armeekorps zur Deckung des Elsaß eingesetzt, sowie die Sicherung des Oberrheins durch einige Brigaden. In den folgenden Jahren wurden die Elsaß-Kräfte weiter verstärkt (7. Armee mit 4 Korps Weißenburg-Straßburg). Während sich Schlieffen das Kräfteverhältnis rechts-links mit 7:1 vorgestellt hatte, schwächte Moltke dieses bis zur Planung 1914 auf 3:1 ab. Aus der Hinterlassenschaft Moltkes d.J. ist zu entnehmen, dass er nun mehr als Schlieffen mit einer sofortigen frz. Offensive rechnete, um die 1871 verlorenen Provinzen zurück zu erobern. Gerade dieser Versuch hätte jedoch der Schlieffen-Planung prinzipiell entsprochen.

Das Mob.-Jahr 1914/15 hatte schließlich folgende Planung: „Die Hauptkräfte des deutschen Heeres sollen durch Belgien und Luxemburg nach Frankreich marschieren. Ihr Vormarsch ist - sofern die über den frz. Vormarsch vorliegenden Nachrichten zutreffen – als Schwenkung unter Festhalten des Drehpunktes Diedenhofen-Metz gedacht. Maßgebend für das Fortschreiten der Schwenkung ist der rechte Flügel. Die Bewegung der inneren Armeen werden so geregelt, dass der Zusammenhang des Heeres und der Anschluß an Diedenhofen-Metz nicht verloren geht. Den Schutz der linken Flanke sollen neben den Festungen Diedenhofen und Metz die südöstlich Metz aufmarschierenden Heeresteile übernehmen.“ Sollten die Franzosen die Entscheidung im Süden sofort suchen, war die Schwenkung abzubrechen, mit allen in Belgien verfügbaren Kräften nach Süden zu marschieren und der Hauptentscheidung zuzuführen. Auch Mansteins Planungen zum Sichelschnitt lassen sich genau so nachvollziehen, wenn sie vor dem Hintergrund des „umgekehrten Drehtüreffektes“ beim Schlieffen-Plan betrachtet werden (Hart, Frieser).

Die frz. wie die dt. Militärdoktrin 1914 war einseitig auf Angriff fixiert. Das zeitliche Gegenstück zum Schlieffen-Plan ist Joffres Plan XVII. Diese geplante frz. Offensive nach Elsaß-Lothringen hinein wäre in die gestellte „Falle“ des Räderwerks des Schlieffens-Plans geraten. In der Realität des Krieges 1914 verschmähte jedoch die dt. Seite den Vorteil des frz. Angriffs. An der Grenze zu Elsaß-Lothringen spielte sich ein großer Fehler ab, als der frz. Vormarsch von dt. Seite massiv angegriffen und zurückgedrängt wurde. Der entscheidende operative deutsche Fehler lag also nicht in der Schwächung des rechten Flügels, (auch als operative Reserve wäre eine sinnvolle Zuordnung gewährleistet) sondern in der Verstärkung des linken Flügels und dem dort geleisteten erfolgreichen Widerstand (Frieser, Blitzkrieg-Legende). Die dt. Verbände waren nun so stark geworden, dass sie den von Schlieffen geplanten frz. Vormarsch aufhielten statt zu beschleunigen. Der gedachten Drehtürbewegung wurde damit diametral Widerstand entgegen gesetzt (dabei spielten auch Rivalitäten der Bayern – links – und der Preußen – rechts – eine Rolle). Schlieffens Planung war vielmehr: „gehen die Franzosen über den Oberrhein, wird ihnen im Schwarzwald (!) Widerstand geleistet.“. Dieses wurde von national gesinnten Militärkreisen, auch vom Kaiser, aus Prestigegründen verworfen.

