Belgische Neutralität

"Dispositionsraum" würde ich Belgien nicht nennen. Die Großmächte, Frankreich und Deutschland, verbanden mit diesem Raum ganz eigensüchtige Erwartungen, Hoffnungen, Träume und Alpträume. Und zwischen diesen beiden Großmächten versuchten die Belgier in diesem Raum unabhängig und souverän zu leben und sich selbst zu behaupten.

Dazu eine Karte:
http://www.dean.usma.edu/history/web03/atlases/great war/great war pages/great war map 03new.htm
 
Zunächst möchte ich mich zu Silesias Beitrag äußern:
In der Darstellung, die ich kürzlich las, wurde hervorgehoben (wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt), daß der französische Generalstabschef Joffre ein offensives Vorgehen durch Belgien bevorzugte und dies der Regierung auch nahelegte, um sofort die nummerische Überlegenheit des französischen Heeres zu Tragen zu bringen - eine Möglichkeit, die in Lothringen nicht gegeben war. Im Endeffekt hat aber französischerseits die Haltung der Regierung die Oberhand behalten, daß für einen Kriegseintritt Englands weitestgehende politische und strategische Rücksichten zu nehmen sind. Ob es umgekehrt war oder nur so ähnlich, vermag ich nicht zu beurteilen, das Ergebnis bleibt jedoch dasselbe.
Erstaunlich scheint die Zugrundelegung einer zahlenmäßigen Überlegenheit Frankreichs, aber das höhergerüstete französische Heer war wohl dem deutschen an aktiven Einheiten und Reservetruppen leicht überlegen.

Nun zu Gandolf:
Ohne diesen Themenbereich bis auf's Letzte ergründet zu haben, so habe ich doch folgenden Eindruck:
Die moderne Diplomatie hat in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einiges für das Zusammenleben der Staaten getan, so möchte ich hier die Haager Verträge nennen, die u.a. den Durchmarsch durch neutrale Gebiete untersagten. Ich möchte behaupten, daß dies eine Art "Zivilisierungsprozeß" der internationalen Politik war, der auch kleinen Staaten eine Existenzgrundlage jenseits ihrer Abhängigkeit von den Großmächten gab. Im völligen Gegensatz dazu standen aber die Verteidigungskonzepte vieler Staaten, die offensiv ausgelegt wurden und (im Falle Frankreichs alternativ, im Falle Deutschlands alternativlos) den Bruch internationalen Rechts zur Gewinnung vermeintlicher strategischer Vorteile in Kauf nahmen. Ihre strategischen Planungen liessen Frankreich und Deutschland als Garantiemächte Belgiens wirkungslos werden, denn die belgische Neutralität stellte für beide keinen Wert an sich dar, sondern einen je nach Lage der Dinge zu behandelnden Faktor. Auch Großbritannien war 1914 schon viel zu sehr in die strategische Planung als Ententemacht verstrickt, um als Garantiemacht handeln zu können, folglich traten die Briten auch auf Seiten Frankreichs in den Krieg ein und nicht auf Seiten Belgiens, wobei ich hier keine Haare spalten möchte.
Auch vor dem Hintergrund der langen und problematischen Geschichte Belgiens als eines der Schlachtfelder Europas stellte sich die Situation kurz vor 1914 für Belgien viel gefährlicher dar als in den vorangegangenen Jahrzehnten: Zwei mehr oder minder fest geformte Blöcke planten auf einen Krieg hin, den jeder als unausweichlich betrachtete, und Belgien sollte das Schlachtfeld sein. Daher habe ich den Begriff Dispositionsraum gewählt, allerdings würde ich auch Deiner Umschreibung der Lage Belgiens ohne Weiteres zustimmen.
 
"Dispositionsraum" würde ich Belgien nicht nennen. Die Großmächte, Frankreich und Deutschland, verbanden mit diesem Raum ganz eigensüchtige Erwartungen, Hoffnungen, Träume und Alpträume. Und zwischen diesen beiden Großmächten versuchten die Belgier in diesem Raum unabhängig und souverän zu leben und sich selbst zu behaupten.
Dazu eine Karte:
http://www.dean.usma.edu/history/web03/atlases/great war/great war pages/great war map 03new.htm
Ich kann auf Deiner Karte nur erkennen, dass eine Großmacht auf Belgien zugriff und eine andere sich dagegen wehrte, ebenfalls besetzt zu werden.
Nun zu Gandolf:
Ohne diesen Themenbereich bis auf's Letzte ergründet zu haben, so habe ich doch folgenden Eindruck:
Die moderne Diplomatie hat in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einiges für das Zusammenleben der Staaten getan, so möchte ich hier die Haager Verträge nennen, die u.a. den Durchmarsch durch neutrale Gebiete untersagten. Ich möchte behaupten, daß dies eine Art "Zivilisierungsprozeß" der internationalen Politik war, der auch kleinen Staaten eine Existenzgrundlage jenseits ihrer Abhängigkeit von den Großmächten gab. Im völligen Gegensatz dazu standen aber die Verteidigungskonzepte vieler Staaten, die offensiv ausgelegt wurden und (im Falle Frankreichs alternativ, im Falle Deutschlands alternativlos) den Bruch internationalen Rechts zur Gewinnung vermeintlicher strategischer Vorteile in Kauf nahmen. Ihre strategischen Planungen liessen Frankreich und Deutschland als Garantiemächte Belgiens wirkungslos werden, denn die belgische Neutralität stellte für beide keinen Wert an sich dar, sondern einen je nach Lage der Dinge zu behandelnden Faktor. Auch Großbritannien war 1914 schon viel zu sehr in die strategische Planung als Ententemacht verstrickt, um als Garantiemacht handeln zu können, folglich traten die Briten auch auf Seiten Frankreichs in den Krieg ein und nicht auf Seiten Belgiens, wobei ich hier keine Haare spalten möchte.
Auch vor dem Hintergrund der langen und problematischen Geschichte Belgiens als eines der Schlachtfelder Europas stellte sich die Situation kurz vor 1914 für Belgien viel gefährlicher dar als in den vorangegangenen Jahrzehnten: Zwei mehr oder minder fest geformte Blöcke planten auf einen Krieg hin, den jeder als unausweichlich betrachtete, und Belgien sollte das Schlachtfeld sein. Daher habe ich den Begriff Dispositionsraum gewählt, allerdings würde ich auch Deiner Umschreibung der Lage Belgiens ohne Weiteres zustimmen.
Worauf läuft Deine Argumentation hinaus?

Die völkerrechtlichen Vereinbarungen waren durch diese Planungen nicht aufgehoben; schon gar nicht durch die von der französischen Regierung verworfenen Planungen des französischen Militärs. Berlin brach diese Vereinbarungen. Bethmann-Hollweg hat dies in seiner Reichstagsrede ausdrücklich eingräumt ("Bruch des Völkerrechts").

