Bevölkerungsschwankungen im Neolithikum

Klaus

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Anbei ein Artikel über starke Einbrüche der Bevölkerungsdichte nach dem Übergang zur Landwirtschaft in Europa. Neolithische Revolution: Mit dem Sensenmann kam der Sensenmann - Spektrum.de
Als die Menschen das Jäger-und-Sammler-Leben zugunsten von Ackerbau und Viehzucht aufgaben, taten sie dies, um ihre Nahrungsversorgung auf sichere Füße zu stellen – besagt eine verbreitete Theorie. Wie eine neue Studie zeigt, scheint dieser Plan allerdings nicht sonderlich gut aufgegangen zu sein: Die Umstellung der Lebensweise brachte starke Populationsschwankungen mit sich, bei denen die Bevölkerung mitunter auf ein Drittel schrumpfte. ...
Offenbar war die Nahrungsversorgung in dieser Phase recht instabil, so dass es mehrfach zu schnellem Bevölkerungswachstum mit anschließendem Massensterben kam.
 
Eigentlich nicht sonderlich überraschend, sondern viel mehr allzu einfache Vorstellungen von der Neolithischen Revolution hinterfragend.
Und das Fazit der Untersuchung?

Insgesamt jedoch stellte die Landwirtschaft und Viehzucht einen deutlichen Überlebensvorteil dar: Trotz aller Einbrüche wuchs die europäische Bevölkerung über den gesamten Untersuchungszeitraum exponentiell an.
 
Stellt sich natürlich die spannende Frage:
Wenn die Nahrungsversorgung in dieser Phase recht instabil war,
warum hat man die neue Art der Nahrungsgewinnung dann trotzdem beibehalten ?
 
Weil die Bevölkerungsdichte schon viel zu hoch war, als dass alle noch als Jäger & Sammler hätten satt werden können.
 
Weil man diese Entscheidung nicht nach Großwetterlage trifft. Wie El Quijote sagt, ist es nicht sonderlich überraschend.

Diese Populationsschwankungen müssen sich über längere Zeiträume hinweg ereignet haben. Minderungen können ja im Zweifelsfall drastisch schnell gehen, aber das Ansteigen...

Und hier liegt der Vorteil einer auf Ackerbau und Viehzucht beruhenden Wirtschaft gegenüber einer, die auf Jagen und sammeln basiert. Zweitere ist sehr beschränkt, was die Zahl des Nachwuchses angeht, während die Landwirtschaft (inkl Sesshaftigkeit) einen sehr große potentielle Kinderzahl erlaubte, wenn genügend Nahrung produziert werden konnte.

Die sich ausbreitende Landwirtschaft traf in Europa auf eine Reihe von nachvollziehbaren Problemen:

- Welche Böden taugten für eine Bestellung? Und die Bodenqualität war gerade für die frühe Landwirtschaft entscheidend.

- Wie waren die örtlichen Wetterbedingungen, und wie änderten sich diese, je weiter man in "Agrar-Neuland" vorstieß? Ausgehend vom Balkan drang die Landwirtschaft in Gebiete weiter im Norden und Westen vor, was Anpassungen erforderte, die erst erlernt (oder gezüchtet) werden mussten, und das dauert.
 
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Und hier liegt der Vorteil einer auf Ackerbau und Viehzucht beruhenden Wirtschaft gegenüber einer, die auf Jagen und sammeln basiert. Zweitere ist sehr beschränkt, was die Zahl des Nachwuchses angeht, während die Landwirtschaft (inkl Sesshaftigkeit) einen sehr große potentielle Kinderzahl erlaubte, wenn genügend Nahrung produziert werden konnte.
...
Zudem kann eine nicht sesshafte Gesellschaft nur solche Güter hervorbringen, die sie selber durch die Gegend schleppen kann.
Das ist ein gravierender Nachteil gegenüber einer sesshaften Gesellschaft, die zudem größere soziale Gruppen hervorbringen und damit auch aus einen größeren pool schöpfen kann.

Vielleicht findet sich auch hier ein Grund, warum sich die Plackerei, die ja auch erhebliche Nachteile hatte, schließlich bewährte.
 