Moltke d.J. hätte 1914 aufgrund des tatsächlichen Ablaufs ein zweites Sedan schlagen können (Wallach, Das Dogma der Entscheidungsschlacht). Schlieffen war an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig: Er hatte den Umfassungsgedanken bis 1905 nahezu mystifiziert, der dt. Generalstab steigerte sich so regelrecht in einen „Umfassungswahn“ hinein (Frieser), und beschäftigte sich nur noch mit der großen Ausholbewegung über Lille, nicht mit der kleinen Vernichtungsschlacht rechts um Sedan herum. Moltke d.J. war insoweit "schlieffenscher als Schlieffen selbst" und opferte die reale Möglichkeit einer operativen Umfassung zugunsten der starren Idee der strategischen Umfassung des GANZEN frz. Heeres. Frieser zitiert dazu Clausewitz: Wer über dem Unmöglichen das Mögliche versäumt, der ist ein Tor.

Ergebnis:
Die Verletzung der Neutralität Belgiens, ab 1894 eingeplant, geht damit bereits auf die von Moltke d.Ä. geäußerte Meinung eines frz. Vormarsches durch Belgien zurück. Die Neutralitätsverletzung wurde mit Wechsel zur deutschen Offensivstrategie ab 1894 bewusst im Sinne eines Präventivschlages gegen Frankreich geplant und seitdem in den deutschen Aufmarschanweisungen 20 Jahre lang fortgeschrieben. Es gibt keinerlei Verbindungen zu den diplomatischen Vorgängen des Jahres 1914.

Grüße
Thomas

Quellen: Frieser, Blitzkrieg-Legende, Der Westfeldzug 1940, Operationen Band 2
Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht
Reichsarciv, Der Weltkrieg 1914-1918, Erster Band: Die Grenzschlachten im Westen.
 
Die letzten Beiträge waren sehr interessant und ich möchte mit Rückblick auf meine eingangs gestellte Frage darauf eingehen:

Zunächst zitierte Gandolf aus einer Rede Bethmann-Hollwegs, daß England und Frankreich ohnehin entschlossen gewesen wären, die belgische Neutralität zu verletzten und Belgien dies gebilligt hätte. Wenn es sich hier nicht um reine Propaganda zur Entschuldigung des deutschen Vorgehens handelt, so müßte ich mein Fazit, daß Belgien sich korrekt verhalten hat, doch wieder in Frage stellen.
In seiner gelungenen Zusammenfassung der Schlieffen-Planung erwähnt dann silesia, daß der deutsche Generalstab davon ausging, und zwar ab einem sehr frühen Zeitpunkt, daß entweder Franzosen oder Briten belgisches Territorium für sich nutzen würden, mit welcher belgischen Beteiligung auch immer. Hier stellt sich mir erneut die Frage, was den Generalstab hierin so sicher machte? Handelt es sich um ein Ergebnis eigener Kalkulation, die das Handeln des Gegners vorauszusehen versucht, oder lagen doch Informationen vor, die diese Absichten der Ententemächte belegten? In der Schlußbemerkung hält silesia eindeutig fest, daß der Schlieffenplan über Jahrzehnte zum "liebsten Kind" des Generalstabes entwickelt und 1914 als einziger Plan zur Verfügung stand und daher umgesetzt wurde, ohne ihn auf die politische Lage abzustimmen, also unabhängig von der belgischen Haltung. In Anbetracht der allgemeinen Blindheit der führenden deutschen Militärs für geopolitische Zusammenhänge halte ich diese Ansicht auf jeden Fall für einleuchtend.

Dennoch möchte ich, ohne penetrant wirken zu wollen, auf meine soeben geäußerte Frage zurückkommen: Selbst wenn der Generalstab nur aufgrund von Planspielen zur der Ansicht kam, Frankreich oder England würden sich Belgiens bedienen, hatte er damit recht? Ließe die Quellenlage eine solche Deutung zu?

