Belgische Neutralität

Ich habe mich bislang nur mit der tatsächlichen Umsetzung 1914 befaßt und fand daher in dem historischen Rückblick viel Neues. Was mich aber erstaunt, ist die Feststellung eines der zitierten Autoren, daß Moltke die Gelegenheit gehabt hätte, ein zweites Sedan zu schlagen, wenn auch unter Aufgabe des Gesamtkonzeptes. Diese Perspektive ist mir neu und ich habe bislang eine solche Chance in der Feldzugsentwicklung nicht ablesen können.

Hallo Eusebius,

dabei geht es um das frühzeitige "Einklappen" der 1. und 2. deutschen Armee (plus Reserven im Rücken) westlich Sedan, und der Ansatz zur überholenden Verfolgung in den Rücken der östlich/südöstlich davon stehenden französischen Truppenteile.

Frieser geht wohl davon aus, dass diese kleine Lösung, die jedoch dem Grundgedanken Schlieffens (bloß früher) folgt, die um Sedan bis Verdun stehenden allierten Verbände rückwärts aufgerollt hätte.

Nicht erreicht worden wäre damit die gesamte Vernichtung der an der Ostgrenze stehenden Teile der französischen Armee, man hätte sich mit einem Drittel zufrieden gegeben. Statt der überholenden Verfolgung ging man in Generalrichtung weiter südlich vor und drückte damit die davor stehenden Reste (u.a. auch das britische Expeditionskorps) einfach zurück bis zur Kulmination und Abstoppen des deutschen Angriffs. Dem südöstlich stehenden frz. Flügel wurde auf diese Weise ebenfalls das verlangsamte "Zurückklappen" ermöglicht.

Alles konzentriert sich somit in Umsetzung des Schlieffen-Gedankens darauf, WANN das Einklappen des rechten deutschen Flügels erfolgen sollte.

Grüße
Thomas
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber es gilt mA nach auch zu beachten, dass noch zu Amtszeiten Bismarcks in England diskutiert wurde, dass man den Deutschen ein beschränktes Durchmarschrecht durch Belgien gestatten könnte, ohne sofort in eine Krieg verwickelt zu werden. Ich habe nur eine kurze Notiz hierzu gelesen, vermute aber als Hintergrund, die immer moderner werdenden franz. Festungen. Also irgendwie zur Disposition stand die Neutralität Belgiens schon.
In der Zwischenzeit (vgl. # 40) habe ich die einschlägige Belgien-Literatur durchgesehen. Bei Karlheinz Dietrich, "Die Belgier, ihre Könige und die Deutschen. Geschichte zweier Nachbarn seit 1830", Droste-Verlag, 1989 wurde ich fündig.

Wie von mir bereits vermutet, bezieht sich Deine Darstellung auf 1870. Frankreich hatte gerade Deutschland den Krieg erklärt. Bismarck legte dem belgischen Gesandten den Vertragsentwurf vom Sommer 1866 vor, der von Frankreichs Außenminister Benedetti verfasst war und die Annexion Belgiens vorsah ("Kennen Sie die Handschrift von Benedettis?"). Gleichzeitig schickte der den Entwurf der "Times" zur Veröffentlichung. Die Stimmung in England schlug gegen Frankreich um. "Die Regierung in London verlangte von Preußen und Frankreich gleichermaßen eine vertragliche Bindung, im Falle einer Neutralitätsverletzung mit England zusammenzuarbeiten und die eigenen Streitkräfte einzusetzen. Beide Länder beeilten sich, der Aufforderung nachzukommen, Preußen am 9. August, Frankreich zwei Tage später" (Karlheinz Dietrich, aaO., S. 155 f.).

Die Verträge selbst habe ich noch nicht eingesehen. Die müsste ich mir erst noch aus dem Magazin kommen lassen. Bei Lademacher, "Die belgische Neutralität", 1974, S. 374 ff. sollen diese abgedruckt sein. Vielleicht mach ich das noch.

Aber eines scheint mir doch schon jetzt ziemlich klar zu sein. Die Briten stellten die belgische Neutralität gerade nicht zur Disposition. Sie versuchten vielmehr durch weitere zwei Verträge die beiden Kontinentalmächte Preußen und Frankreich vor einem Einmarsch abzuschrecken, in dem sie für diesen Fall ankündigten, mit dem vertragstreuen Staat zusammen zu arbeiteten.
 
