Nun habe ich eine Weile überlegt, ob man auf einen solchen Beitrag überhaupt anworten soll. Zwei von @vonLewinski aufgegriffene Legenden scheinen mir aber ganz interessant. Beide wurden besonders in den 1920er von der deutschen Kriegsschuldliteratur (siehe unten) "gepflegt" und wurden von einiger populärwissenschaftlichen Literatur in neuerer Zeit wieder aufgewärmt:
Das sind keine Klischees, diese Dinge sind alle belegbar.... Doch ist er. ..
Anhand von Exportzahlen, anhand von britischen und deutschen Medien.
Ein Beweis dafür, das britische Handelsmarkengesetz, das uns das "Made in Germany" gebracht hat.
Damals ein Mittel um Deutsche Ware zu boykottieren.
Wer keine Konkurrenz zwischen britischer und deutscher Wirtschaft erkennen will, der ist ein Blender und Verblendeter.
Nach dem Stolz der Engländer war dies bestimmt ihr zweiter Kriegsgrund.
Das ist propagandistischer Unsinn ohne Beleg durch eine
politische Wirkungsstudie für diesen britischen Protektionismus, der im fraglichen Zeitraum offensichtlich der schwächste in Europa. Aber wie heißt es treffend: die Halbwahrheit ist ein schlimmerer Feind der Wahrheit als die Lüge.
Erstens: Es gibt selbstredend britischen Protektionismus und in bestimmten Bereichen einen deutsch-britischen ökonomischen Gegensatz (ebenso übrigens wie eine
beidseitige Abhängigkeit!).
Es gibt aber
keine relevante Querverbindung zwischen Protektionismus und deutsch-brit. politischen Gegensätzen 1871-1913, nicht einmal in den afrikanischen Konflikten, wo man dieses am ehesten vermuten könnte (lediglich in der Spätphase bei der Eskalation im Mittleren Osten, da war das Kind allerdings schon im Brunnen, im Übrigen wurde exakt hier die
russische Bedrohung weit höher eingeschätzt). Bestimmte Literatur weicht deshalb fälschlicherweise und offenbar gerne auf britische Presse, Wahlkampf, Stammtisch etc. aus, zitiert diese und stellt sie als tragende Säule der britischen Politik dar. Die britische Außenpolitik kann abseits kolonialer Rohstoffinteressen in der Frage von Handelsbilanzen sogar als a-ökonomisch bezeichnet werden. Wenn man sich überhaupt auf dieses Glatteis begeben will: die ökonomisch größere Bedrohung - als vom Deutschen Reich - kann den USA und Rußland (-> Persien, Indien, China) zugewiesen werden.
Zweitens: Empfehlenswert ist mal, die oben zum Ausdruck kommende eingeschränkte Sichtweise zu öffnen, es gibt da so viel Interessantes, zB die britische Bewunderung für deutsche Wirtschaftserfolge, die politische Debatte um das Kopieren der Grundlagen der deutschen Volkswirtschaft, etc.:
Hollenberg: Englisches Interesse am Kaiserreich: die Attraktivität Preussen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Grossbritannien 1860-1914
Studien für deutsch-britische Beziehungen unterhalb der großen Politik - Verbände, Wirtschaft etc. - kann ich gerne bei Bedarf empfehlen, falls Dich das Thema wirklich interessiert.
Deine "Exportzahlen" würde ich gerne kommentieren. Gibst Du dazu mal einen Überblick im fraglichen Zeitraum, mit einer Wertung der Probleme für die britische Wirtschaft?
Es gibt Berichte über französische Schulen, an denen systematisch den Kindern eingetrichtert wurde, Deutschland sei der Feind und man müsse Rache nehmen, oder französische Schriftsteller, die die Heimkehr Elass Lothringens als falsch verurteilen und eine Revanche als notwendiges Mittel ansehen.
Frankreich hatte schon längst vor 1911 Rachegedanken.
ElQ hat schon treffend auf entsprechende deutsche antifranzösische "Tendenzen" in der öffentlichen Meinung hingewiesen, es gibt hier keine großen Unterschiede. Bzgl. der französischen Rüstung - und ihres
reaktiven Charakter, da das Land weder industriell noch von der Mannschaftskapazität dem Deutschen Reich nach 1871 annähernd gewachsen war - ist das hier interessant:
Krumeich, Gerd: Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg
Saatmann, Inge: Parlament, Rüstung und Armee in Frankreich 1914/18 (auch zur Vorgeschichte) sowie
Förster, Stig: Der doppelte Militarismus - die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890-1913
Dennoch ist ja die dahinter stehende Aussage ganz interessant. @vonLewinski spricht den französischen Revanchismus nach 1871 an, und die Frage seiner
Relevanz für die französische Politik, zB im Hinblick auf Elsaß-Lothringen, seine Bedeutung in der öffentlichen Meinung etc.
Abseits von der teilweise auch offiziösen deutschen Nachkriegs-/Niederlagen-/Verdrängungs-Propaganda ist das eine interessante Fragestellung. Dazu gibt es einige Untersuchungen.
Falls @vonLewinski die Frage also über Klischees und Legendenbildung hinaus interessiert - da er sich angabegemäß gern mit Fragen des Nationalismus beschäftigt - kann ich dazu gerne einige Untersuchungen heraussuchen, die dieses Problem detailliert behandeln.