Zudem möchte ich nochmal bei den Ausführungen zum Schlieffenplan nachhaken:
Ich habe mich bislang nur mit der tatsächlichen Umsetzung 1914 befaßt und fand daher in dem historischen Rückblick viel Neues. Was mich aber erstaunt, ist die Feststellung eines der zitierten Autoren, daß Moltke die Gelegenheit gehabt hätte, ein zweites Sedan zu schlagen, wenn auch unter Aufgabe des Gesamtkonzeptes. Diese Perspektive ist mir neu und ich habe bislang eine solche Chance in der Feldzugsentwicklung nicht ablesen können. Da ich über das entsprechende Werk nicht verfüge, wäre ich erfreut, wenn an dieser Stelle dazu noch ein paar Worte gesagt werden könnten.
 
Da muß ich off-topic ergänzen, bis zum vorletzten Menschen:
Verträge werden gemacht, weil man der ethisch-moralischen Intergrität des Anderen nicht vertraut. Sie werden benötigt, weil ab einer bestimmten Gewichtung von Entscheidungen Interessen vor Moral gehen. Verträge werden regelmäßig gebrochen, wenn man dieses als nützlich und in den Folgen beherrschbar ansieht.
Hier bringst Du zwei Fragestellungen durcheinander: Die eine lautet, warum Verträge einzuhalten sind; die andere, warum Verträge gemacht werden.

Warum sind Verträge einzuhalten? Den Grund hierfür kann man sowohl im RECHT (z.B. dem Rechtsgrundsatz "pacta sunt servanda") als auch in der MORAL (Pflichttreue, Redlichkeit, Lauterkeit, Wort halten) finden. Aus der Moral ergeben sich regelmäßig strengere Maßstäbe als aus dem Recht.

Warum werden Verträge gemacht? Um Interessen auszugleichen. Der Nutzen des Vertragsabschlusses ist für die Vertragsparteien größer als das Opfer, das sie dabei bringen. Von Verträgen geht eine produktive Kraft aus. Die allermeisten Verträge werden übrigens auch eingehalten. Vertragsbrüche sind (häufig allerdings die größere Aufmerksamkeit erregenden) Ausnahmefälle - auch im Völkerrecht.

Deine These, dass Verträge abgeschlossen werden, weil man der ethisch-moralischen Integrität des Anderen nicht vertraut, verdient Widerspruch. Bei einem Vertragsabschluss steht nicht das Misstrauen im Vordergrund sondern das Vertrauen. Mit einem Partner, dem man misstraut, würde man erst gar keinen Vertrag abschließen wollen.;)
Zunächst zitierte Gandolf aus einer Rede Bethmann-Hollwegs, daß England und Frankreich ohnehin entschlossen gewesen wären, die belgische Neutralität zu verletzten und Belgien dies gebilligt hätte. Wenn es sich hier nicht um reine Propaganda zur Entschuldigung des deutschen Vorgehens handelt, so müßte ich mein Fazit, daß Belgien sich korrekt verhalten hat, doch wieder in Frage stellen.
Das musst Du nicht, wenn Du meine Beiträge (# 6, # 31) richtig lesen würdest.:winke:

Bethmann Hollweg hat in seiner am 4.8.1914 vor dem Reichstag gehaltenen Rede eingeräumt, dass Deutschland Belgien völkerrechtswidrig besetzt hat, d.h. völlig grundlos und willkürlich (vgl. # 6). Zwei Monate später haben 93 deutsche Künstler und Gelehrte sich dazu verleiten lassen, das Gegenteil zu behaupten (vgl. # 31). Das war aber KRIEGSPROPAGANDA und hatte mit den Tatsachen nichts zu tun.
eusebius schrieb:
In seiner gelungenen Zusammenfassung der Schlieffen-Planung erwähnt dann silesia, daß der deutsche Generalstab davon ausging, und zwar ab einem sehr frühen Zeitpunkt, daß entweder Franzosen oder Briten belgisches Territorium für sich nutzen würden, mit welcher belgischen Beteiligung auch immer. Hier stellt sich mir erneut die Frage, was den Generalstab hierin so sicher machte? Handelt es sich um ein Ergebnis eigener Kalkulation, die das Handeln des Gegners vorauszusehen versucht, oder lagen doch Informationen vor, die diese Absichten der Ententemächte belegten?
Zunächst einmal handelte es sich um Planspiele von Militärs, zu deren Beruf es gehört, mit allen möglichen Entwicklungen zu rechnen.