In der Zwischenzeit (vgl. # 40) habe ich die einschlägige Belgien-Literatur durchgesehen. Bei Karlheinz Dietrich, "Die Belgier, ihre Könige und die Deutschen. Geschichte zweier Nachbarn seit 1830", Droste-Verlag, 1989 wurde ich fündig.

Wie von mir bereits vermutet, bezieht sich Deine Darstellung auf 1870. Frankreich hatte gerade Deutschland den Krieg erklärt. Bismarck legte dem belgischen Gesandten den Vertragsentwurf vom Sommer 1866 vor, der von Frankreichs Außenminister Benedetti verfasst war und die Annexion Belgiens vorsah ("Kennen Sie die Handschrift von Benedettis?"). Gleichzeitig schickte der den Entwurf der "Times" zur Veröffentlichung. Die Stimmung in England schlug gegen Frankreich um. "Die Regierung in London verlangte von Preußen und Frankreich gleichermaßen eine vertragliche Bindung, im Falle einer Neutralitätsverletzung mit England zusammenzuarbeiten und die eigenen Streitkräfte einzusetzen. Beide Länder beeilten sich, der Aufforderung nachzukommen, Preußen am 9. August, Frankreich zwei Tage später" (Karlheinz Dietrich, aaO., S. 155 f.).

Die Verträge selbst habe ich noch nicht eingesehen. Die müsste ich mir erst noch aus dem Magazin kommen lassen. Bei Lademacher, "Die belgische Neutralität", 1974, S. 374 ff. sollen diese abgedruckt sein. Vielleicht mach ich das noch.

Aber eines scheint mir doch schon jetzt ziemlich klar zu sein. Die Briten stellten die belgische Neutralität gerade nicht zur Disposition. Sie versuchten vielmehr durch weitere zwei Verträge die beiden Kontinentalmächte Preußen und Frankreich vor einem Einmarsch abzuschrecken, in dem sie für diesen Fall ankündigten, mit dem vertragstreuen Staat zusammen zu arbeiteten.


Das ist eine andere Kiste.

Mein Hinweis bezieht sich auf die 1880er Jahre Quelle: Deutsche Militärgeschichte 1648-1939 Band 2 Seite 79 heraus., v, MGFA.
Bismarck ließ erklären: "dass Deutschland weder einen Präventivkrieg führen werde, noch jemals einen Krieg mit der Verletzung eines europäischen Vertrags beginnen werde....auch wenn die deutsch/franz. Grenze durch französische Verteidigunganlagen unzugänglich ....Auch wäre die annahme irrig, dass die Leitung der deutschen Politik den Gesichtspunkten des Generalstabs unterworfen wäre...."
Bezug: Der Geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität, Berlin 1925, 2. Kommentarband zu Amtl. Aktenstücke zur Geschichte der europäischen Politik 1885-1914 AaO Seite 327
 
@Repo: Vielen Dank für Deinen nachgereichten Literaturhinweis. Nun ist gewährleistet, dass wir nicht über zwei verschiedene Vorgänge sprechen.;)

Vorab erlaube ich mir aus Deiner Quelle die Passage zu zitieren, die ich für die Frage, ob GB 1887 die Neutralität Belgiens zur Disposition stellte, für bedeutsamer halte als jene, die Du zitierst hast:

„Dann hatte 1887 Bismarck das Drängen des Generalstabschefs auf einen Präventivkrieg mit Russland unnachsichtig als unzulässigen Einfluss auf seine Entschlussfassung zurückgewiesen und zum besseren Verständnis seiner Haltung Moltke Einblick in den geheimen Rückversicherungsvertrag mit Russland gestattet. Während der Diskussion in der britischen Presse über die Neutralität Belgiens plädierten maßgebende Blätter dafür, Deutschland ein bloßes Durchmarschrecht unter bestimmten Garantien zu gewähren, um England aus einem Krieg herauszuhalten" (Wiegand Schmidt-Richberg, „Die Regierungszeit Wilhelms II.", in: MGFA (Hrsg.), „Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939", Band 3, 1983 [Stand: 1968], S. 78 f.).