Es trifft zwar zu, dass Europa 1914 zwischen zwei Blöcken gespaltet war. In den Krisen der Jahre zuvor gelang es einem deutsch-britischen Krisenmanagement aber auch immer wieder, einen drohenden großen europäischen Krieg gerade noch einmal abzuwenden. In der Julikrise 1914 war dies deshalb anders, weil Berlin die Weichen auf Krieg stellte, es sei denn, die anderen Großmächte wären bereit gewesen, ihre Allianzen platzen zu lassen (Russland Serbien, Frankreich Russland und die Briten Frankreich).

Beispiel: Bethmann-Hollweg bot den Briten im Juli 1914 an, dass Frankreich keine Annexionen (in Europa) erleiden wird, wenn die Briten sich aus dem Krieg raushalten und den Durchmarsch durch Belgien dulden. Warum hätte London diese Einladung, gleich mehrere völkerrechtlichen Verträge auf einmal zu brechen, annehmen sollen?
 
Warum hätte London diese Einladung, gleich mehrere völkerrechtlichen Verträge auf einmal zu brechen, annehmen sollen?

Welche völkerrechtlichen Verträge meinst du genau? Ich mutmaße einmal die Londoner Protokolle von 1830. Aber welcher Vertrag ist noch gemeint?
 
Die Entente Cordiale ist doch ein kolonialpolitischer Interessenausgleich zwischen Frankreich und England bezüglich Ägypten und Marokko. Was hat diese Vereinbarung mit der Gewährleitung oder Sicherung der Neutralität Belgiens zu tun?
 
Die Entente Cordiale began als kolonialpolitischer Interessenausgleich und entwickelte sich über verschiedene Stationen (insb. die beiden Marokkokrisen) zu einem freilich nicht weiter festgeschriebenen Bündnis zwischen Frankreich und GB, bei dem die Briten den Franzosen ihr Wort dafür gaben, Frankreich im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich beizustehen. Eusebius hatte auf diesen Umstand bezug genommen, in dem er darauf verwies, dass die Briten als Ententemacht in strategische Planungen verstrickt war, was auch stimmte (ich denke z.B. an die brit.-frz. Übereinkunft die französische Kanalküste zu sichern). Den Zeitgenossen war auch klar, dass die Briten gegenüber den Franzosen in der Pflicht standen.

Bethmann-Hollwegs Angebot vom Juli 1914 umschloss also zwei - ich schreib mal vorsichtiger - Wortbrüche:
1. Den Bruch der Londoner Abkommen, mit denen die belgische Neutralität gewährleistet wurde.
2. Den Bruch der defensiven Verpflichtungen, die sich aus der (weiterentwickelten) Entente Cordiale ergaben.
 
Das britische Kabinett kam Ende Juli 14 zu folender Meinung: "Die britische öffentliche Meinung wird es un jetzt nicht gestatten, Frankreich zu unterstützen..... wir können im Moment nicht sagen, was uns verpflichtet...." (K.Wilson, Britisch Cabinets Decision for War) Die britische Regierung hat also anscheinend aus der Entente Cordiale nicht die Verpflichtung abgeleitet, auf Seiten Frankreichs in den Krieg einzutreten

Entsprechende agierte oder lavierte Grey gegenüber Frankreich und auch Deutschland in dem er klare Aussagen zu der Haltung Großbritanniens vermied.. Grey agierte sehr zurückhaltend. In Großbritannien gab es nämlich durchaus ernstzunehmende Strömungen sich aus diesem sich abzeichnenden Kriege herauszuhalten.

Entscheidend für den Kriegseintritt Englands auf der Seite Frankreichs, war die kriegerische Verletzung der belgischen Neutralität durch das Deutsche Reich.
Das hat auch Lloyd George rückblickend so gesehen.
 
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Das britische Kabinett kam Ende Juli 14 zu folender Meinung: "Die britische öffentliche Meinung wird es un jetzt nicht gestatten, Frankreich zu unterstützen..... wir können im Moment nicht sagen, was uns verpflichtet...." (K.Wilson, Britisch Cabinets Decision for War) Die britische Regierung hat also anscheinend aus der Entente Cordiale nicht die Verpflichtung abgeleitet, auf Seiten Frankreichs in den Krieg einzutreten

Entsprechende agierte oder lavierte Grey gegenüber Frankreich und auch Deutschland in dem er klare Aussagen zu der Haltung Großbritanniens vermied.. Grey agierte sehr zurückhaltend. In Großbritannien gab es nämlich durchaus ernstzunehmende Strömungen sich aus diesem sich abzeichnenden Kriege herauszuhalten.

Entscheidend für den Kriegseintritt Englands auf der Seite Frankreichs, war die kriegerische Verletzung der belgischen Neutralität durch das Deutsche Reich.
Das hat auch Lloyd George rückblickend so gesehen.
Ein bißchen blauäugig ist diese Argumentation aber schon.

Aufgrund des Jahre vor 1914 bekannt gewordenen Schliefenplans und des Angebots von Bethmann Hollweg im Juli 1914 wusste London ja, dass Deutschland Frankreich über Belgien angreifen würde. Warum sollte London mit seinem Kriegseintritt nicht abwarten bis die Deutschen den Völkerrechtsbruch begingen? Der deutsche Völkerrechtsbruch einigte dann ja auch das Kabinett.

Doch auch wenn Deutschland die belgische Neutralität nicht verletzt hätte, wäre England bei einem deutschen Angriff auf Frankreich sehr wahrscheinlich zu Gunsten Frankreichs in den Krieg eingetreten. Seit der Krieg-in-Sicht-Krise (1875) hatte London Berlin immer wieder signalisiert, dass es auch in Zukunft noch ein Frankreich auf der europäischen Landkarte sehen möchte und keiner weiteren Schwächung Frankreichs tatenlos zusehen würde. Bei den zahlreichen Krisen, die Europa vor 1914 erschütterten, verstärkten London und Paris ihre Planungen für die gemeinsame Abwehr eines deutschen Angriffs. Meiner Einschätzung nach fühlten sich die Briten aus diesen gemeinsamen Planungen durchaus verpflichtet. Dementsprechend sauer war ja auch Grey, dass ihm Berlin das Angebot unterbreitete, Paris im Stich zu lassen.
 
Ein bißchen blauäugig ist diese Argumentation aber schon.

Vielen herzlichen Dank für die Blumen! :hmpf:

Aufgrund des Jahre vor 1914 bekannt gewordenen Schliefenplans und des Angebots von Bethmann Hollweg im Juli 1914 wusste London ja, dass Deutschland Frankreich über Belgien angreifen würde. Warum sollte London mit seinem Kriegseintritt nicht abwarten bis die Deutschen den Völkerrechtsbruch begingen? Der deutsche Völkerrechtsbruch einigte dann ja auch das Kabinett.[


Nach meinem Kenntisstand war der französischen Regierung der Schlieffenplanz zwar bekannt, man war aber geneigt dem Plan keine Beachtung zu schenken. Es ist doch wahrscheinlich, das die Briten ähnlich dachten.