Ferner lag es in der Logik des Londoner Abkommens über die Neutralität von Belgien, dass bei einer belgischen Neutralitätsverletzung durch D die anderen Garantiemächte (insb. GB und F) Belgien zu Hilfe eilen werden. Ob sie diese Hilfe in einer effektiven Weise dann auch noch leisten können, war eine andere Frage.

Schließlich war der Schlieffenplan 1914 schon längst kein Geheimnis mehr. Kaiser Wilhelm II. hatte bei einem Belgienbesuch, Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jh., den belgischen König gefragt, ob dieser deutsche Truppen durch Belgien ziehen lassen würde, wenn es zwischen D und F zu einem Krieg kommt. Der lehnte dieses Ansinnen freilich entrüstet ab. Aber spätestens seit diesem Zeitpunkt war klar, dass im Falle eines deutsch-französischen Krieges die deutsche Armee versuchen würden, Frankreich über Belgien auszuschalten. Also gab es auch Planungen auf Seiten der Alliierten, wie man Belgien IM FALLE einer Neutralitätsverletzung durch Deutschland zu Hilfe eilen könne.

Im August 1914 ging von Belgien keinerlei Gefahr für das Deutsche Reich aus. Aber der Zug durch Belgien stellte in den Augen der zum Krieg bereiten deutschen Militärs eine Möglichkeit dar, Frankreich schnell niederzuwerfen. Diese "Chance" sollte genutzt werden. Als dann klar wurde, dass GB wegen der Neutralitätsverletzung in den Krieg eintreten wird und Kaiser Wilhelm II. Moltke befahl, die deutschen Truppen aus Luxemburg wieder abzuziehen und nicht in Belgien einzumarschieren, stellte sich heraus, dass der Zug durch Belgien auch die einzige Planung des Generalstabs für den Kriegsfall darstellte.
 
Hier bringst Du zwei Fragestellungen durcheinander: Die eine lautet, warum Verträge einzuhalten sind; die andere, warum Verträge gemacht werden.

Warum werden Verträge gemacht? Um Interessen auszugleichen. Der Nutzen des Vertragsabschlusses ist für die Vertragsparteien größer als das Opfer, das sie dabei bringen. Von Verträgen geht eine produktive Kraft aus. Die allermeisten Verträge werden übrigens auch eingehalten.

Lieber Gandolf,
ich bringe hier nichts durcheinander, sondern habe meine Meinung abseits theoretisierender rechtsphilosophischer Betrachtungen im ersten juristischen Semester ausdrücken wollen. Das würde ich mir nach rd 20 Jahren in Gerichtsälen, oftmals als Gutachter, trotz des Studiums diverser Bücher zum Thema einfach mal herausnehmen.

Lassen wir mal die Allerweltverträge wie etwa eine Kontoführung außer Acht, mir ging es um die wesentlichen Verträge, und die sind an hohe, manchmal existentielle Interessen gebunden. Die Ausgleichsidee bei solchen Verträgen entspricht nicht meiner Lebenserfahrung aus Verhandlungen, bei denen es um maximale Interessendurchsetzung mit allen verfügbaren Mitteln geht. Die Masse derartiger Verhandlungen wird nach meiner Beobachtung aus faktischen Umständen von einer Seite dominiert. Die produktive Kraft würde ich ebenfalls aus praktischer Anschauung bestreiten, dazu habe ich zu viele "Unterlegene" gesehen. Auch die Masse der Vergleiche vor Gericht hat selbst bei Empörung über Vertragsbruch der anderen Seite weniger mit der eigenen rechtlichen Position, als vielmehr mit spieltheoretischen Überlegungen der eigenen Risikolage zu tun: "Vor Gericht und auf hoher See".