Wie sich aus dieser Textstelle ergibt, wurde in der britischen Presse und nicht in der britischen Regierung über ein solches Durchzugsrecht diskutiert.

In seiner die Besetzung Belgiens verteidigenden Schrift „Der geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität" (1919) weist B. Schwertfeger darauf hin, dass diese Debatte durch den Aufsatz eines regierungsnahen Autors unter dem Pseudonym „Diplomaticus" in dem den regierenden Konservativen nahe stehenden „Standard" angeschoben und der offiziöse Anstrich dieses Artikels durch einen Leitartikel gleichen Tenors unterstrichen wurde sowie dass sich den Auffassungen des „Diplomaticus" auch die liberale Pall Mall Gazette anschloss. Schwertfeger schließt hieraus, der „Diplomaticus" habe die Auffassung der britischen Regierung wiedergegeben und diese wiederum habe so 1887 die belgische Neutralität zur Disposition gestellt.

Freilich lässt Schwertfeger in seiner Verteidigungsschrift außer Acht, dass die damalige Pressekampagne nebst einer russischen Pressekampagne das vorrangige Ziel verfolgte, den 1887 im Osten und Westen brüchigen europäischen Frieden zu bewahren (vgl. Jörg Femers, „Deutsch-britische Optionen. Untersuchungen zur internationalen Politik in der späten Bismarck-Ära [1879-1890]", 2006, S. 224 f.):
  • GB zügelte mit o.g. Artikeln die vom damaligen revanchistischen Kriegsminister Boulanger aufgewiegelten Franzosen. Paris sollte deutlich vor Augen geführt werden, dass es im Falle eines französischen Angriffs auf Deutschland nicht mit britischer Hilfe zu rechnen habe (vgl. Femers, aaO., S. 224 f.).
  • Für den Fall, dass das Deutsche Reich einen Präventivkrieg gegen Frankreich und hierbei einen Durchzug durch Belgien erwog – was 1887 nicht der Fall war -, erhielt Berlin ebenfalls über die Presse eine Warnung aus St. Petersburg. In dem als offiziöses Blatt Russlands geltenden Brüsseler „Nord" ließ Außenminister Giers am 20.2.1887 einen Artikel erscheinen, in dem betont wurde, das Zarenreich werde einem deutsch-französischen Krieg anders als 1870 nicht mit wohlwollender Neutralität zusehen. Frankreich dürfe nicht weiter als Großmacht geschwächt werden. Zugleich äußerte sich Giers entsprechend gegenüber Botschafter Schweinitz. Daraufhin erhielt Giers die offizielle Erklärung, Deutschland habe keine Präventivkriegabsichten gegenüber Frankreich und sei an der Existenz Frankreichs als maritimes Gegengewicht zu England interessiert.
Fazit: die 1887er Pressekampagne sollte den Boulanger-Revanchismus und etwaige deutsche Präventivkriegsabsichten zügeln. Keineswegs sollte mit dieser die belgische Neutralität zur Disposition gestellt werden.

Literatur:
Jörg Femers, „Deutsch-britische Optionen. Untersuchungen zur internationalen Politik in der späten Bismarck-Ära [1879-1890]", 2006;
Wiegand Schmidt-Richberg, „Die Regierungszeit Wilhelms II.", in: MGFA (Hrsg.), „Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939", Band 3, 1983 [Stand: 1968];
B. Schwertfeger, „Der geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität" (1919).
 
@Repo: Vielen Dank für Deinen nachgereichten Literaturhinweis. Nun ist gewährleistet, dass wir nicht über zwei verschiedene Vorgänge sprechen.;)

Vorab erlaube ich mir aus Deiner Quelle die Passage zu zitieren, die ich für die Frage, ob GB 1887 die Neutralität Belgiens zur Disposition stellte, für bedeutsamer halte als jene, die Du zitierst hast:

„Dann hatte 1887 Bismarck das Drängen des Generalstabschefs auf einen Präventivkrieg mit Russland unnachsichtig als unzulässigen Einfluss auf seine Entschlussfassung zurückgewiesen und zum besseren Verständnis seiner Haltung Moltke Einblick in den geheimen Rückversicherungsvertrag mit Russland gestattet. Während der Diskussion in der britischen Presse über die Neutralität Belgiens plädierten maßgebende Blätter dafür, Deutschland ein bloßes Durchmarschrecht unter bestimmten Garantien zu gewähren, um England aus einem Krieg herauszuhalten" (Wiegand Schmidt-Richberg, „Die Regierungszeit Wilhelms II.", in: MGFA (Hrsg.), „Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939", Band 3, 1983 [Stand: 1968], S. 78 f.).

