Bismarcks Abdankung und die Rolle der Berichte des Konsuls zu Kiew

chrdidt

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Ich habe da ein Frage zu dem Hintergrund von Bismarcks Rücktrittsersuchen im März 1890.
Bismarck begründet seinen Schritt offiziell mit uneinheitlichen Auffassungen bezüglich der fortzuführenden Außenpolitik.
Wilhelm II. warf hingegen Bismarck eine unzureichende Berichterstattung auf selbigen Feld vor und zwar soll Bismarck Berichte des deutschen Konsuls in Kiew nicht an Wilhelm II. weitergeleitet haben.
Meine Frage bezieht sich auf diese Berichte, was war deren Inhalt?
Bitte nur diese Frage behandeln, andere auch innenpolitische Gründe aussenvor lassen, danke:winke:
 
Insgesamt sind ganze 14 Berichte des Konsuls auf einmal aus Kiew eingetroffen. Sie enthielten Angaben über russische Truppenaufstellungen an der Westgrenze, die vorschnell zu falschen Rückschlüssen (Waldersee) über die russischen Absichten führen konnten. Schon aus diesem Grunde beeilte sich Bismarck nicht sonderlich diese Wilhelm II. zur Kenntnis zu bringen. Bismarck wählte die Berichte aus, für deren Eindruck auf Wilhelm II. er die Verantwortung glaubte tragen zu können. Deshalb übersandte er sechs der vierzehn Berichte, deren Gegenstand militärische Fragen waren, an den Kriegsminister zur Weiterleitung an dem Generalstab. Dessen Sache war es dann, sie je nach Wichtigkeit an das Militärkabinett will heissen Wilhelm II. zu übergeben.
Vier der Berichte aber, teils militärischen, teils politischen Inhalts, ließ Bismarck dem Kaiser unmittelbar zugehen, während die verbliebenen vier dem zuständigen Rat im Auswärtigen Amt übergeben worden waren.

Wilhelm II. hatte von Waldersee über die Existenz der 14 Berichte erfahren und war erbost. Waldersee Motive waren durchsichtig, denn er wollte am liebsten einen Krieg gegen Russland führen. Bismarck stand ihm dabei im Wege. Wilhem warf Bismarck vor, er würde ihm absichtlich die wichtigsten Dinge verschweigen. Auch der Großherzog von Baden hatten schon vorher am Aste Bismarcks gesägt und auf dessen angebliche gefährliche und zweideutige Politik hingewiesen.
 
Große Politik, Band 6, S. 362 f., Anmerkung zu Dokument Nr. 1360 (Der Konsul in Kiew Raffauf an den Reichskanzler Fürsten von Bismarck. 3. März 1878)

[...]
Die Sendung aus Kiew, die 20 Berichte enthielt, war von Konsul Raffauf mit Begleitschreiben vom 9. März durch den Kanzlerdragoman Rößler von Kiew nach Warschau expediert worden. Von Warschau aus wurden sie vom deutschen Generalkonsul Freiherrn von Rechenberg mit Begleitschreiben vom 12. März in sechs Briefpaketen durch einen Konsulatssekretär nach Thorn geschickt und dort mit der Post „eingeschrieben" an das Auswärtige Amt aufgegeben. Im Auswärtigen Amt ist die Sendung laut Journal und Eingangsvermerk am 15. März eingegangen und dem Staatssekretär Grafen Herbert von Bismarck vorgelegt worden. Am 16. März lag sie dem Fürsten Bismarck vor, der fünf Berichte militärischen Inhalts für den Kaiser auswählte und mit dem Vermerk „S. M." versah. Noch am gleichen Tage, dem 16. März, ließ der Staatssekretär diese ausgewählten Berichte dem Kaiser unterbreiten, der sie am 17. März mit Handbillett (Nr. 1361) an den Fürsten Bismarck zurücksandte. [...]

Die fünf dem Kaiser übersandten Berichte, die am 17. März zurückkamen, sind auf Marginalanordnung
des Kaisers vom Reichskanzler dann am 25./26. März an den Generalstab übersandt worden;
[...]

Die übrigen 15 Stücke der Kiewer Sendung (ein Begleitschreiben und 14 Berichte) sind nach Empfang des kaiserlichen Handbilletts von Bismarck sämtlich dem Kaiser vorgelegt worden, der sie am 24. März zurücksandte. Sie betreffen, wie Bismarck in seinem Immediatbericht vom 17. März (Nr. 1362) schreibt, nur „Zustände religiöser und sozialer Natur".