Der Erfolg des Vertragsabschlusses ist häufig zunächst eine einfache Frage der Mittel und Beratung, ebenso der Streit, bei dessen erfolgreicher Führung ebenfalls Mittel und Beratung die halbe Miete darstellen (die andere Hälfte würde ich der Zulässigkeit und Begründung zuschlagen). Im übrigen bedürfte es z.B. nicht eines 138, wenn es bei Vertragsabschlüssen stets gesittet zuginge, ansonsten sind die essentialia negotii oft genug unklar und werden der gerichtlichen Klärung überstellt. Natürlich gibt es daneben die heile Welt, die meistens mangels Bedeutung keinen interessiert, was wiederum rein praktisch den Rechtsfrieden fördert, weil darüber nicht gestritten wird.

Aber wie gesagt, über Meinungen und Erfahrungen läßt sich nicht streiten. ;) In Aufsätzen zum Thema würde ich selbstverständlich in Deine Richtung tendieren.

In diesem Sinne mit etwas erfahrungslastig frustrierten,
aber frohen Grüßen
Thomas
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Schlieffenplan wurde seit etwa 1891 entwickelt. In der militärischen deutschen Literatur wird er gern als "einzige Chance" dargestellt, um dem Dilemma das Zweifrontenkriegs zu entgehen. Der aufgrund der wesentlich größeren Ressourcen nicht gewonnen werden konnte.

Was sich angesichts des tatsächlichen Kriegsverlaufs recht schlüssig anhört.

Szenario:
Jahreswechsel 1914/15, Schlieffenplan ist gescheitert, Wettlauf zum Meer ist gescheitert, die Russen stehen in den Karpaten, die Italiener lechzen nach Beute. Nach den Aussagen der "Strategen" ist der Krieg ja nun nicht mehr zu gewinnen. Dass das nicht groß publiziert wird, ist klar. Man hat verloren, aber besiegt ist man noch lange nicht.
ABER: Jetzt ist doch der Punkt, um einzulenken, Fühler auszustrecken, Verhandlungen einzuleiten. Was auch geschieht.
Aber alles scheitert, nun, das DR war nicht bereit auf Eroberungen zu verzichten. Kein Friede auf Basis des Vorkkriegsstands.

Ergo:
Schon die ganzen Entschuldigungen für die Verletzung der belg. Neutralität sehen sehr konstruiert aus. Sind vermutlich zum Teil erst hinterher entstanden
 
Lieber Gandolf,
ich bringe hier nichts durcheinander, sondern habe meine Meinung abseits theoretisierender rechtsphilosophischer Betrachtungen im ersten juristischen Semester ausdrücken wollen.
Das habe ich durchaus verstanden. Allerdings macht es keinen Sinn zwei unterschiedliche Fragestellungen miteinander zu vermischen. Das führt nur zu einer Verwilderung des Denkens, die man sich am ehesten noch im Studium und am wenigstens in der Praxis erlauben kann, in der man sich ja bewähren muß.
silesia schrieb:
Das würde ich mir nach rd 20 Jahren in Gerichtsälen, oftmals als Gutachter, trotz des Studiums diverser Bücher zum Thema einfach mal herausnehmen.
Lassen wir mal die Allerweltverträge wie etwa eine Kontoführung außer Acht, mir ging es um die wesentlichen Verträge, und die sind an hohe, manchmal existentielle Interessen gebunden. Die Ausgleichsidee bei solchen Verträgen entspricht nicht meiner Lebenserfahrung aus Verhandlungen, bei denen es um maximale Interessendurchsetzung mit allen verfügbaren Mitteln geht. Die Masse derartiger Verhandlungen wird nach meiner Beobachtung aus faktischen Umständen von einer Seite dominiert. Die produktive Kraft würde ich ebenfalls aus praktischer Anschauung bestreiten, dazu habe ich zu viele "Unterlegene" gesehen. Auch die Masse der Vergleiche vor Gericht hat selbst bei Empörung über Vertragsbruch der anderen Seite weniger mit der eigenen rechtlichen Position, als vielmehr mit spieltheoretischen Überlegungen der eigenen Risikolage zu tun: "Vor Gericht und auf hoher See".