Wie sich aus dieser Textstelle ergibt, wurde in der britischen Presse und nicht in der britischen Regierung über ein solches Durchzugsrecht diskutiert.
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Eigenes Zitat aus Beitrag #26
In den 1880er Jahren seien in der englischen Presse Pläne diskutiert worden, "den Deutschen ein beschränktes Durchmarschrecht" durch Belgien zu gewähren, um England aus einem sich entwickelnden Krieg heraushalten zu können. Bismarck hätte aber "dankend" verzichtet.

Also irgendwelche Pläne scheinen schon sehr lange herumgeschwirrt zu sein.


Quelle für beides: Deutsche Militärgeschichte 1649-1939 Band 4
 
@Repo: Du hast es an den falschen Hals bekommen. Mir ging es nicht darum, Dir einen Widerspruch oder ein Falschzitat oder ähnliches nachzuweisen; wohl aber darum, den Zusammenhang zwischen der Pressekampagne und der 1887er Krise darzustellen: Beitrag zum Erhalt des Friedens statt Dispositionsversuch über die belgische Neutralität.
 
Hallo Gandolf,

kann man demnach einmal folgendes Zwischenergebnis zusammenfassen:

1. bis um 1890 hat Deutschland die belgische Neutralität politisch und auch in den militärischen Planungen beachtet

2. es gibt bislang keine Hinweise, dass Großbritannien seine Garantie für die belgische Neutralität aufgeben wollte.
 
Hallo Gandolf,

kann man demnach einmal folgendes Zwischenergebnis zusammenfassen:

1. bis um 1890 hat Deutschland die belgische Neutralität politisch und auch in den militärischen Planungen beachtet

2. es gibt bislang keine Hinweise, dass Großbritannien seine Garantie für die belgische Neutralität aufgeben wollte.

Schlieffen hat "seinen" Plan wohl 1900 erstmals der "Reichsleitung" vorgelegt, die "keine Einwände hatten"
Ab dem 2. Marokko-Konflikt 1911 hatte die militärische Führung keinen Zweifel mehr, dass England "auf jeden Fall" mit Frankreich "gehen" würde. Die Achtung der belgischen Neutralität zumindest in der Beziehung also auch "nichts" bringen würde.
Deshalb wurde dann ja auch 1913 die Fortschreibung des "Großen Ostaufmarschs" beendet.

OT: Wenn man da den Weitblick Bismarcks lt s.o.g. Statement sieht...
 
Schlieffen hat "seinen" Plan wohl 1900 erstmals der "Reichsleitung" vorgelegt, die "keine Einwände hatten"

Hallo Repo, siehe oben:
"Der Aufmarschplan von 1898/99 enthielt zum ersten Mal sechs dt. Armeen in der Linie St. Vith-Trier-Saabrücken-Saarburg-Straßburg, eine siebte Armee gestaffelt hinter dem rechten Flügel, bereit zum Vormarsch durch Belgien. Die Landung des englischen Expeditionskorps wurde in der Festung Antwerpen für möglich gehalten. Sodann sollte der berüchtigte deutsche Schwenk um Verdun herum in der Offensive geführt werden (was aber nach der Planung immer chancenloser wurde)."
 
Ich hatte das so verstanden, dass zuvor die Mißachtung der Neutralität zumindest von der politischen Führung nicht abgesegnet war.
Lese es nochmal nach.
 
OT: In anderem Zusammenhang ist mir untergekommen:

Preußen hat ja 1866 mit dem "italienischen Bündnis" klar die Bundesakte von 1815 gebrochen! (siehe Bismarck und "kein Krieg beginnen mit Bruch eines Vertrages")
Wonach hinterher kein Hahn mehr gekräht hat.