Du unterstellst aber, das die bitische Diplomatie der ganzen Welt ein Possenspiel vorgeführt hat?

Wenn man also quasi schon Bescheid wußte, frage ich mich , weshalb das britische Kabinett sich intensiv mit diesem Thema befasst hat und Grey Deutschland nicht ganz unmißverständlich gewarnt hat. Möglicherweise hätten Bethmann und Konsorten noch zur Vernunft gebracht werden können. Stattdessen erfolgten gewundene, indirekte Aussagen, mit dem niemand etwas anfangen konnte.
Denn Bethmann hielt es bis zum Ende für möglich, das England neutral bleiben könnte. Auch bleibt die Frage im Raum stehen, warum denn Frankreich nicht ins Bild gesetzt worden ist.

Am 01.August 1914 war das britische Kabinett immer noch über eine eventuelle Kriegsbeteiligung uneinig. Churchill wurde die Mobeilmachung der Flotte verweigert. Der britische Premier führte aus, das die Mehrheit seiner Partei gegen den Krieg sei. (Quelle David Fromkin, Europas letzter Sommer, München 2005)

Vom Kabinett dazu ermächtigt, steckte Grey den deutschen Botschafter in gewundenen Worten eine Warnung dahingehend zu. Wenn Deutschland die belgische Neutralität verletzte, wäre diese für Großbritannien der Casus Belli zum Eintritt in dem Krieg. (Quelle David Fromkin, Europas letzter Sommer, München 2005)
Doch auch wenn Deutschland die belgische Neutralität nicht verletzt hätte, wäre England bei einem deutschen Angriff auf Frankreich sehr wahrscheinlich zu Gunsten Frankreichs in den Krieg eingetreten. Seit der Krieg-in-Sicht-Krise (1875) hatte London Berlin immer wieder signalisiert, dass es auch in Zukunft noch ein Frankreich auf der europäischen Landkarte sehen möchte und keiner weiteren Schwächung Frankreichs tatenlos zusehen würde. Bei den zahlreichen Krisen, die Europa vor 1914 erschütterten, verstärkten London und Paris ihre Planungen für die gemeinsame Abwehr eines deutschen Angriffs. Meiner Einschätzung nach fühlten sich die Briten aus diesen gemeinsamen Planungen durchaus verpflichtet. Dementsprechend sauer war ja auch Grey, dass ihm Berlin das Angebot unterbreitete, Paris im Stich zu lassen.

Das ist jetzt aber doch sehr OT. Wann wollte Deutschland dann Frankreich von der Landkarte verschwinden lassen? Die "Krieg in Sicht Krise" war doch ein Vesuchsballon von Bismarck gewesen. Der Hintergrund war doch der, das Frankreich begann sein Armee personell ganz erheblich zu verstärken, was in Deutschland einige Beruhigung verursachte. In Frankreich war das Gefasel von der "Revanche" für Sedan sehr stark ausgeprägt.

Zwischen England und Frankreich gab es nach 1875 noch vielfältige Spannungen. Genannt seien hier nur Faschoda, Siam, Ägypten, Marokko. Zwischen 1898 und 1901sondierte England bei dem Deutschen Reich die Möglichkeiten eines Bündnisses. Das geschah sicher nicht aus Liebe zu Frankreich. England brauchte schlicht und ergreifend Rückendeckung für seine Weltpolitik, mit der es an seine Grenzen gekommen ist. Die weltweiten Spannungen mit Japan, Frankreich und Russland fingen an Großbritannien zu überfordern.

Erst nachdem diese Sondierungen gescheitert waren, zeigten die britsche Diplomatie ihre ganze Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigekeit. Innerhalb weniger Jahre hat man seine Differenzen mit Japan (1902), Frankreich (1904) und Russland (1907) ausgegleichen.
 
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amicus schrieb:
Du unterstellst aber, das die bitische Diplomatie der ganzen Welt ein Possenspiel vorgeführt hat?
Nein, das tue ich nicht. Das britische Kabinett war in der Tat gespalten. Doch ging die Spaltung der britischen Außenpolitik im Juli 1914 nicht so weit, dass ein großer Teil der Kabinettsmitglieder bereit gewesen wäre, die traditionelle britische Politik der Gleichgewichtssicherung (balance of power) aufzugeben. Ich sehe die Trennlinien eher zwischen jenen Politikern verlaufen, die bereits im Juli 1914 erkannten, dass ein frühzeitiger britischer Kriegseintritt zur Rettung Frankreichs als Großmacht notwendig war, und jenen Politikern, die diese Erkenntnis noch nicht teilten bzw. sich gegen die Folgen, die sich aus dieser ergaben, sträubten.

Bei der Einschätzung dieser Notwendigkeiten kann meiner Meinung nach nicht außer Acht gelassen werden, wofür ein rasch und wuchtig ausgeführter deutscher Angriff gegen Frankreich stand. Der stand nämlich für den Versuch, Frankreich als Großmacht auszuschalten und Deutschland zum Hegemon Europas aufzuschwingen. Wenn GB dies verhindern wollte, musste es rasch handeln: es musste ja nicht nur seine Truppen mobilisieren, sondern diese auch noch über den Kanal setzen, auf dem Kontinent landen und dann erst konnten diese in das Kampfgeschehen eingreifen.

Am Beispiel des britischen Kabinetts zeigte sich, welche Signal-Funktion dem Völkerrecht im Bewusstsein von Entscheidungsträgern zufallen KANN (nicht zwingend notwendigerweise zufallen muss). Der völkerrechtswidrige Einmarsch in Belgien belegte alle Behauptungen der britischen Kriegsbefürworter: die deutsche Invasion in Belgien stand für den Versuch, Frankreich rasch niederzuringen, widersprach der britischen Politik der „balance of power" und ließ die Gefahr entstehen, dass die belgische Kanalküste somit einem politischen Gegner GBs dauerhaft zufiel. Um all dies zu verhindern, musste Frankreichs Stellung als Großmacht gerettet werden; um diese zu retten, musste rasch in den Krieg eingetreten werden.

Fazit: das britische Kabinett führte keine Posse auf. Die hellsichtigeren Kabinettsmitglieder erkannten aber zutreffend, dass von einem deutschen Angriff auf Belgien Signale ausgingen, denen sich die Gegner eines Kriegseintritts letztlich nicht entziehen konnten.
amicus schrieb:
Wenn man also quasi schon Bescheid wußte, frage ich mich , weshalb das britische Kabinett sich intensiv mit diesem Thema befasst hat und Grey Deutschland nicht ganz unmißverständlich gewarnt hat. Möglicherweise hätten Bethmann und Konsorten noch zur Vernunft gebracht werden können. Stattdessen erfolgten gewundene, indirekte Aussagen, mit dem niemand etwas anfangen konnte.
amicus schrieb:
Denn Bethmann hielt es bis zum Ende für möglich, das England neutral bleiben könnte. Auch bleibt die Frage im Raum stehen, warum denn Frankreich nicht ins Bild gesetzt worden ist.
London soll Berlin nicht gewarnt haben?