Der Erfolg des Vertragsabschlusses ist häufig zunächst eine einfache Frage der Mittel und Beratung, ebenso der Streit, bei dessen erfolgreicher Führung ebenfalls Mittel und Beratung die halbe Miete darstellen (die andere Hälfte würde ich der Zulässigkeit und Begründung zuschlagen). Im übrigen bedürfte es z.B. nicht eines 138, wenn es bei Vertragsabschlüssen stets gesittet zuginge, ansonsten sind die essentialia negotii oft genug unklar und werden der gerichtlichen Klärung überstellt. Natürlich gibt es daneben die heile Welt, die meistens mangels Bedeutung keinen interessiert, was wiederum rein praktisch den Rechtsfrieden fördert, weil darüber nicht gestritten wird.
Aber wie gesagt, über Meinungen und Erfahrungen läßt sich nicht streiten. ;) In Aufsätzen zum Thema würde ich selbstverständlich in Deine Richtung tendiere
Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich will Deine Erfahrungen nicht kleinreden (Gutachtererfahrung?). Aber meiner Auffassung nach gewichtest Du diese nicht richtig. In den Gerichtssaal kommen doch nur die "kranken Fälle" und häufig genug auch nicht die wichtigsten , selbst wenn sie für die Beteiligten wichtig genug scheinen.

Man kann gerade im Baubereich allerhand erleben. Doch wenn alles fertig ist und der Bau steht (in den allermeisten Fällen geschieht dies zur Zufriedenheit des Bauherrn), dann hat man im hergestellten Werk einen sichtbaren Beleg für die These, dass von Verträgen eine produktive Kraft ausgeht. Solche Belege kann man in allen Teilen unserer arbeitsteiligen Wirtschaft finden: im Maschinenbau, im Bergbau, im Dienstleistungsbereich, in der Landwirtschaft, bei den Arbeitsverträgen, bei den Freiberuflern, etc. Auch im Bereich der Politik ist die produktive Kraft der Verträge spürbar. Denke mal an die produktiven Wirkungen, die von den Römischen Verträgen ausgingen oder von den Ostverträgen oder an die befridigende Wirkung des Wiener Kongreßfriedens.

Um mal wieder auf unseren Fall zurückzukommen:
In diesem Strang geht es weniger um Deine persönlichen Erfahrungen als vielmehr darum, warum sich die Großmächte in der Londoner Erklärung auf die belgische Neutralität geeinigt haben. Ganz offensichtlich war für diese bei Vertragsabschluss der Nutzen des Abkommens (keine Großmacht kontrolliert Belgien) größer als das Opfer, dass sie dabei erbrachten (Verzicht auf eine Besetzung Belgiens). Sich an dieses Abkommen zu halten, auch dann wenn die eigenen Chancen für einen erfolgreichen Vertragsbruch gut zu stehen scheinen, ist halt auch eine Frage des Charakters und der Moral. Da sehe ich gar keinen notwendigen Widerspruch.
 
Um mal wieder auf unseren Fall zurückzukommen:
In diesem Strang geht es weniger um Deine persönlichen Erfahrungen als vielmehr darum, warum sich die Großmächte in der Londoner Erklärung auf die belgische Neutralität geeinigt haben. Ganz offensichtlich war für diese bei Vertragsabschluss der Nutzen des Abkommens (keine Großmacht kontrolliert Belgien) größer als das Opfer, dass sie dabei erbrachten (Verzicht auf eine Besetzung Belgiens). Sich an dieses Abkommen zu halten, auch dann wenn die eigenen Chancen für einen erfolgreichen Vertragsbruch gut zu stehen scheinen, ist halt auch eine Frage des Charakters und der Moral. Da sehe ich gar keinen notwendigen Widerspruch.