Die 5 Berichte militärischen Inhaltes für KWII. wurden schließlich an den Generalstab weitergeleitet.
KWII. hatte im Handbillett vom 17. März an Bismarck weniger reklamiert, dass Bismarck ihm die anderen Berichte der Sendung vorenthalten habe, schätze ich, diese hatten nichtmilitärische Inhalte.
 
Große Politik, Band 6, S. 362 f., Anmerkung zu Dokument Nr. 1360 (Der Konsul in Kiew Raffauf an den Reichskanzler Fürsten von Bismarck. 3. März 1878)

Du meinst sicherlich den 03.März 1890.

Bei Wilhelm Schüssler, "Bismarcks Sturz" finde ich auf Seite 203 die Angabe von 14 Berichten. Beide Bände sind 1922 erschienen.
 
Ja, natürlich 1890.
Die Darstellung bei Schüssler trifft nicht zu...siehe entsprechende Anm. GP 6, S. 362.

Die Darstellung, die Wilhelm Schüßler, Bismarcks Sturz (1922), S. 201 ff. von den Vorgängen gibt, greift, obwohl sie sich bereits auf Bismarcks Darstellung stützt, durchgehends fehl. [...] Der tatsächliche Verlauf nach den Akten, der diese Legende völlig zerstört, ist der folgende: [...]​

Sowohl Bismarcks Gedanken und Erinnerungen wie allgemein die Bismarck-Lit. der 1920er Jahre können bekanntlich teils als legendarisch eingestuft werden. Daher ist der (vergleichende) Rückgriff auf neue/neuere Standart-Lit. zu Bismarck wie Engelbergs 2 Bände oder auch die Nach-Kontrolle via GP sinnvoll und ein nützliches Standart-Vorgehen für substanziellere Dis./Beiträge, meine ich.
 
Die Darstellung bei Schüssler trifft nicht zu...siehe entsprechende Anm. GP 6, S. 362.

Nun, "nur" weil die GP etwas anderes mitteilt, bedeutet dies nicht sofort im Umkehrschluss, das die Ausführung eines anderen Historikers automatisch falsch sind. Die Aktenedition, auch die kann fehlerhaft sein, so wie das Werk von Schüssler sind beide 1922 erschienen. Schüssler war ja auch einer der Mitherausgeber der alten Friedrichsruher Ausgabe.

Daher ist der (vergleichende) Rückgriff auf neue/neuere Standart-Lit. zu Bismarck wie Engelbergs 2 Bände oder auch die Nach-Kontrolle via GP sinnvoll und ein nützliches Standart-Vorgehen für substanziellere Dis./Beiträge, meine ich.

Diese Art von Belehrung kannst du dir getrost schenken.
 
Schüssler ist einigermassen objektiv widerlegt worden, siehe GP 6, S. 362, Anm. unten mit den empirischen Nachweisen, glaube ich... Entsprechend hat Schüsslers Narrativ beispielsweise so nicht Eingang bei Engelberg, Canis oder auch Rainer Schmidt gefunden.

Außerdem stützt Bismarcks eigene Schilderung selber so nur bedingt oder kaum das Schüsslersche Narrativ, scheint mir.

Man könnte natürlich auch mal Bismarcks Status als Säulenheiliger der dt. Geschichte für die Herausgeber & Editoren der GP referieren...das führt an manchen Stellen der Edition der GP zu amüsanten Ergebnissen...hat die Editoren jedoch durchweg nicht davon abgehalten, soweit ich sehe, Dok. und Berichte usw. zu edieren, die von bismarschen Schilderungen/Überlieferungen abweichen oder ihnen gar widersprechen.
 
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Die Aktenedition so wie das Werk von Schüssler sind beide 1922 erschienen.

Schüssler, Bismarcks Sturz, ist in erster Auflage 1921 erschienen...daher v o r GP 6...wie sonst hätten die GP-Editoren auf Schüsslers Narrativ reagieren können?

Nun wird die Situation etwas klarer. Der Kiewer Konsul hatte diese Berichte zunächst über Wochen gesammelt & dann zusammen expediert.
Der älteteste war anscheinend schon drei Monate alt...KWII. machte sachwidrig und provokativ Bismarck dafür verantwortlich.

So passen nun auch jene Handbillett-Zeilen von KWII.
 
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Arthur von Brauer, Mitarbeiter Bismarcks im Auswärtigen Amt, berichtet in seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1936, das der Konsul von Kiew vierzehn (nach anderen: zwanzig) Berichte über militärische Rüstungen etc.etc. durch sichere Gelegenheit eingesandt hat.

Brauer: Im Dienste Bismarcks, Berlin 1936, S.311
 
In meiner Ausgabe steht 1922.
3. Auflage.