Möglicherweise hat es noch andere Gründe:
In einer sesshaften Ackerbaugesellschaft ist es auf Grund der Grundbesitzverhältnisse und der größeren Spezialisierung leichter, Hierarchien auszubilden. Und die Spitzen dieser religiösen,profanen und ökonomischen Hierarchien profitieren natürlich am meisten von dem geänderten Konzept.
Zum einen erlaubte dieses System leichter die Kontrolle der Untertanen und zum anderen profitierte man durch die Abgaben auch ökonomisch.
Für die Eliten bestand also in der regel kein Grund zur Rückkehr zu den alten Verhältnissen und Wirtschaftsformen..
 
Diese Populationsschwankungen müssen sich über längere Zeiträume hinweg ereignet haben. Minderungen können ja im Zweifelsfall drastisch schnell gehen, aber das Ansteigen...
Ein Beispiel für die Geschwindigkeiten aus der Neuzeit ist der Kartoffelanbau in Irland seit Beginn des 16. Jhd., bis dann 1845 die Kartoffelfäule diese Nahrungsquelle zum Versiegen brachte. Die führte zu einer Hungersnot und einer Auswanderungwelle. Die Bevölkerungsentwicklung (aus Wikipedia) : Irland.jpg
 
Im Neolithikum es nur eine bescheidene Auswahl an Kulturpflanzen. Bei einer Missernte gab es daher ein ziemlich großes Problem. Mit solchen Populationsschwankungen wie in Irland im 19. Jahrhundert ist daher zu rechnen.
Viele Alternativen gibt es nicht.
Man kann anfangen, dass Saatgut aufzuessen oder gleich mit Kannibalismus anfangen. In letzter Konsequenz hätte man da am Ende das gleiche Ergebnis.
Abwanderung wäre durchaus denkbar.
Wenn woanders mehr geerntet wurde, kann man da mal vorbeischauen, ob man etwas abbekommt, egal ob friedlich oder nicht. Wenn man abwandert, muss man auch dorthin, wo bereits erfolgreich Landwirtschaft betrieben wird. Josef und seine Brüder sind ja auch nicht in die Wüste, sondern nach Ägypten gegangen. (Man verzeihe mir die biblische Anedekdote, aber sie passt einfach zu gut.)

Ob es in der Jungsteinzeit schon echten Grundbesitz und starke Hierarchien gab, halte ich mal für dahin gestellt. (Es kommt auch darauf ein über welche Jungsteinzeit wir reden.)
 
Möglicherweise hat es noch andere Gründe:
In einer sesshaften Ackerbaugesellschaft ist es auf Grund der Grundbesitzverhältnisse und der größeren Spezialisierung leichter, Hierarchien auszubilden. Und die Spitzen dieser religiösen,profanen und ökonomischen Hierarchien profitieren natürlich am meisten von dem geänderten Konzept.
Zum einen erlaubte dieses System leichter die Kontrolle der Untertanen und zum anderen profitierte man durch die Abgaben auch ökonomisch.
Für die Eliten bestand also in der regel kein Grund zur Rückkehr zu den alten Verhältnissen und Wirtschaftsformen..

Man kann "Hierarchien" auch als Teil der "Spezialisierung" betrachten.
Begünstigt wird die hierarchische Gesellschaft durch ihre wachsende Größe.
Dadurch, dass nicht mehr jeder jedem durch persönliches Kennen verbunden ist und daher eine entsprechende übergeordnete Struktur entsteht.

(Jared Diamond unterscheidet in seinem Buch "Arm und Reich" Tabelle 13.1 vier Kategorien:
- Gruppe: Einige Duzend, nomadisch, verwandtschaftliche Beziehungsgrundlage
- Stamm: Hunderte, sesshaft ein Dorf, Verwandschafts-Clan
- Häuptlingsreich: Tausende, sesshaft ein Dorf oder mehrere, Wohnort und Gesellschaftsschicht als Beziehungsgrundlage,
- Staat: über 50.000, viele Dörfer, ...)

Eine sesshafte Ackerbaugesellschaft muss Vorräte anlegen und wird deshalb auch unvermeidlich Ziel von Vorratsräubern.
Dies erzwingt eine hohe soziale Zusammenarbeit in der Gruppe.
(Ein schönes Beispiel sind Bienen hierfür ..:D .. auch wenn jetzt ein paar nette Forumskollegen gleich..)
Andererseits ist eine solche Gesellschaft auch durch Parasitenwachstum innerhalb der eigenen Gruppe gefährdet (Hierarchien).

Wie auch immer: es hat wohl funktioniert.
Jared Diamond nennt das einen "autokatalytischen Prozess".
Ich selber würde den Begriff "Kulturevolution" bevorzugen.
 