Meine Meinung zum Neutralitätsbruch in Belgien habe ich oben schon dargelegt.
Aber es gilt mA nach auch zu beachten, dass noch zu Amtszeiten Bismarcks in England diskutiert wurde, dass man den Deutschen ein beschränktes Durchmarschrecht durch Belgien gestatten könnte, ohne sofort in eine Krieg verwickelt zu werden. Ich habe nur eine kurze Notiz hierzu gelesen, vermute aber als Hintergrund, die immer moderner werdenden franz. Festungen. Also irgendwie zur Disposition stand die Neutralität Belgiens schon.

Dann möchte ich hier nochmals die "kühne" These aufstellen, dass dem Sieger sowas weltweit kaum übelgenommen wird. Ich erinnere nochmals an die Verletzung der Griechischen Neutralität Ende 1915, um die Serben zu retten. (Allerdings vergeblich) Überhaupt der Umgang mit Griechenland bis 1917. Ein Teil der griechischen Armee mit ca. 6.000 Mann ist zu den Deutschen übergelaufen.

Die Japaner, die der Einfachheit halber Tsingtau von chinesischem Territorium aus erobert haben.

Moral oder Charakter haben da keinen weiter gestört, aber wie gesagt, die Sieger brauchen sich da nicht mehr "sooo" zu rechtfertigen.

Sykes/Picot Abkommen, Balfour-Deklaration, Londoner Verträge, Kirkuk mit dem Mossul-Konflikt...........
also die Moral suche ich da vergeblich. Und Charakter, na ja, wenn doch tatsächlich völkerrechtliche Verträge abgeschlossen werden, indem ein und das selbe Gebiet zwei verschiedenen Vertragspartnern zugesichert wird.

Was man auch nicht vergessen darf, wenn die Sowjets nicht nach der Oktober-Revolution diese ganzen Geheimabkommen publiziert hätten (um nach ihrer Intention die Verkommenheit der bürgerlichen Staaten zu offenbaren) wüßten wir von allem recht wenig.

Ändert am deutschen Vertragsbruch nichts. Aber Dinge wie Moral und Charakter galten zwischen 1914 und 1918 wohl doch nicht so viel
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber es gilt mA nach auch zu beachten, dass noch zu Amtszeiten Bismarcks in England diskutiert wurde, dass man den Deutschen ein beschränktes Durchmarschrecht durch Belgien gestatten könnte, ohne sofort in eine Krieg verwickelt zu werden. Ich habe nur eine kurze Notiz hierzu gelesen, vermute aber als Hintergrund, die immer moderner werdenden franz. Festungen. Also irgendwie zur Disposition stand die Neutralität Belgiens schon.
Leider nennst Du keine Quelle für diese Behauptung. Zudem bleibt unklar, wann diese Diskussion angeblich geführt wurde und vor welchem Hintergrund dies geschehen sein soll. 1870/71? Ich kann deshalb mit Deinem Hinweis leider nichts anfangen.
repo schrieb:
Dann möchte ich hier nochmals die "kühne" These aufstellen, dass dem Sieger sowas weltweit kaum übelgenommen wird.
Das war auch Bethmann Hollwegs Einschätzung bis er dann zur Kenntnis nehmen musste, dass ihm die Briten den Einmarsch ziemlich übel nehmen werden. Später musste er auch noch feststellen, dass gerade die kleineren Staaten Europas wegen der Neutralitätsverletzung und den deutschen Erklärungsversuchen (Aufruf der 93) eher mit der Entente sympathisierten als mit dem Deutschen Reich. Auch in den USA verschlechterte der Einmarsch durch Belgien und die dort begangenen Kriegsverbrechen die Stimmung zu Lasten Deutschlands. Alle Versuche von Wilson, Einfluss auf das europäische Kriegsgeschehen zu nehmen, wurden in Berlin argwöhnisch dahingehend gedeutet, Zugeständnisse an Wilson in Frage der völkerrechtsgemäßen Seekriegsführung könnten auch zu dem Versuch der amerikanischen Einflussnahme führen, die Deutschen zu einer Aufgabe der völkerrechtswidrigen Besetzung Belgiens zu bewegen.