„Die britische Regierung (...) könne, solange der Konflikt sich auf Österreich und Russland beschränkte, abseits stehen. Würden (...) aber [Deutschland] und Frankreich hineingezogen, so sei die Lage sofort eine andere und die britische Regierung würde unter allen Umständen sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen" (Telegramm des deutschen Botschafters Lichnowsky an Staatssekretär Jagow vom 29.07.1914 über eine mit dem britischen Außenminister Grey stattgefundene Unterredung vom gleichen Tag, in: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung Band II, 1964, Dok.-Nr. 678)

Diese Warnung war eindeutig und sie enthält keinen Bezug auf einen etwaigen Bruch der belgischen Neutralität, was wiederum für meine These spricht, dass dem Bruch der belgischen Neutralität lediglich eine Symbolwirkung zukam für den (aus britischer Sicht unakzeptablen) Versuch Deutschlands, sich zur europäischen Hegemonialmacht aufzuschwingen.
amicus schrieb:
Wann wollte Deutschland dann Frankreich von der Landkarte verschwinden lassen?
Vorsicht Missverständnis: Mit dieser Formulierung habe ich eine Metapher des russischen Kanzlers Gortschakow aufgegriffen, der in der Krieg-in-Sicht-Krise in Berlin die gemeinsame englisch-russische Position verdeutlichte. GB und R bestanden darauf, ohne jedes Wenn und Aber, „ein Frankreich auf der Karte Europas" zu sehen, „um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten". Mit dem Verschwindenlassen Frankreichs ist also das Verschwinden Frankreichs auf der Karte der Großmächte, die Ausschaltung Frankreichs als Großmacht, gemeint.;)

Wann wollte D Frankreich als Großmacht ausschalten?
Moltke der Ältere wollte dies bereits 1875. Mit einem „Präventivkrieg" sollte Frankreichs Wiederaufstieg, nach der Niederlage von 1870/71, verhindert werden. Bismarck lehnte dies aufgrund den Erfahrungen, die er in der Krieg-in-Sicht-Krise, dem „Lehrstück für die Zukunft", sammelte, ab. Aber nach Bismarck tauchte dieses Motiv ständig in der deutschen Außenpolitik auf. Doch je stärker Berlin versuchte, Frankreich außenpolitisch zu schwächen, desto fester unterstützten Russland und England Frankreich. Letztlich war es dann auch eine Frage der Glaubwürdigkeit, den Warnungen, die man aus London Berlin für den Fall eines deutschen Angriffs auf Frankreich zukommen ließ, Taten folgen zu lassen.
 
Unterm Strich bleibt das Folgende:

Großbritannien war weder Frankreich noch Russland gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet zu helfen. Dies war auch die Meinung vom Premier Asquith und das hat sich auch in der Politik von Grey niedergeschlagen. Frankreich, Russland, Deutschland wußten in der Julikrise sehr lange nicht, eindeutig viel zu lange, für welche Position sich Großbritannien letzten Endes durchringen würde. Die Liberalen, also die regierende Partei des Premiers, wollte in ihrer großen Mehrheit, das sich Großbritannien aus dem heraufziehenden Krieg heraushält. Die Konservativen und Chruchill wollten Frankreich unterstützen.

Auf der Kabinettsstizung am 02.August abends waren sich die Kabinettsmitglieder noch nicht einmal sicher, ob sie als Garantiemacht Belgiens handeln müssten, da die anderen Garantiemächte bisher untätig geblieben sind.

Großbritannien besaß gegnüber Belgien eine Verpflichtung und anerkannte auch diese schließlich an. Als die die Meldung kam, das deutsche Truppen die Grenze luxemburg übershritten hatten und die Absicht bekannt wurde, in Belgien einzumarschieren, wurde die Mobilmachung angeordent. Am 04.August 1914 ist Großbritannien seiner Verpflichtung gegenüber Belgien nachgekommen, in dem es dem Deutschen Reich dem Krieg erklärte.
 
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„Die britische Regierung (...) könne, solange der Konflikt sich auf Österreich und Russland beschränkte, abseits stehen. Würden (...) aber [Deutschland] und Frankreich hineingezogen, so sei die Lage sofort eine andere und die britische Regierung würde unter allen Umständen sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen" (Telegramm des deutschen Botschafters Lichnowsky an Staatssekretär Jagow vom 29.07.1914 über eine mit dem britischen Außenminister Grey stattgefundene Unterredung vom gleichen Tag, in: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung Band II, 1964, Dok.-Nr. 678)

Das verursachte große Freude auf deutscher Seite.

Wilhelm war nun sofort und intensiv bemüht den Aufmarsch zu stoppen. Er ließ nach Trier den Befehl durchgeben, das die Grenzen zu Luxemburg nicht überschritten werden dürfen. Moltke hat das alles nicht gepaßt, genaus so wenig wie Faleknhayn. Man argumentierte, man könne nun nicht den ganzen Aufmarsch korrigieren.

Es kam sogar noch besser. Am 01.August kam abends ein weiteres Telegramm aus London. Dazu schrieb Admiral Müller " Dann kam ein weiteres erstaunliches Telegramm aus England, worin Sir Edward Grey die englische Neutralität auch für den Fall in Aussicht stellte, dass Deutschland mit Frankreich in Krieg geraten sollte."

Die Freude war ganz außergewöhnlich. Wilhelm ließ Sekt kommen. Sogar Tirpitz war froh, der Auseindersetzung mit England entkommen zu sein. Nur wenige Stunden später, um 23.11 Uhr, kam ein Telgramm von Lichnowsky aus London, in dem er mitteilte, das Grey sein Angebot wieder zurück gezogen hat.

Es war doch ein ziemliches Wechselbad der Gefühle in den letzen Tagen vor dem Krieg und Grey blieb unklar und legte sich nicht fest.

(Von mir benutzte Quelle: "Falkenhayn" von Holger Afflerbach , Stuttgart 1996)
 
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Ich zitiere hier Michael Salewski in Zusammenhang mit der englischen Haltung[1]:
“Gewiß hat Grey später beteuert, England wäre in jedem Fall seinem Verpflichtungen gegenüber Großbritannien gegenüber nachgekommen, aber das war natürlich eine ex-post Erklärung, die nichts kostete.


Diese Verpflichtung hatte aber auch nur Grey so empfunden. denn die Entente war de jure weder ein Bündnis noch ein Vertrag.

Hier zitiere ich Sönke Neitzel[2] :
“Alle Versuche des russischen und insbesondere des französischen Botschafters in London, eine verbindliche Zusage zum Kriegseintritt zu erhalten, musste Grey ausweichend beantworten, da die Kabinettsmehrheit für eine britische Nichteinmischung plädierte.“


An dieser möchte ich John Keegan zitieren[3] :

“In London verzweifelte an diesem 01.August der französische Botschafter Paul Cambon, weil die Briten sich weigerten, Position zu beziehen. Großbritannien hatte während der ganzen Krise darauf gesetzt, dass – wie so oft zuvor – direkte Gespräche zwischen den beteiligten Partnern die Schwierigkeiten lösen würden. Als eine durch Verträge nicht gebundene Macht hatte es seine Absichten vor allen anderen Mächten – auch vor Frankreich – verheimlicht.