Im Neolithikum es nur eine bescheidene Auswahl an Kulturpflanzen. Bei einer Missernte gab es daher ein ziemlich großes Problem. Mit solchen Populationsschwankungen wie in Irland im 19. Jahrhundert ist daher zu rechnen.
Viele Alternativen gibt es nicht.
Zur bescheidenen Auswahl an Kulturpflanzen kam der Mangel an geeigneten Böden und die schnell nachlassende Bodenfruchtbarkeit. Die Bandkeramiker haben sich entlang der Flussauen vermehrt. Nicht nur wegen der Wassernähe, sondern auch wegen der fruchtbaren Lößböden, die da jährlich angeschwemmt wurden.
Als die Bevölkerungszahlen wuchsen, mußten sie auch auf schlechteren Böden Ackerbau treiben, da wuchs dann schon nach 2-4 Jahren nicht mehr viel. Frucht- und Felderwechsel ist mühsam und mit hohem Risiko verbunden. Die Felder mußten vor Wildtieren, Schädlingen und Pflanzenkrankheiten geschützt werden. Das gelang nicht immer.
Trotzdem war die Entscheidung Ackerbau zu treiben, idR unumkehrbar, denn sie brauchten die zwar manchmal spärliche, zusätzliche Nahrung von Feldern und Haustieren, weil Jagen und Sammeln für die gestiegene Bevölkerungszahl nicht mehr ausreichte.
Es mag aber auch Gebiete gegeben haben, wo die Bedingungen so ungünstig waren, dass die Bevölkerungszahl nach Dezimierung wieder zu einem Gleichgewicht zurückgezwungen wurde, das Jagen und Sammeln wieder auskömmlich war.
Ich denke manchmal, die San z.B. könnten so ein Fall sein. Oder manche Gruppen im vorkolumbischen, nördlichen Amerika.
 
Du denkst wahrscheinlich an die Anazazi, aber die gingen ,soweit man weiß ,gerade nicht mehr auf die Wildbeuterstufe über sondern blieben,falls man Zuni und Pueblo als ihre Abkömmlinge betrachtet, weiterhin beim Ackerbau.

Man kann "Hierarchien" auch als Teil der "Spezialisierung" betrachten.
Ich wüde sie eher als Ausfluss einer größeren sozialen Differenzierung sehen und die war erst in der Feldbauphase möglich,alldieweil Feldbau setzt nun mal ein gewisses Eigentum an Land,Produktionsmitteln und Hilfskräften voraus. Und damit war die soziale Differenzierung und Hierarchiebildung schon vorgegeben- in der Wildbeutergesellschaft haben wir das nicht oder nur in sehr abgeschwächter Form.
Im Umkehrschluss bedeutet daß aber für jemanden,der den erlangten Status in der Hierarchie erhalten will ,weil er davon profitiert,daß auch die Feldbaugesellschaft erhalten werden muß, die diese soziale Differenzierung garantiert.
War also der Übergang von der wildbeuter- zur Agrargesellschaft erst mal eingeleitet, gab es unabhängig von der ökonomischen Situation irgendwann einen point of no return ab dem die Sache unumkehrbar wurde.
 
Du denkst wahrscheinlich an die Anazazi, aber die gingen ,soweit man weiß ,gerade nicht mehr auf die Wildbeuterstufe über sondern blieben,falls man Zuni und Pueblo als ihre Abkömmlinge betrachtet, weiterhin beim Ackerbau.

Diese Rückkehr zur Wildbeutergesellschaft meine ich irgendwo aus Ingeborgs Beiträgen herausgelesen zu haben. Es gab in verschiedenen Regionen eine örtliche und zeitliche Spezialisierung auf Ackerbau und zusätzliches Jagen und Sammeln. Ein Teil des Clans blieb bei den Feldern und andere zogen auf die Jagd oder betrieben Fischfang. Diese Co-Phase kann in einigen Weltgegenden relativ lang gewesen sein und erlaubte bei sich verschlechternden Bedingungen für Ackerbau eine relativ schnelle Rückkehr zum Wildbeutertum.
In Europa ist das mW nicht vorgekommen, denn hier war Landwirtschaft mit Viehhaltung verbunden. D.h man wechselte eher zu einer mobileren Hirtennomadenwirtschaftsweise, wenn die Feldfruchterträge zurückgingen, was dann auch mit einem Bevölkerungsrückgang verbunden sein konnte.
Dafür gibt es einige Belege. Über die Bedingungen der frühen Landwirtschaft in Mitteleuropa hat Jens Lüning geforscht.