Ach ja: aus dem Sieg wurde dann bekanntlich nichts. Vielleicht solltest Du mal in Erwägung ziehen, dass dieses Ergebnis auch etwas mit der negativen Außenwirkung der deutschen Politik zu tun haben könnte.;)
repo schrieb:
Ich erinnere nochmals an die Verletzung der Griechischen Neutralität Ende 1915, um die Serben zu retten. (Allerdings vergeblich) Überhaupt der Umgang mit Griechenland bis 1917. Ein Teil der griechischen Armee mit ca. 6.000 Mann ist zu den Deutschen übergelaufen.

Die Japaner, die der Einfachheit halber Tsingtau von chinesischem Territorium aus erobert haben.

Moral oder Charakter haben da keinen weiter gestört, aber wie gesagt, die Sieger brauchen sich da nicht mehr "sooo" zu rechtfertigen.

Sykes/Picot Abkommen, Balfour-Deklaration, Londoner Verträge, Kirkuk mit dem Mossul-Konflikt...........
also die Moral suche ich da vergeblich. Und Charakter, na ja, wenn doch tatsächlich völkerrechtliche Verträge abgeschlossen werden, indem ein und das selbe Gebiet zwei verschiedenen Vertragspartnern zugesichert wird.

Was man auch nicht vergessen darf, wenn die Sowjets nicht nach der Oktober-Revolution diese ganzen Geheimabkommen publiziert hätten (um nach ihrer Intention die Verkommenheit der bürgerlichen Staaten zu offenbaren) wüßten wir von allem recht wenig.

Ändert am deutschen Vertragsbruch nichts. Aber Dinge wie Moral und Charakter galten zwischen 1914 und 1918 wohl doch nicht so viel
In diesem Teil Deines Beitrags stellst Du auf Vorkomnisse ab, die sich nach dem Einmarsch durch Belgien ereigneten. Über diese und Deinen mit diesen verbundenen Wertungen könnte man viel diskutieren. Das lohnt sich aber in diesem Strang nicht. Für die Frage, wie die Zeitgenossen die Besetzung Belgiens moralisch empfanden, konnten die von Dir angesprochenen späteren Ereignisse allenfalls retrospektiv eine Rolle spielen.

Zudem gibt es einen großen Unterschied zwischen dem deutschen Einmarsch durch Belgien und den von Dir angesprochenen Vorkomnissen. Der deutsche Einmarsch durch Belgien ist untrennbar mit dem Beginn des Ersten WK verbunden. Seine Völkerrechtswidrigkeit stand für die Zeitgenossen (ausserhalb Deutschlands) für die deutsche Schuld am Ausbruch des Kriegs wie kein zweites Ereignis.

PS: Beim Thema "Griechenland" solltest Du Dich vielleicht ersteinmal genauer über die griechischen Verhältnisse (Bündnisverpflichtungen, Votum des griechischen Parlaments, verfassungswidrige Haltung des deutschlandfreundlichen griechischen Königs) informieren als an die Beachtung Deiner bisherigen Beiträge erinnern. Auch hier lohnt sich eine Debatte (in einem anderen Strang) nur bei Angabe von genauen Quellen. Meines Wissens liefen keine griechischen Soldaten über. Diese wurden vielmehr unehrenhaft von Griechenland an Deutschland in die Kriegsgefangenschaft übergeben. Mein Literaturtip hierzu: Konstantin Loulos, Griechenland, in: Gerhard Hirschfeld u.a., Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2003, S. 534.
 
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