[1] Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg, Paderborn 2004

[2] Sönke Neitzel: Kriegsausbruch, Zürich 2002

[3] John Keegan: Der Erste Weltkrieg, Reinbek 2000
 
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Großbritannien war weder Frankreich noch Russland gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet zu helfen. Dies war auch die Meinung vom Premier Asquith und das hat sich auch in der Politik von Grey niedergeschlagen.
Es bestand keine juristische Verpflichtung, wohl aber eine moralisch-politische.

Der Leiter der Abteilung Westeuropa im britischen Außenministerium Sir Eye Crowe brachte dies in seinem Memorandum vom 31.7.1914 für den britischen Außenminister Grey wie folgt auf den Punkt:

"Das Argument, dass es keine schriftlichen uns an Frankreich bindenden Verpflichtungen gibt, ist streng genommen zutreffend. Es besteht keine vertragsmässige Verpflichtung. Die Entente wurde jedoch abgeschlossen, gekräftigt und in einer Weise erprobt und gefeiert, die den Glauben rechtfertigt, dass ein moralisches Band geschmiedet worden ist. Die ganze Politik der Entente kann keinen Sinn haben, wenn sie nicht bedeutet, dass Engalnd in einem gerechten Streitfall seinen Freunden beistehen werde. Diese Ehren-Erwartung wurde erweckt. Ohne unseren guten Namen ernster Kritik auszusetzen, können wir das nicht von uns weisen. (...) Wenn man die Frage auf dieser Grundlage erwägt, dann wird man sicher finden, dass unsere Pflicht und unser Interesse es erheischen, Frankreich in seiner Stunde der Not beizustehen. Frankreich hat den Streit nicht gesucht. Er ist ihm aufgezwungen worden."

Quelle: Immanuel Geiss (Hrsg.), Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II (1964), Dok.-Nr. 962.
amicus schrieb:
Frankreich, Russland, Deutschland wußten in der Julikrise sehr lange nicht, eindeutig viel zu lange, für welche Position sich Großbritannien letzten Endes durchringen würde.
Unter dem Gesichtspunkt der Friedenserhaltung war es sogar geboten, dass GB sich gegenüber Frankreich und Rußland zurückhaltend verhielt. Diese beide Staaten sollten nicht durch voreilige britische Zusagen zu einem Krieg gegen D/ÖU ermutigt werden. Insoweit kann ich Deine Bemerkungen nicht nachvollziehen.

D hingegen wurde von GB seit 1875 regelmäßig davor gewarnt, die Großmachtrolle Frankreichs in Frage zu stellen. Gleichwohl erhielt sich in Berlin die "Fata Morgana" einer britischen Neutralität in einem von D verursachten deutsch-französischen Krieg. Das hat aber mehr mit dem Wunschdenken deutscher Militärs und Politiker zu tun als mit dem Verhalten der britischen Regierungen.

Ferner lässt Du bei Deiner Analyse die Entwicklung der Julikrise 1914 außer Acht:

Mit einer Bestrafung Serbiens durch ÖU war GB prinzipiell einverstanden. Zugleich wies Grey aber schon am 9.7.1914 (!) darauf hin, dass "sehr viel von der Art der gedachten Massnahmen abhängen [würde], und ob dieselben nicht das slawische Gefühl in einer Weise erregten, die es Herrn Sasonow [Rußlands Außenminister, Gandolf] unmöglich machen würde, dabei passiv zu bleiben" (Lichnowsky an Bethmann Hollweg am 9.7.1914, in: I. Geiss [s.o.], Band I, Dok.-Nr. 60. In einer ganzen Serie von Telegrammen warnte Lichnowksy Berlin eindringlich davor, den Bogen gegenüber Serbien zu überziehen. "Ich wiederhole meine Auffassung, dass bei militärischen Massnahmen gegen Serbien gesamte öffentliche Meinung [GBs, Gandolf] gegen ÖU Stellung nehmen wird" (Lichnowsky an Jagow am 16.7.1914, in: I. Geiss [s.o.], Band I, Dok.-Nr. 110.

Für die Briten begann die Julikrise im Grunde erst mit dem - wochenlang verzögerten - österreichischen Ultimatum vom 23.7.1914 an die serbische Regierung. Als das Ultimatum in London bekannt wurde, hatte man dort noch die Hoffnung auf ein mäßigendes, kriegsverhinderndes Einwirken Berlins auf dessen österreichischen Dreibundpartner. Immerhin wurden die letzten Balkankrisen mit Hilfe eines deutsch-britischen Krisenmanagements eingedämmt. Die deutsch-britischen Beziehungen hatten sich bis zum Vorabend des Ultimatums spürbar verbessert. In London hatte man vor diesem Hintergrund gar nicht die Erwartung, dass Berlin nun ausgerechnet in dieser Krise die Weichen auf Krieg gestellt hatte. Damit die Briten auch arglos blieben, wurde der deutsche Botschafter Lichnowsky über das österreichische Ultimatum auch noch falsch instruiert. So beteuerte dieser fälschlicherweise, Berlin habe vom österreichischen Ultimatum keine Kenntnis gehabt. Die angebliche deutsche Ahnungslosigkeit sollte Berlins Wille, es in dieser Krise zu keiner diplomatischen Lösung kommen zu lassen, verdunkeln.

Hieraus ergaben sich in der Tat Verzögerungen und Fehleinschätzungen. Diese aber nun ausgerechnet den Briten anlasten zu wollen, halte ich dann doch für ausgesprochen unfair.
Das verursachte große Freude auf deutscher Seite.

Wilhelm war nun sofort und intensiv bemüht den Aufmarsch zu stoppen. Er ließ nach Trier den Befehl durchgeben, das die Grenzen zu Luxemburg nicht überschritten werden dürfen. Moltke hat das alles nicht gepaßt, genaus so wenig wie Faleknhayn. Man argumentierte, man könne nun nicht den ganzen Aufmarsch korrigieren.

Es kam sogar noch besser. Am 01.August kam abends ein weiteres Telegramm aus London. Dazu schrieb Admiral Müller " Dann kam ein weiteres erstaunliches Telegramm aus England, worin Sir Edward Grey die englische Neutralität auch für den Fall in Aussicht stellte, dass Deutschland mit Frankreich in Krieg geraten sollte."

Die Freude war ganz außergewöhnlich. Wilhelm ließ Sekt kommen. Sogar Tirpitz war froh, der Auseindersetzung mit England entkommen zu sein. Nur wenige Stunden später, um 23.11 Uhr, kam ein Telgramm von Lichnowsky aus London, in dem er mitteilte, das Grey sein Angebot wieder zurück gezogen hat.

Es war doch ein ziemliches Wechselbad der Gefühle in den letzen Tagen vor dem Krieg und Grey blieb unklar und legte sich nicht fest.