Ich wüde sie eher als Ausfluss einer größeren sozialen Differenzierung sehen und die war erst in der Feldbauphase möglich,alldieweil Feldbau setzt nun mal ein gewisses Eigentum an Land,Produktionsmitteln und Hilfskräften voraus. Und damit war die soziale Differenzierung und Hierarchiebildung schon vorgegeben- in der Wildbeutergesellschaft haben wir das nicht oder nur in sehr abgeschwächter Form.
Im Umkehrschluss bedeutet daß aber für jemanden,der den erlangten Status in der Hierarchie erhalten will ,weil er davon profitiert,daß auch die Feldbaugesellschaft erhalten werden muß, die diese soziale Differenzierung garantiert.
War also der Übergang von der wildbeuter- zur Agrargesellschaft erst mal eingeleitet, gab es unabhängig von der ökonomischen Situation irgendwann einen point of no return ab dem die Sache unumkehrbar wurde.
Mmh, ich bin unsicher, ob Feldbau allein zwingend ist für soziale Differenzierung. Bisher habe ich mehr die Wasserverteilung als den Auslöser dazu gesehen. Wenn Wasser der begrenzende Faktor für Ackerbau ist, braucht es Organisation, Regeln und Hierarchien. Deshalb haben wir die ersten differenzierten Gesellschaften in Gebieten wie Nahost.
Es ist natürlich die Frage, was du unter Diffenzierung verstehst. Die von hatl zitierten ersten 3 Punkte oder Punkt 4?

(Jared Diamond unterscheidet in seinem Buch "Arm und Reich" Tabelle 13.1 vier Kategorien:
- Gruppe: Einige Duzend, nomadisch, verwandtschaftliche Beziehungsgrundlage
- Stamm: Hunderte, sesshaft ein Dorf, Verwandschafts-Clan
- Häuptlingsreich: Tausende, sesshaft ein Dorf oder mehrere, Wohnort und Gesellschaftsschicht als Beziehungsgrundlage,
- Staat: über 50.000, viele Dörfer, ...)

Eine sesshafte Ackerbaugesellschaft muss Vorräte anlegen und wird deshalb auch unvermeidlich Ziel von Vorratsräubern.
Dies erzwingt eine hohe soziale Zusammenarbeit in der Gruppe.
(Ein schönes Beispiel sind Bienen hierfür ..:D .. auch wenn jetzt ein paar nette Forumskollegen gleich..)
Andererseits ist eine solche Gesellschaft auch durch Parasitenwachstum innerhalb der eigenen Gruppe gefährdet (Hierarchien).

Wie auch immer: es hat wohl funktioniert.
Jared Diamond nennt das einen "autokatalytischen Prozess".
Ich selber würde den Begriff "Kulturevolution" bevorzugen.
 
Möglicherweise hat es noch andere Gründe:
In einer sesshaften Ackerbaugesellschaft ist es auf Grund der Grundbesitzverhältnisse und der größeren Spezialisierung leichter, Hierarchien auszubilden. Und die Spitzen dieser religiösen,profanen und ökonomischen Hierarchien profitieren natürlich am meisten von dem geänderten Konzept.

Die Forschung ist sich aber ziemlich einig, dass es in der Jungsteinzeit noch keine Hierarchien gab, sondern eine relativ ungegliederte Gesellschaft. Es konsolidierten sich Familienverbände als Wirtschaftsgemeinschaften, die in dörflichen Siedlungen daueransässige Wohngemeinschaften bildeten. Postuliert wird ein Gemeineigentum am Grund und Boden sowie ein gesellschaftlicher Charakter der Arbeit. Es gab sicher einen Dorfvorsteher (oder Vorsteherin?), aber weder eine Priester- noch eine Kriegerkaste. Das entspricht der archäologischen Fundlage.

Zu einer wirklich hierarchisch gegliederten Gesellschaft kam es erst in der Bronzezeit, wo auch feudale Kriegeraristokratien archäologisch fassbar werden.
 
Danke Klaus, für die Grafik, die das Phänomen der Bevölkerungsentwicklung im Verhältnis zur Nahrungsgrundlage gut bebildernd!