Für mich ein Hinweis auf zweierlei:
1. Vertragsbruch zu Kriegsbeginn hat eine preußisch/deutsche Tradition
2. Dem Sieger wird sowas sehr schnell vergessen, dem Verlierer nie.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zunächst möchte ich mich für mein langes Ausbleiben entschuldigen, aber die Gartensaison hat begonnen und daher bin ich wieder sehr beschäftigt.

Weiterhin möchte ich mich bei Cisco für einen sehr interessanten Literaturhinweis bedanken und diesen hier nochmals anführen, auch wenn Silesia das bereits getan hat:

Der Schlieffenplan
Ehlert / Epkenhans / Groß
Schoeningh 2004

Meine verbleibende abendliche Freizeit habe ich der Lektüre dieses Buches gewidmet und kann es nur weiterempfehlen!

Drittens muß ich noch bei Gandolf Abbitte leisten, daß ich in seinem Beitrag zur deutschen Rechtfertigung des Überfalls auf Belgien zwei Urheberschaften durcheinandergeworfen habe. Ich bitte um Nachsicht!

Leider bin ich in meinem neuen Literaturprojekt noch nicht bis zum Kapitel über Belgien vorgedrungen und konnte auch noch nicht die kürzlich erwähnte Internet-Quelle zur belgischen Geschichte auswerten, aber dennoch möchte ich eine Anmerkungen machen:

Der französische Generalstab hatte mit seinem Plan XVII einen flexiblen Aufmarschplan, der eine Offensive gegen Deutschland entweder über Lothringen oder über Belgien vorsah. Der französische Oberbefehlshaber Joffre empfahl der Regierung nachdrücklich den Angriff über Belgien unter Mißachtung der Neutralität des Landes. Das Ziel der Regierung war es aber unter allen Umständen den Entente-Partner Großbritannien zum Kriegseintritt zu bewegen, welcher ein Eingreifen davon abhängig machte, wer in Belgien als Aggressor aufträte und gegen wen sich folglich die öffentliche Meinung in England richten würde.

Belgien scheint mir etwa ab 1910 nurmehr Dispositionsraum für die Großmächte gewesen zu sein. Wir hatten zu Beginn den strikten Neutralitätswunsch Belgiens zwar festgehalten, dennoch scheint dieser Wunsch nicht gezählt zu haben und auch die Garantieverträge nicht, wenn die Garantiemächte neutrales Territorium "überplanen" und Großbritannien sich nur noch bereit findet, den einen oder anderen in seinen Kriegsabsichten zu unterstützen, wobei es sich mit diversen Absprachen und einer bereits umfassenden Planung weitgehend an Frankreich gebunden hatte. Nicht zuletzt hat meines Wissens keine der planenden Mächte in den letzten Jahren vor 1914 versucht, durch eine diplomatische Kampagne den belgischen Status neuerlich abzusichern, obwohl man wissen oder ahnen mußte, welche Rolle dem Land zugedacht war.
 
OT: In anderem Zusammenhang ist mir untergekommen:

Preußen hat ja 1866 mit dem "italienischen Bündnis" klar die Bundesakte von 1815 gebrochen! (siehe Bismarck und "kein Krieg beginnen mit Bruch eines Vertrages")
Wonach hinterher kein Hahn mehr gekräht hat.

Für mich ein Hinweis auf zweierlei:
1. Vertragsbruch zu Kriegsbeginn hat eine preußisch/deutsche Tradition
2. Dem Sieger wird sowas sehr schnell vergessen, dem Verlierer nie.
Wurde den Preußen wirklich ihre Rechtsbrüche "sehr schnell vergessen"?

Nach 1866 erschien Preußen vielen Zeitgenossen in Europa als eine Großmacht, die durch Raubzüge (Schlesien) und Annexionen (Hannover, etc,.) groß geworden war. Die Annexion von Elsaß-Lothringen 1871 hat auf den von Preußen geschaffenen deutschen Nationalstaat von Anfang an ein schlechtes, aggressiv wirkendes Licht geworfen. Deutschland erschien nun als halbhegemoniale Großmacht; unter Bismarck immerhin als saturiert; unter Wilhelm II. nach der europäischen Vormachtstellung greifend. Der Bruch der belgischen Neutralität (1914) erschien da nur als die Verlängerung der problematischen preußischen Tradition, diesesmal durch "Preußen-Deutschland"; ebenso wie der Angriff auf Polen (1939). Am Ende dieser Entwicklung stand dann das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 46 (1947) mit dem Preußen ("seither Träger des Militarismus") aufgelöst wurde.