(Von mir benutzte Quelle: "Falkenhayn" von Holger Afflerbach , Stuttgart 1996)
Hier stimmt einiges nicht.

Entgegen Deiner Darstellung löste das Lichnowksy-Telegramm vom 29.7.1914 in Berlin keine Freude aus. Warum auch? Immerhin hatte Lichnowsky in diesem Telegramm Greys Warnung mitgeteilt, wonach GB in einem deutsch-französischen Krieg zu Gunsten Frankreichs intervenieren wird. Dementsprechend besorgt war Bethmann-Hollweg. Dieser unterbreitete nun dem britischen Botschafter sein unmoralisches Angebot, GB solle Frankreich im Stich lassen und Frankreichs territorialer Besitz in Europa bliebe unangetastet.

Richtig ist vielmehr, dass Lichnoswky am 1.8.1914 nach Berlin telegrafierte, GB und Frankreich seien doch bereit, neutral zu bleiben. Nähere Vorschläge würden ihm von Grey noch im Laufe des Tages übermittelt. Diese Meldung löste in Berlin Freude aus. Sie beruhte aber auf einem Missverständnis Lichnowskys und nicht auf einem unklaren, wolkigen Verhalten Greys. Am Abend des 1.8.1914 kam dann die Richtigstellung von Lichnowksy.
 
Die renommierten Historiker Salewski, Keegan und Neitzel kommen zu der Schlussfolgerung, das GB bis zum Ende nicht klar und eindeutig Position bezogen hat.

Frankreich, Russland und Deutschland wussten am 02.August spät abends immer noch nicht, woran sie mit Großbritannien sind. Das ist ganz einfach so.

Hier dazu noch ein weiteres Beispiel:

Botschaft vom 01.August 20.20 von Grey an den englischer Botschafter in Paris Bertie.

Nach der heutigen Kabinettssitzung sagte ich Herr Cambon, die gegenwärtige Lage unterscheide sich völlig von der durch die Marokkozwischenfälle geschaffenen Lage. In letzterer stelle Deutschland Forderungen an Frankreich, die es nicht gewähren konnte und in deren Zusammenhag wir besondere Verpflichtungen gegen Frankreich übernommen hatten. In Bezug auf sie würde die öffentliche Meinung eine Unterstützung Frankreichs seitens der britischen Regierung bis zum Äußerten gerechtfertigt haben. Jetzt wäre die Lage so, dass Deutschland bereit sei, Frankreich nicht anzugreifen, wenn Frankreich in Falle eines Krieges neutral bliebe. Wenn Frankreich daraus keinen Nutzen zu ziehen vermöge, dann deshalb, weil es durch ein Bündnis gebunden sei, an dem wir nicht beteilig wären und dessen Bestimmungen wir nicht kennten.

Später deutet Grey noch an, das GB zum in dem heraufziehenden Krieg eintreten könnte, wenn

1. Die belgische Neutralität verletzt werden würde und
2. Die Deutschen über die französische Kanalküste Frankreich angreifen würden.
(Quelle für die Botschaft an Bertie: Juli 1914 Dokumente, München 1980)

Warum waren sich die Mitglieder des britischen Kabinetts am 02.August noch nicht einmal sicher, ob Belgien als Casus Belli überhaupt ausreicht?

Es bestand keine juristische Verpflichtung, wohl aber eine moralisch-politische.


Mit dem ersten Halbsatz bin ich voll einverstanden. Vielleicht haben Grey und Churchill eine politische und moralische Verpflichtung empfunden, die übergroße Mehrheit des Kabinetts jednfalls nicht, der König und das Volk ebenfalls nicht.

"Das Argument, dass es keine schriftlichen uns an Frankreich bindenden Verpflichtungen gibt, ist streng genommen zutreffend. Es besteht keine vertragsmässige Verpflichtung. Die Entente wurde jedoch abgeschlossen, gekräftigt und in einer Weise erprobt und gefeiert, die den Glauben rechtfertigt, dass ein moralisches Band geschmiedet worden ist. Die ganze Politik der Entente kann keinen Sinn haben, wenn sie nicht bedeutet, dass Engalnd in einem gerechten Streitfall seinen Freunden beistehen werde. Diese Ehren-Erwartung wurde erweckt. Ohne unseren guten Namen ernster Kritik auszusetzen, können wir das nicht von uns weisen. (...) Wenn man die Frage auf dieser Grundlage erwägt, dann wird man sicher finden, dass unsere Pflicht und unser Interesse es erheischen, Frankreich in seiner Stunde der Not beizustehen. Frankreich hat den Streit nicht gesucht. Er ist ihm aufgezwungen worden."

Wie gesagt, das sah das Außenministerium so, der Premier und die überwiegende Mehrheit des Kabinetts sahen es nicht so.


Unter dem Gesichtspunkt der Friedenserhaltung war es sogar geboten, dass GB sich gegenüber Frankreich und Rußland zurückhaltend verhielt. Diese beide Staaten sollten nicht durch voreilige britische Zusagen zu einem Krieg gegen D/ÖU ermutigt werden. Insoweit kann ich Deine Bemerkungen nicht nachvollziehen.


Vielmehr ist das Gegenteil korrekt. Wenn Grey mit Bekanntgabe des Ultimatums ganz klar Stellung bezogen hätte, nicht heute hüh und morgen hott, dann wären in Berlin so manch eine Seifenblase der verantwortlichen Herren zerplatzt und die Dinge hätten sich möglicherweise anders entwickelt.

D hingegen wurde von GB seit 1875 regelmäßig davor gewarnt, die Großmachtrolle Frankreichs in Frage zu stellen. Gleichwohl erhielt sich in Berlin die "Fata Morgana" einer britischen Neutralität in einem von D verursachten deutsch-französischen Krieg. Das hat aber mehr mit dem Wunschdenken deutscher Militärs und Politiker zu tun als mit dem Verhalten der britischen Regierungen.

Ich verweise auf meinem obigen Beitrag
http://www.geschichtsforum.de/showpost.php?p=244504&postcount=71
und füge noch ergänzend als Hintergrund folgendes hinzu. Im Frühjahr 1874 machte sich Gortschakow daran die Beziehungen zu Österreich-Ungarn zu verbessern, im Herbst 1874 die zu Frankreich. Bismarcks Albtraum schien Wahrheit zu werden: Eine Allianz bestehend aus Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich. Aus diesem Grunde hat Bismarck die "Krieg in Sicht Krise" des Jahres 1845 ganz gezielt entfacht und angeheizt.