(Jared Diamond unterscheidet in seinem Buch "Arm und Reich" Tabelle 13.1 vier Kategorien:
- Gruppe: Einige Duzend, nomadisch, verwandtschaftliche Beziehungsgrundlage
- Stamm: Hunderte, sesshaft ein Dorf, Verwandschafts-Clan
- Häuptlingsreich: Tausende, sesshaft ein Dorf oder mehrere, Wohnort und Gesellschaftsschicht als Beziehungsgrundlage,
- Staat: über 50.000, viele Dörfer, ...)

Jared Diamond legt sich so genau auf eine Definiton dieser vier Stufen nicht fest. Er betrachtet das doch eher funktional:
- Gruppe: "wenige Dutzend Personen, von denen viele zu einer oder wenigen Großfamilien gehören, ... hat so wenige Mitglieder, dass alle einander gut kennen; Gruppenentscheidungen können durch persönliche Gespräche getroffen werden, und es gibt weder eine formelle politische Führung noch eine starke wirtschaftliche Spezialisierung."
- Stamm: "Stämme ... bestehen aus mehreren hundert Individuen ... (von denen) jeder jeden anderen persönlich kennt ... (wobei) Fremde nicht existieren. ... Mehrere Dutzend Familien; diese gliedern sich häufig in Verwandtschaftsgruppen oder Clans, ..." Hier konstatiert Diamond idR die Notwendigkeit effizienteren Wirtschaftens (Gartenbau, Viehzucht), um die Menge an Menschen ernähren zu können. Hier gibt es noch keine etablierten politischen Strukturen, allenfalls Einzelpersönlichkeiten mit natürlicher Autorität. Entscheidungen werden noch weitgehend egalitär getroffen.
- Häuptlingstum: "Häutplingstum oder Stammesfürstentum mit Tausenden oder Zehntausenden von Untertanen. ... (Es werden) Spezialisten, die selbst keine Nahrungsmittel produzieren, darunter auch die Häuptlinge sowie ihre Verwandten und Bürokraten, ernährt ... (Hier) ist es unmöglich, dass jeder jeden kennt. ... Fremde in einem Häuptlingstum (müssen) die Möglichkeit haben, einander zu treffen, sich gegenseitig als Mitglieder desselben Häuptlingstums zu erkennen ... . (Deshalb) entwickeln Häuptlingstümer eine gemeinsame Ideologie sowie eine politische und religiöse Identität ... . Es gibt den Häuptling (friedenstiftende Autorität), ... unterstützt ... durch nichtspezialisierte Allzweck-Vertreter ..., die Tribut eintreiben, Meinungsverschiedenheiten schlichten und andere administrative Aufgaben erfüllen; im Gegensatz zu einem Staat gibt es noch keine getrennte Finanzbeamten, Richter und Gewerbeaufseher ..."

Quelle: Jared Diamond, "Vermächtnis" - deutsche Übersetzung von "The World Until Yesterday. What can we learn form traditional societies?", S. 26 ff.

Jared Diamond nennt das einen "autokatalytischen Prozess".
Ich selber würde den Begriff "Kulturevolution" bevorzugen.

"Autokatalytisch" heißt schlicht selbstbefruchtend, also etwas das ohne Eingreifen von außen auskommt.

"Kulturrevolution" enthält das Wort Revolution und dabei geht es um einen von außen massiv befeuerten Prozess. Eine Revolution hat Urheber mit Zielsetzungen und Tatendrang. Das Wort "Kulturrevolution" im Speziellen ist zudem fest mit einem Abschnitt der jüngern volkschinesischen Geschichte verbunden, wo es eigentlich um eine Kulturdiktatur ging. Das Wort "Revolution" war in diesem Zusammenhang ein demagogischer Euphemismus. Hier kam ja nicht die Initiative vom Volk sondern von der Diktatur.

Die Prozesse von denen Jared Diamond schreibt sind aber selbstbefruchtend und weder von Diktatoren noch von Revolutionären getrieben. Sie sind eher evolutionär.
 
Abwanderung wäre durchaus denkbar.

Für Europa geht man ohnehin von Wanderbauern aus, die ihre Siedlung verließen, wenn der Boden erschöpft war. Das passierte nach etwa 15-20 Jahren, wenn der Boden nach Brandrodung nichts mehr hergab. In etwa 5-10 km Entfernung erfolgte dann die Neuansiedlung.

So ist es auch erklärlich, dass sich der Ackerbau kontinuierlich vom Balkan allmählich bis nach Mitteleuropa ausbreitete. Inwieweit auch eine Kulturtrift an dieser Ausbreitung beteiligt war, ist umstritten. Aber sicher hat es die auch gegeben.
 