Für mich ist dies ein Beispiel dafür, wie sich bestimmte Eindrücke im Bewusstsein der Völker einbrennen können und dass dabei gerade Völkerrechtsbrüche von nachhaltiger Wirkung sein KÖNNEN; freilich nicht zwingend sein müssen.

Anderes Beispiel ohne dies hier diskutieren zu wollen: mit dem Sturz von Saddam Hussein haben die USA den Irakkrieg offiziell "gewonnen". Doch wer hat schon vergessen, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig begonnen wurde? Selbst wenn die Situation im Irak heute friedlich wäre, hätte der Irak-Krieg auf internationaler Ebene ein "Gschmäckle", das wiederum Kreise ziehen würde.
 
Wurde den Preußen wirklich ihre Rechtsbrüche "sehr schnell vergessen"?

Nach 1866 erschien Preußen vielen Zeitgenossen in Europa als eine Großmacht, die durch Raubzüge (Schlesien) und Annexionen (Hannover, etc,.) groß geworden war. Die Annexion von Elsaß-Lothringen 1871 hat auf den von Preußen geschaffenen deutschen Nationalstaat von Anfang an ein schlechtes, aggressiv wirkendes Licht geworfen. Deutschland erschien nun als halbhegemoniale Großmacht; unter Bismarck immerhin als saturiert; unter Wilhelm II. nach der europäischen Vormachtstellung greifend. Der Bruch der belgischen Neutralität (1914) erschien da nur als die Verlängerung der problematischen preußischen Tradition, diesesmal durch "Preußen-Deutschland"; ebenso wie der Angriff auf Polen (1939). Am Ende dieser Entwicklung stand dann das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 46 (1947) mit dem Preußen ("seither Träger des Militarismus") aufgelöst wurde.

Für mich ist dies ein Beispiel dafür, wie sich bestimmte Eindrücke im Bewusstsein der Völker einbrennen können und dass dabei gerade Völkerrechtsbrüche von nachhaltiger Wirkung sein KÖNNEN; freilich nicht zwingend sein müssen.

Anderes Beispiel ohne dies hier diskutieren zu wollen: mit dem Sturz von Saddam Hussein haben die USA den Irakkrieg offiziell "gewonnen". Doch wer hat schon vergessen, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig begonnen wurde? Selbst wenn die Situation im Irak heute friedlich wäre, hätte der Irak-Krieg auf internationaler Ebene ein "Gschmäckle", das wiederum Kreise ziehen würde.


Wozu 2 Dinge zu sagen wären. 1. Der Vertragsbruch 1866 war das Bündnis mit Italien. Ein Bündnis mit Staaten auerßerhalb des Bundes war durch die Bundesakte ausdrücklich untersagt.
Der Welfenkönig hat sich außerordentlich ungeschickt verhalten. (bei dem UrUrenkel eigentlich nicht verwunderlich) Einen Fürsprecher wie die Sachsen 1815 auch nicht gefunden, und die Hessen waren wohl froh ihren Kurfürsten loszuwerden. (der wurde dann ja auch noch Großherzog von Luxemburg)

2. Die Annexion Elsaß-Lothringens war eher ein Entgegenkommen den Süddeutschen gegenüber, die ein Vorfeld gegen die Franzosen wollten. Seit dem 30 jährigen Krieg waren die Franzosen immer aufs neue in Südwestdeutschland eingefallen. Es gibt Gegenden wo man zu Fuss an einem Tag 3 Schlachtfelder aus der Zeit besuchen kann. (Ob die Österreicher, die Sachsen oder die Franzosen die Kuh requiriert hatten oder die Kirche angezündet hatten, steht durchaus offen, zugerecht hat man es den Franzosen)
Meine These: Nix und Niemanden hätte einen gestandenen Bajuwaren oder Schwaben an die Seite der "Malefiz-Preußen" gebracht, außer ein Kaiser Napoleon der Gelüste nach der bayerischen Pfalz hatte.

Ich könnte mir tatsächlich denken, dass Bismarck auf die "Reichslande" hätte verzichten können.