Schüssler, Bismarcks Sturz, Rezension von Maximilian von Hagen, in Zeitschrift für Politik, Vol. 18 (1929), pp. 472-484, hier S. 480, notiert u.a. zu Schüsslers Bismarcks Sturz:

[...] Hat Schüßler auch nach streng wissenschaftlicher, nur durch einen störend prätenziösen Stil etwas beeinträchtigter Methode sein Thema objektiv zu erfassen und darzulegen versucht, so konnte auch er diesem vorherrschenden Zeitgeist nicht ganz entgehen. Besonders darum, weil es ihn nicht reizte, das Problem wissenschaftlich zu untersuchen, sondern weil er die Ergebnisse seiner Forschungen künstlerisch, in einer dem Zeitgeschmack freilich recht entgegenkommenden Form, zur Darstellung zu bringen wünschte. Dabei erlag er der Versuchung, mit dem allzu scharf betonten und dem „objektiven" Bismarckbilde nur wenig entsprechenden Vergleich zu Schillers „Wallenstein" zu arbeiten, womit er auf die Dauer wohl nirgends überzeugend wirkte - mag Bismarck nach seinem Sturze auch in dem Bewußtsein mancher Parellelen zu seinem Schicksal gerade zur Lektüre dieses Werkes unserer klassischen Liter gern gegriffen haben.
Schildert Schüßler den Ablauf der Krise, als ob die von ihm gewonnene Auffassung bereits gesicherter Besitz der Wissenschaft sei, so hat die Untersuchung Paul Haakes die Probleme der Krise und des Sturzes auf Grund der damals verfügbaren Quellen sehr sorgfältig beschrieben.


Paul Haake, Bismarcks Sturz (1922), scheint wissenschaftler-zutreffender und nüchterner zu sein, auch in der google-Vorschau (20 Berichte). Schüssler bietet dagegen für seine romanhafte Ausgestaltung S. 203 keine substanziellen Belege, meine ich.
 
In der NFA, Band 8, Dokument 552, ist ein Dokument über „Vertrauliche Äußerungen über die Rücktrittsmotive“ abgedruckt. Dort führt Bismarck am 18.März 1890 u.a. das Folgende aus:

„[…] Nun hat der deutsche Consul in Kiew 14 eingehende Berichte, zusammen wohl 200 Seiten stark, über russische Zustände, darunter manche über militärische Maßnahmen, eingesandt, von welchem ich einige (fünf - Anmerkung von mir) , politischer Natur, Sr.M. eingereicht, andere, militärische, den Generalstab der Armee in der Annahme, daß dieser an allerhöchste Stelle zum Vortrag bringen werde, falls sie dazu geeignet wären, übersandt, die übrigen, um sie mir vortragen zu lassen, dem Geschäftsgange zurückgegeben habe.[…]“

 
Paul Haake, Bismarcks Sturz, notiert S. 41 f. u.a.:

[...]
War das auch ganz die Meinung des Kaisers? Er hat doch den Rückversicherungsvertrag nicht erneuert, und in welche Aufregung versetzten ihn die "Kiewer Depeschen"!
Am 15. März waren 20 Berichte des deutschen Konsuls Raffauf aus Kiew in der Weihelmstraße eingetroffen; am folgenden Tage hatte Bismarck fünf davon militärischen Inhalts ausgewählt und noch am 16 März dem Kaiser zugehen lassen. Julius v. Eckardis Behauptung, die Wilhelm Schüßler übernommen hat, Bismarck habe dem Kaiser die wichtigsten Nachrichten vorenthalten wollen, dann aber, von guten Freunden gewarnt, ein paar belanglose Stücke doch noch rechtzeitig ins Schloß geschickt, ist nach der Publikation des Auswärtigen Amtes eine Legende.

[...] [Hervorhebung von mir]
Das Handbillett, mit dem er die Berichte am Morgen des 17. März dem Kanzler zurückschickte, ist bekannt; auch hierin sprach Wilhelm II. von einer furchtbar drohenden Gefahr. Bismarck machte er es zum Vorwurf, daß er ihm so wenige von den Kiewer Berichten zugesandt habe. Umgehend antwortete der Fürst (A.A. Nr. 1362 [ GP 6, Nr. 1362, Anm. von mir]): Berichte militärischen Inhalts aus Kiew,, die S. M. oder der Chef des Generalstabes nicht erhalten hätten, seien nicht vorhanden, die ganze letzte Sendung des Konsuls lege er hiermit vor; sie behandle nicht militärische Dinge; [...]​
 
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Es ging und geht nicht um 14 oder 20 Berichte...es ging um die von Dir gepostete, seit 1922 widerlegte Behauptung entlang Schüssler,
Bismarck wählte die Berichte aus, für deren Eindruck auf Wilhelm II. er die Verantwortung glaubte tragen zu können. Deshalb übersandte er sechs der vierzehn Berichte, deren Gegenstand militärische Fragen waren, an den Kriegsminister zur Weiterleitung an dem Generalstab. Dessen Sache war es dann, sie je nach Wichtigkeit an das Militärkabinett will heissen Wilhelm II. zu übergeben.
Vier der Berichte aber, teils militärischen, teils politischen Inhalts, ließ Bismarck dem Kaiser unmittelbar zugehen, während die verbliebenen vier dem zuständigen Rat im Auswärtigen Amt übergeben worden waren.