Für die Briten begann die Julikrise im Grunde erst mit dem - wochenlang verzögerten - österreichischen Ultimatum vom 23.7.1914 an die serbische Regierung. Als das Ultimatum in London bekannt wurde, hatte man dort noch die Hoffnung auf ein mäßigendes, kriegsverhinderndes Einwirken Berlins auf dessen österreichischen Dreibundpartner. Immerhin wurden die letzten Balkankrisen mit Hilfe eines deutsch-britischen Krisenmanagements eingedämmt. Die deutsch-britischen Beziehungen hatten sich bis zum Vorabend des Ultimatums spürbar verbessert. In London hatte man vor diesem Hintergrund gar nicht die Erwartung, dass Berlin nun ausgerechnet in dieser Krise die Weichen auf Krieg gestellt hatte. Damit die Briten auch arglos blieben, wurde der deutsche Botschafter Lichnowsky über das österreichische Ultimatum auch noch falsch instruiert. So beteuerte dieser fälschlicherweise, Berlin habe vom österreichischen Ultimatum keine Kenntnis gehabt. Die angebliche deutsche Ahnungslosigkeit sollte Berlins Wille, es in dieser Krise zu keiner diplomatischen Lösung kommen zu lassen, verdunkeln.


Hieraus ergaben sich in der Tat Verzögerungen und Fehleinschätzungen. Diese aber nun ausgerechnet den Briten anlasten zu wollen, halte ich dann doch für ausgesprochen unfair.

Unfair?
Das Argument der Verzögerungen und Fehleinschätzungen halte ich nicht für überzeugend. Mit der Übergabe des Ultimatums war spätestens klar, wohin die Reise geht. Und ab diesen Zeitpunkt wäre es klug gewesen sich eindeutig zu erklären. Großbritannien fuhr jedoch eine Strategie es Hinhaltens, Verzögerns und der Zweideutigkeiten.

Das wochenlange Verzögern ist darauf zurückzuführen, das der französische Präsident Poincare in Russland auf Staatsbesuch weilte und dort war er nicht unbedingt gerade zurückhaltend.

Hier stimmt einiges nicht.

Entgegen Deiner Darstellung löste das Lichnowksy-Telegramm vom 29.7.1914 in Berlin keine Freude aus. Warum auch? Immerhin hatte Lichnowsky in diesem Telegramm Greys Warnung mitgeteilt, wonach GB in einem deutsch-französischen Krieg zu Gunsten Frankreichs intervenieren wird. Dementsprechend besorgt war Bethmann-Hollweg. Dieser unterbreitete nun dem britischen Botschafter sein unmoralisches Angebot, GB solle Frankreich im Stich lassen und Frankreichs territorialer Besitz in Europa bliebe unangetastet.

Hier bitte ich um Entschuldigung. Ich habe die Depesche mit der vom 01.August verwechselt. Sorry!

Dieses Argument des „unmoralischen“ Angebots, hört sich nach der Fischer-Schule an. Fischer vertritt ja die Position, das Deutschland meinte England aus dem Kriege heraushalten zu können, um dann gegen Frankreich und Russland aggressiv vorgehen zu können. Imanuel Geiss ist ja auch Schüler von Fritz Fische gewesen.
 
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Das würde also heißen: Auch hier schon zeigt sich eine Fehleinschätzung des Generalstabs als verhängnissvoll. Dort ging man ab der 2. Marokkokrise davon aus, dass "England auf jeden Fall mit Frankreich gehen würde".
Und sparte sich in der Folge die Bearbeitung des "Großen Ostaufmarschs", vermutlich auch aus Mangel an "Man-Power".
Wenn ich die Werke richtig interpretiere, konnten die im August 14 Mangels Planung gar nicht mehr anders, ein Aufmarsch konnte nur im Westen ablaufen.
 
Ich verweise auf meinem obigen Beitrag
http://www.geschichtsforum.de/showpo...4&postcount=71
und füge noch ergänzend als Hintergrund folgendes hinzu. Im Frühjahr 1874 machte sich Gortschakow daran die Beziehungen zu Österreich-Ungarn zu verbessern, im Herbst 1874 die zu Frankreich. Bismarcks Albtraum schien Wahrheit zu werden: Eine Allianz bestehend aus Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich. Aus diesem Grunde hat Bismarck die "Krieg in Sicht Krise" des Jahres 1845 ganz gezielt entfacht und angeheizt.
Hat sich doch ein Tippfehler eingeschlichen. Die "Krieg in Sicht Krise" wurde natürlich 1875 von Bismarck entfacht und nicht 1845.
 
amicus schrieb:
Die renommierten Historiker Salewski, Keegan und Neitzel kommen zu der Schlussfolgerung, das GB bis zum Ende nicht klar und eindeutig Position bezogen hat.
Es mag Historiker geben, die dies behaupten. Entscheidend ist aber, ob es für diese Behauptung auch gute Argumente gibt. Gehen wir doch mal der Frage nach, ob die von Dir angeführten Argumente überzeugend sind.

Wie ich bereits mehrfach geschrieben habe, warnten die Briten seit der Krieg-in-Sicht-Krise (1875) das Deutsche Reich regelmäßig davor, Frankreich weiter zu schwächen und als Großmacht zu gefährden.

Fürst Lichnowsky schrieb in seinem Buch "Meine Londoner Mission 1912 - 1914 und Eingabe an das preußische Herrenhaus" (1919), er habe bald nach seinem Amtsantritt in London als deutscher Botschafter "die Überzeugung gewonnen, daß wir unter keinen Umständen einen englischen Angriff oder eine englische Unterstützung eines fremden Angriffs zu befürchten hätten, daß aber unter allen Umständen England die Franzosen schützen würde. Diese Ansicht habe ich in wiederholten Berichten und mit ausführlicher Begründung und großem Nachdruck vertreten, ohne jedoch Glauben zu finden, obwohl die Ablehnung der Neutralitätsformel durch Lord Haldane und die Haltung Englands während der Marokkokrise recht deutliche Winke waren.Dazu kamen noch die bereits erwähnten und dem Amte bekannten geheimen Aufzeichnungen. Ich wies immer wieder darauf hin, daß England (...) eine Schwächung oder Vernichtung Frankreichs im Interesse des europäischen Gleichgewichts und um eine deutsche Übermacht zu verhindern niemals dulden könne. Das hatte mir bald nach meiner Ankunft Lord Haldane gesagt. In ähnlichem Sinne äußerten sich alle maßgebenden Leute" (Lichnowsky, "Meine Londoner Mission 1912 - 1914 und Eingabe an das preußische Herrenhaus" (1919)", S. 26, 27.

Fazit: London blieb nicht unklar, Berlin wollte nicht daran glauben.
amicus schrieb:
Frankreich, Russland und Deutschland wussten am 02.August spät abends immer noch nicht, woran sie mit Großbritannien sind. Das ist ganz einfach so.
Hier dazu noch ein weiteres Beispiel:
Botschaft vom 01.August 20.20 von Grey an den englischer Botschafter in Paris Bertie.
(...)
Vielmehr ist das Gegenteil korrekt. Wenn Grey mit Bekanntgabe des Ultimatums ganz klar Stellung bezogen hätte, nicht heute hüh und morgen hott, dann wären in Berlin so manch eine Seifenblase der verantwortlichen Herren zerplatzt und die Dinge hätten sich möglicherweise anders entwickelt.
Deine Argumentation ist nicht nachvollziebar.