OT: Adenauer muss dem 1. russischen Botschafter 1956 auch "halbernst" erklärt haben, eigentlich seien die Russen schuld. Hätten die sich der preußischen Annexion Sachsens 1814/15 nicht widersetzt, wären die Rheinlande nicht preußisch geworden, und die europäische Geschichte anders verlaufen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der französische Generalstab hatte mit seinem Plan XVII einen flexiblen Aufmarschplan, der eine Offensive gegen Deutschland entweder über Lothringen oder über Belgien vorsah. Der französische Oberbefehlshaber Joffre empfahl der Regierung nachdrücklich den Angriff über Belgien unter Mißachtung der Neutralität des Landes. Das Ziel der Regierung war es aber unter allen Umständen den Entente-Partner Großbritannien zum Kriegseintritt zu bewegen, welcher ein Eingreifen davon abhängig machte, wer in Belgien als Aggressor aufträte und gegen wen sich folglich die öffentliche Meinung in England richten würde.

Belgien scheint mir etwa ab 1910 nurmehr Dispositionsraum für die Großmächte gewesen zu sein.

Hier interpretiere ich Schmidts Ausführungen etwas anders.

Der Generalstab hatte mit XVII einen variablen Aufmarschplan, soweit richtig. Er stellt aber auch fest, dass sich der frz. Generalstab nicht bereit fand, die Aussicht auf eine britische Intervention (die nur im Fall einer frz. Beachtung der belgischen Neutralität bestand) den mit einer Invasion Belgiens verbundenen militärischen Chancen zu opfern. Hierbei handelte es sich um einen militärisch-politischen Konsens in Frankreich, der im Gegensatz zum Deutschen Reich die militärischen Planspiele uneingeschränkt überlagert hat.

Die Gründe für diese Entscheidung lt. Schmidt:
- die moralische Bedeutung einer britischen Intervention
- die der britischen Marine zugestandene Bedeutung im Weltkrieg durch Blockade
- die mangelnde zahlenmäßige Überlegenheit der frz. Armee, die auch eine schnelle Offensive im Erfolg nicht sicherstellen konnte, somit die Verletzung des belgischen Territoriums zu Kriegsbeginn nur Nachteile ohne Sicherheit bringen würde
- der russische Faktor, der zu Abzügen deutscher Truppen über kurz oder lang führen mußte, was die Offensive verzichtbar machte

Die Beachtung der belgischen Neutralität kommt damit in eine Qualität der Rückversicherung, da die britische Flotte plangemäß das Deutsche Reich in vier Monaten aushungern würde, ehe auch Italien evt. Kräfte gegen Frankreich mobilisieren könnte. Daraus läßt sich schließen, dass nicht nur politische Erwägungen, sondern auch das militärische Kalkül letztlich die Beachtung der Neutralität erzwang.

Frankreich hatte somit Überlegungen in diese Richtung angestellt, mit Plan XVII auch den flexiblen Aufmarsch (der in praxi die Truppen auf dem linken Flügel verstärken sollte), sich allerdings letztlich gegen die Verletzung der Neutralität entschieden.
 
Wozu 2 Dinge zu sagen wären.
(...)
Ob die Österreicher, die Sachsen oder die Franzosen die Kuh requiriert hatten ...
hat mit dem Thema nicht mehr viel zu tun.:) Aber wenn wir gerade im OT-Bereich sind:
repo schrieb:
Adenauer muss dem 1. russischen Botschafter 1956 auch "halbernst" erklärt haben, eigentlich seien die Russen schuld. Hätten die sich der preußischen Annexion Sachsens 1814/15 nicht widersetzt, wären die Rheinlande nicht preußisch geworden, und die europäische Geschichte anders verlaufen.
Die Russen waren mit der Annexion Sachsens durch Preußen einverstanden gewesen.;)
Der französische Generalstab hatte mit seinem Plan XVII einen flexiblen Aufmarschplan, der eine Offensive gegen Deutschland entweder über Lothringen oder über Belgien vorsah. Der französische Oberbefehlshaber Joffre empfahl der Regierung nachdrücklich den Angriff über Belgien unter Mißachtung der Neutralität des Landes. Das Ziel der Regierung war es aber unter allen Umständen den Entente-Partner Großbritannien zum Kriegseintritt zu bewegen, welcher ein Eingreifen davon abhängig machte, wer in Belgien als Aggressor aufträte und gegen wen sich folglich die öffentliche Meinung in England richten würde.