Für Europa geht man ohnehin von Wanderbauern aus, die ihre Siedlung verließen, wenn der Boden erschöpft war. Das passierte nach etwa 15-20 Jahren, wenn der Boden nach Brandrodung nichts mehr hergab. In etwa 5-10 km Entfernung erfolgte dann die Neuansiedlung.

So ist es auch erklärlich, dass sich der Ackerbau kontinuierlich vom Balkan allmählich bis nach Mitteleuropa ausbreitete. Inwieweit auch eine Kulturtrift an dieser Ausbreitung beteiligt war, ist umstritten. Aber sicher hat es die auch gegeben.

Ich greife das nur beispielsweise heraus, und habe auch den Artikel oben nicht eingesehen.

Die Frage ist, auf welchen gesicherten Erkenntnissen die Bevölkerungsabschätzungen und Hinweise auf Wanderungsbewegungen, (Gesamtaussagen zu) Bodenerosionen, Überschichtungen etc. überhaupt beruhen und was davon einerseits Vermutung, was andererseits als erwiesen anzusehen ist.

Es gibt aktuelle umfangreiche Detailstudien, so zB die jüngst erwähnte zur mitteleuropäischen Lößregion 5000 bis 1000 v.Chr. Die äußern sich allerdings höchst vorsichtig und nur tendenziell, regional begrenzt und vage in den verschiedenen Zeiträumen; dabei offen lassend, auf welchen Faktoren solche Wanderungsbewegungen beruhten, ob sie generalisierbar sind (so zB zum Niederhein) etc. Bevölkerungsaussagen werden nur fundstellenbezogen getroffen, und als begrenzte Interpretation von Fundlagen (so etwa zum Umfang von Siedlungen).

Mir scheint da recht viel Spekulation mitzuschwingen.
 
Mir scheint da recht viel Spekulation mitzuschwingen.

Wir haben diese Diskussion bereits geführt. Unzweifelhaft migrierten im 6. Jahrtausend v. Chr. frühe Ackerbauern von Anatolien auf den Balkan. Von dort breitete sich der Ackerbau langsam bis Mittel- und Nordeuropa aus. Bis heute wird diskutiert, ob das mit Wanderbewegungen der Bauern verbunden ist oder lediglich auf einer Kulturtrift beruht, d.h. nur die Kenntnis des Ackerbaus an eine mesolithische Bevölkerung weitergegeben wurde.

Bei dieser Streitfrage nehmen viele eine vermittelnde Position ein und vermuten eine Verbreitung des Ackerbaus auf beiden Wegen. Genanalysen zufolge will man Gene der anatolischen Bauern bis nach Zentraleuropa gefunden haben (wurde bereits in einem anderen Thread ausführlich diskutiert). Inwieweit man darauf vertrauen kann und das seriös ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
 
Zuletzt bearbeitet:
Da hast Du mich missverstanden.

Mir ging es nicht um Migrationsthesen aus Anatolien oder genetische Nachweise, sondern um quantitative Angaben zu Bevölkerungsschwankungen, Gesamtaussagen zu damit verbundener Bodenerosion bzw. feststellbaren Erträgen sowie feststellbare Wechsel zwischen Ackerbau- und die von rena zitierte Wildbeutergesellschaft, und das für die angesprochenen Zeiträume zu bestimmten europäischen Regionen, nicht "Europa".

Hierdurch ließe sich die Themen Bevölkerung, Nutzung, Erosion, Kulturwechsel, etc. auf bestimmte Regionen herunterbrechen, für die Untersuchungen vorliegen, um solche Thesen zu prüfen. Wäre das nicht machbar, würde ich mich Gesamtaussagen nur sehr vorsichtig nähern. Also zum Thema gewissermaßen: etwas konkreter als Wikipedia.
 
Dazu kann ich leider wenig sagen. Ich weiß lediglich, dass vielfach von Wanderbauern ausgegangen wird, die Brandrodung betrieben, den Boden bis zu seiner Erschöpfung bebauten und dann an anderer Stelle eine neue Siedlung errichteten. Dazu gibt es auch archäologische Beweise, aber ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe.

Der erschöpfte Boden - eine angesichts der minimalen Bevölkerungsdichte sicher sehr kleine Fläche - erholte sich vermutlich rasch und war wenige Jahre später erneut von Pflanzen überwuchert.
 
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