Du stellst die These auf, Grey habe Deutschland über das britische Verhalten lange Zeit im Unklaren gelassen. Zum Beweis dieser These willst Du Dich auf das Frankreich gegenüber gezeigte Verhalten Greys berufen. Das ist Blendwerk!

Ob Grey Deutschland frühzeitig warnte, hängt von seinen Erklärungen ab, die er Deutschland gegenüber abgab und nicht von denen, die er (über Bertie) gegenüber Frankreich abgeben ließ. Grey hatte gute Gründe, sich gegenüber Paris und Berlin unterschiedlich zu verhalten. Paris sollte durch sein zurückhaltendes Verhalten und Berlin durch sein warnendes Verhalten vom Krieg abgeschreckt werden.
amicus schrieb:
Warum waren sich die Mitglieder des britischen Kabinetts am 02.August noch nicht einmal sicher, ob Belgien als Casus Belli überhaupt ausreicht?
Auch diese Frage spielt für die hier zu beantwortende Frage, wie Greys Deutschland gegenüber gezeigtes Verhalten zu bewerten ist, keine Rolle. Entscheidend ist, ob Grey Deutschland warnte und wann er dies tat und ob dies frühzeitig geschah. Wenn das Kabinett nicht hinter seinen Warnungen stand, heisst dies ja nicht, dass es keine Drohungen gab. Zudem gibt es auch keinen Bericht von Lichnowsky an Berlin dergestalt, dass Grey nicht ernst zu nehmen sei, da seine Ministerkollegen nicht hinter ihm stünden (welchen denn?).

Übrigens fasste das britische Kabinett in seiner zweiten Sitzung am 2.8.14 den Entschluss, in den Krieg einzutreten, wenn Belgiens Neutralität gegen dessen Widerstand verletzt würde (vgl. Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns, 1991, S. 775).
amicus schrieb:
Unfair?
Das Argument der Verzögerungen und Fehleinschätzungen halte ich nicht für überzeugend. Mit der Übergabe des Ultimatums war spätestens klar, wohin die Reise geht. Und ab diesen Zeitpunkt wäre es klug gewesen sich eindeutig zu erklären.
Das war keineswegs "klar". Die vorherigen Balkankrisen konnten durch deutsch-britisches Krisenmanagement erfolgreich abgekühlt werden. Warum sollte dies nicht auch im Juli 1914 möglich sein?

Zudem wurde Grey von Berlin belogen. Mit Telegramm vom 24.7. behauptete Zimmermann, die deutsche Regierung habe vom österreichischen Ultimatum keine Kenntnis gehabt. Dieses Telegramm zeigte Lichnwosky, der die Wahrheit nicht kannte, Grey und dieser gewann den Eindruck, dass Berlin nicht hinter dem Ultimatum steht, so dass eine friedliche Lösung - wie in den vorherigen Krisen - noch möglich sei. So bat Grey am 24.7. um Berlins Mitwirkung in Wien eine Verlängerung der Antwortfrist zu erreichen. Jagow ließ freilich den deutschen Botschafter in Wien viel zu spät vorstellig werden, nach London wurde jedoch gekabelt, man habe den Vorschlag sofort aufgegriffen. Berlin versteckte also seine eigentlichen Pläne ganz bewußt hinter Täuschungen. Man wird Grey kaum vorwerfen können, dass er auf diese hereinfiel.

Lichnowsky hingegen hat ununterbrochen vor einem britischen Kriegseintritt im Kriegsfalle gewarnt:
  • "Gesamteindruck hier geradezu verichtend, ohne Beteiligung anvermittelnder Aktion wird das Vertrauen in uns und unsere Friedensliebe hier endgültig erschüttert sein" (Lichnowsky an Jagow am 25.714, in: I. Geiß, Julikrise und Kriegsausbruch, Band I, Dok.-Nr. 338).
  • "Ablehnende Haltung könnte für spätere Stellungnahme Englands von grossem Einfluss sein. Morning Post, führendes konservatives Blatt, sagt (...) Note [Österreichs Ultimatum] sei Herausforderung Dreierverbands und wolle England zwingen sich zu entscheiden, ob es weiterhin an europäischer Politik teilnehmen wolle. Trotz häuslicher Zwiste, die britische Nation bewegten, werde dieselbe geschlossen hinter Regierung stehen und ihren Kurs unterstützen, welcher Art dieser auch sei" (Lichnowsky an Jagow 25.7.14, in: Geiss, aaO, Dok-Nr. 339).
  • "Die Zurückweisung seines Vorschlags (...) oder eine schroffe Haltung (...) würde wahrscheinlich zur Folge haben, England bedingungslos auf die Seite Frankreichs oder Russlands zu treiben" (Lichnowsky an Jagow 25.7.14, in: Geiss, aaO, Dok-Nr. 346).
  • "Unsere Ablehnung aber würde hier sehr verstimmen, und ich glaube nicht, dass, falls Frankreich hineingezogen wird, England gleichgültig bleiben dürfte" (Lichnowsky an Jagow 25.7.14, in: Geiss, aaO, Dok-Nr. 347).
  • "[hier] glaubt niemand mehr an Möglichkeit (...), Konflikt zu lokalisieren (Lichnowsky an Jagow 26.7.14, in: Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, 1964, Dok-Nr. 421).
  • Bericht über eine Unterhaltung mit Grey: "Die in Berlin erhoffte Loaklisierung des Konflikts sei vollkommen unmöglich (...). Gelänge (...) [E und D, Gandolf] den europäischen Frieden zu retten, so seien die englisch-deutschen Beziehungen für immerwährende Zeiten auf eine sichere Grundlage gestellt. Gelänge dies nicht, so stehe alles in Frage" (Lichnowsky an Jagow 26.7.14, in: Geiss, aaO, Dok-Nr. 432).
  • "Der Eindruck greift hier immer mehr Platz, und das habe ich aus meiner Unterredung mit Sir Edward Grey deutlich entnommen, dass die ganze serbische Frage sich auf eine Kraftprobe zwischen Dreibund und Dreierverband zuspitz. Sollte daher die Absicht Österreichs, den gegenwärtigen Anlass zu benuten, um Serbien niederzuwerfen (...), immer offenkundiger in Erscheinung treten, so wird England dessen bin ich gewiß, sich unbedingt auf Seite Frankreichs und Russlands stellen, um zu zeigen, dass es nicht gewillt ist, eine moralische oder gar militärische Niederlage seiner Gruppe zu dulden. Komt es unter diesen Umständen zum Krieg, so werden wir England gegen uns haben" (Lichnowsky an Jagow 27.7.14, in: Geiss, aaO, Dok-Nr. 498).
etc., etc.

Die These, es habe keine frühzeitige und hinreichend deutliche Warnung vor einem britischen Kriegseintritt aus London gegeben, lässt sich vor dieser Flut warnender Telegramme nicht aufrecht erhalten.
amicus schrieb:
Dieses Argument des
 
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