Wilhelm II. hatte von Waldersee über die Existenz der 14 Berichte erfahren und war erbost. Waldersee Motive waren durchsichtig, denn er wollte am liebsten einen Krieg gegen Russland führen.

Nachgewiesen sind ansonsten 20 Berichte, 5 militärischen Inhaltes lässt Bismarck an KWII. weiterleiten, die restlichen 15 sind tatsächlich 14 nicht militärische Berichte und ein Begleitschreiben.

So schrieb Bismarck am 17.3.1890 an KWII. u.a. (GP 6, S. 364)

Der Reichskanzler Fürst von Bismarck an Kaiser Wilhelm II.
Ausfertigung

Berlin, den 17. März 1890

Euere Majestät haben mir heute fünf Berichte des Konsuls in Kiew
mittelst Allerhöchsten Handbilletts wieder zugefertigt, in welchem Euere
Majestät an erster Stelle auszusprechen geruhen, wie „diese Berichte
aufs klarste erkennen ließen, daß die Russen in vollstem strategischem
Aufmarsch seien, um zum Kriege zu schreiten
".

Hervorhebung von mir.

Damit ist belegt, dass Bismarck am 16./17. März 5 Bericht militärischen Inhaltes KWII. hatte zukommen lassen.
 
Wenn es tatsächlich 20 Berichte sind, dann würde ich in der NFA eine entsprechende Fußnote erwartet haben; die ist aber nicht vorhanden.
Andrea Hopp war die alleinige Bearbeiterin von Bd. 8, da können schon mal Auslassungen/Fehler vorkommen, wenn denn die Korrektur der Angabe überhaupt als Notwendigkeit gesehen wurde bzw. erkannt worden war.
Zumal Bismarck nach dem wohl vorsätzlich provokanten wie sachlich falschen Handbilletts KWII.s an Bismarck unmittelbar nun auch jene 14 Berichte nicht militärischen Inhaltes an KWII. weiter geleitet hatte.
 
Schüsslers Werk, "Bismarcks Sturz", für das Haake keine guten Worte findet, wurde aber trotzdem von namhaften Historikern wie beispielsweise John Röhl für seine herausragende und monumentale Wilhelm II. Biographie herangezogen. Auch ein Lothar Gall nutzte Schüssler für seine Bismarck Biographie und ebenso Michael Schmid für sein Werk " Der Eiserne Kanzler und die Generale".
 
Oh, die 1 Stunde zum Bearbeiten ist um. Dabei wollte ich noch ergänzend hinzufügen, das der Schüssler in den unter #17 genannten Werken zumindest in Quell- bzw. Literaturverzeichnis gelistet ist.
 
Schüsslers Werk, "Bismarcks Sturz", für das Haake keine guten Worte findet,
Ersteres haben weder Haake noch ich generell so explizit behauptet, es ging um S. 203 bei Schüsslers Sturz Bismarcks...
Entsprechend hat Schüsslers Narrativ beispielsweise so nicht Eingang bei Engelberg, Canis oder auch Rainer Schmidt gefunden.


wurde aber trotzdem von namhaften Historikern wie beispielsweise John Röhl für seine herausragende und monumentale Wilhelm II. Biographie herangezogen. Auch ein Lothar Gall nutzte Schüssler für seine Bismarck Biographie und ebenso Michael Schmid für sein Werk " Der Eiserne Kanzler und die Generale".
Letzteres hatte ich nicht bestritten...nur folgt beispielsweise keiner der relevanten Bismarckbios Schüsslers etwas romanhafter Ausgestaltung S. 203, an der sich dein Beitrag oben, # 2, anlehnt.

Und nebenbei: Röhls KWII.-Bände, da sind wir uns vielleicht sogar fast einig, sind m.E. eher weniger herausragend als projektiv fixiert ;)...
 
Es besteht kein Grund zur Aufregung.


Du bist gar nicht in meinen beiden Beiträgen #17 und 18 angesprochen und auch nicht gemeint.

Gemeint ist von Hagen, nicht Haake, da hat sich bei mir der Fehlerteufel eingeschlichen :confused:, den du in # 11 zitiert hast.
 
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