Belgien scheint mir etwa ab 1910 nurmehr Dispositionsraum für die Großmächte gewesen zu sein. Wir hatten zu Beginn den strikten Neutralitätswunsch Belgiens zwar festgehalten, dennoch scheint dieser Wunsch nicht gezählt zu haben und auch die Garantieverträge nicht, wenn die Garantiemächte neutrales Territorium "überplanen" und Großbritannien sich nur noch bereit findet, den einen oder anderen in seinen Kriegsabsichten zu unterstützen, wobei es sich mit diversen Absprachen und einer bereits umfassenden Planung weitgehend an Frankreich gebunden hatte. Nicht zuletzt hat meines Wissens keine der planenden Mächte in den letzten Jahren vor 1914 versucht, durch eine diplomatische Kampagne den belgischen Status neuerlich abzusichern, obwohl man wissen oder ahnen mußte, welche Rolle dem Land zugedacht war.
Was meinst Du mit Formulierungen wie "Dispositionsraum für die Großmächte"?

Belgien war - vor der Unterzeichnung der Londoner Verträge - das traditionelle Aufmarschgebiet in einem deutsch-französischen Krieg gewesen. Mit diesem Problem mussten sich - als Belgien unabhängig wurde - die Großmächte und die Belgier selbst beschäftigen. Bekanntlich bestand die Lösung dieses Problems darin, dass die Großmächte in den Londoner Verträgen verpflichteten, die belgische Unabhängigkeit zu achten und für diese einzutreten.

Die Belgier selbst unterstrichen ihren Unabhängigskeitswillen damit, dass sie eine 100.000 Mann starke Armee unterhielten. Für das kleine Land stellte dies eine enorme Karftanstrengung dar. Der Sinn und Zweck dieser Armee bestand darin, einen Angriffer (sei es Frankreich oder Deutschland) solange auf belgischem Gebiet aufhalten zu können, bis von den Garantiemächten militärische Hilfe eintraf. Für den Angreifer wurde somit - in militärisch glaubwürdiger Weise - das Risiko geschaffen, dass er das Ziel seines Angriffs, das schnelle und tiefe Eindringen in das Kerngebiet der eigentlich anzugreifenden Großmacht, nicht erreicht.

Die Belgier vertraten also eine Konzeption der Abschreckung. Infolgedessen mussten sie dann auch offen lassen, mit wem sie im Kriegsfalle in einen Krieg ziehen werden. Sie wussten ja nicht, wer sie angreifen würde. Allerdings wurde mit dem Bekanntwerden des Schliefenplans ruchbar, dass Deutschland sein Zweifronten-Problem im Kriegsfalle dadurch zu lösen beabsichtigte, dass es Frankreich durch Belgien hindurch zu überrennen versuchte.

Freilich verursachte auf französischer Seite die belgische Armee nicht nur Freudensprünge sondern auch Kopfschmerzen. Die Belgier galten als deutschfreundlich. Die belgische Armee somit als ein Sicherheitsrisiko. Der belgische König hatte zwar die deutsche Bitte um ein Durchmarschrecht (so um 1908) zurückgewiesen. Aber konnte man den deutschfreundlichen Belgiern vertrauen? Warum kooperierten die Belgier mit den Briten und den Franzosen - trotz Bekanntwerden des Schliefenplans - nicht? Das alles schürte in Paris Misstrauen. Selbst als die Belgier 1914 den deutschen Truppen heftigen Widerstand leisteten und hierdurch zum Scheitern der deutschen Offensive beitrugen, gab es in Paris noch böse Zungen, die behaupteten, die Belgier hätten die Deutschen durchs Land ziehen lassen und nicht stark genug gekämpft.

"Dispositionsraum" würde ich Belgien nicht nennen. Die Großmächte, Frankreich und Deutschland, verbanden mit diesem Raum ganz eigensüchtige Erwartungen, Hoffnungen, Träume und Alpträume. Und zwischen diesen beiden Großmächten versuchten die Belgier in diesem Raum unabhängig und souverän zu leben und sich selbst zu behaupten.
 
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