@Repo: Vielen Dank für Deinen nachgereichten Literaturhinweis. Nun ist gewährleistet, dass wir nicht über zwei verschiedene Vorgänge sprechen.
Vorab erlaube ich mir aus Deiner Quelle die Passage zu zitieren, die ich für die Frage, ob GB 1887 die Neutralität Belgiens zur Disposition stellte, für bedeutsamer halte als jene, die Du zitierst hast:
„Dann hatte 1887 Bismarck das Drängen des Generalstabschefs auf einen Präventivkrieg mit Russland unnachsichtig als unzulässigen Einfluss auf seine Entschlussfassung zurückgewiesen und zum besseren Verständnis seiner Haltung Moltke Einblick in den geheimen Rückversicherungsvertrag mit Russland gestattet. Während der Diskussion in der britischen Presse über die Neutralität Belgiens plädierten maßgebende Blätter dafür, Deutschland ein bloßes Durchmarschrecht unter bestimmten Garantien zu gewähren, um England aus einem Krieg herauszuhalten" (Wiegand Schmidt-Richberg, „Die Regierungszeit Wilhelms II.", in: MGFA (Hrsg.), „Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939", Band 3, 1983 [Stand: 1968], S. 78 f.).
Wie sich aus dieser Textstelle ergibt, wurde in der britischen Presse und nicht in der britischen Regierung über ein solches Durchzugsrecht diskutiert.
In seiner die Besetzung Belgiens verteidigenden Schrift „Der geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität" (1919) weist B. Schwertfeger darauf hin, dass diese Debatte durch den Aufsatz eines regierungsnahen Autors unter dem Pseudonym „Diplomaticus" in dem den regierenden Konservativen nahe stehenden „Standard" angeschoben und der offiziöse Anstrich dieses Artikels durch einen Leitartikel gleichen Tenors unterstrichen wurde sowie dass sich den Auffassungen des „Diplomaticus" auch die liberale Pall Mall Gazette anschloss. Schwertfeger schließt hieraus, der „Diplomaticus" habe die Auffassung der britischen Regierung wiedergegeben und diese wiederum habe so 1887 die belgische Neutralität zur Disposition gestellt.
Freilich lässt Schwertfeger in seiner Verteidigungsschrift außer Acht, dass die damalige Pressekampagne nebst einer russischen Pressekampagne das vorrangige Ziel verfolgte, den 1887 im Osten und Westen brüchigen europäischen Frieden zu bewahren (vgl. Jörg Femers, „Deutsch-britische Optionen. Untersuchungen zur internationalen Politik in der späten Bismarck-Ära [1879-1890]", 2006, S. 224 f.):
- GB zügelte mit o.g. Artikeln die vom damaligen revanchistischen Kriegsminister Boulanger aufgewiegelten Franzosen. Paris sollte deutlich vor Augen geführt werden, dass es im Falle eines französischen Angriffs auf Deutschland nicht mit britischer Hilfe zu rechnen habe (vgl. Femers, aaO., S. 224 f.).
- Für den Fall, dass das Deutsche Reich einen Präventivkrieg gegen Frankreich und hierbei einen Durchzug durch Belgien erwog – was 1887 nicht der Fall war -, erhielt Berlin ebenfalls über die Presse eine Warnung aus St. Petersburg. In dem als offiziöses Blatt Russlands geltenden Brüsseler „Nord" ließ Außenminister Giers am 20.2.1887 einen Artikel erscheinen, in dem betont wurde, das Zarenreich werde einem deutsch-französischen Krieg anders als 1870 nicht mit wohlwollender Neutralität zusehen. Frankreich dürfe nicht weiter als Großmacht geschwächt werden. Zugleich äußerte sich Giers entsprechend gegenüber Botschafter Schweinitz. Daraufhin erhielt Giers die offizielle Erklärung, Deutschland habe keine Präventivkriegabsichten gegenüber Frankreich und sei an der Existenz Frankreichs als maritimes Gegengewicht zu England interessiert.
Fazit: die 1887er Pressekampagne sollte den Boulanger-Revanchismus und etwaige deutsche Präventivkriegsabsichten zügeln. Keineswegs sollte mit dieser die belgische Neutralität zur Disposition gestellt werden.
Literatur:
Jörg Femers, „Deutsch-britische Optionen. Untersuchungen zur internationalen Politik in der späten Bismarck-Ära [1879-1890]", 2006;
Wiegand Schmidt-Richberg, „Die Regierungszeit Wilhelms II.", in: MGFA (Hrsg.), „Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939", Band 3, 1983 [Stand: 1968];
B. Schwertfeger, „Der geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität" (1919).