Bismarcks Grundlinien in Bezug auf den Zweibund und den Rückversicherungsvertrag

Den Sprengstoff, der hier angelegt war, hast Du sehr gut beschrieben.

Ergänzen kann man, dass sich Russland auch im Kaukasus vorgeschoben hatte, und hierdurch das Osmanische Reich weiter destabilisierte. Zudem war nun Nordpersien aus britischer Sicht bedroht, und damit "näherte" man sich Indien.
 
In der Tat. Die Briten hatten in jener Zeit einen Außenminister, Lord Derby, der sich gegenüber seinen Premier Lord Beaconsfield, ehemals Disraeli, sich als Bremser betätigte. Und gleichzeitig war Andrassy nicht bereit Farbe zu bekennen und mit dem Briten gemeinsame Sache gegen die Russen zu machen; er hatte ja schon mit den Russen entsprechende Absprachen getroffen gehabt. Und das, obwohl er die ganze Zeit in London für ein aggressives Vorgehen gegenüber Petersburg geworben hatte.

Gortschakow wollte die deutsche Diplomatie, hier von Werder, gerne immer wieder übertölpeln und dazu veranlassen, das im Kriegsfalle gegen Österreich-Ungarn das Deutsche Reich neutral bleibt. Bismarck hatte alle Hände zu tun, um seinen kaiserlichen Herrn vor „Dummheiten“ zu bewahren.
 
Aber auch das Reich gab sich saturiert (Kriegsziele sind im Ersten Weltkrieg nach Kriegsausbruch, im sog. Septemberprogramm, formuliert worden), keine Selbstverständlichkeit angesichts der vielen Deutschen außerhalb des Reiches.

Das sehe ich etwas anders. Von der Politik der Saturiertheit hatte man sich schon bald nach dem Ende der Bismarck-Ära verabschiedet. Nicht ohne Grund bleibt der Begriff der Saturiertheit des DR bis in die heutige Zeit eng mit der Politik Bismarcks verknüpft. Später wollte man seinen "Platz an der Sonne", wollte Versäumtes nachholen, strebte man eine Weltmachstellung im Konzert der ganz Großen an - und das auf so plumpe und ungeschickte Art und Weise, dass die anderen Großmächte schon fast nicht mehr anders konnten, als sich gegen diesen "Störenfried" zusammenzuraufen.

Ich persönlich kann Bülows „Politik der freien Hand“ (also sich nicht in Streitereien der Großmächte hineinziehen zu lassen) für durchaus für richtig

Eine "Politik der freien Hand" hätte aber gerade diese Saturiertheit und eine gewisse Zurückhaltung im internationalen Zusammenspiel erfordert. Davon war die wilhelminische Politik nach Bismarck jedoch meilenweit entfernt. Die von Bülow'sche Politik der freien Hand war eher eine Politik der Kooperationsverweigerung und der Auskreisung und in keinster Weise dazu geeignet, Stellung, Einfluss und Ansehen des DR auf der weltpolitischen Bühne zu erhöhen.

Die Frage ist auch, ob eine Politik der freien Hand selbst im Idealfall überhaupt funktioniert hätte. In einer Zeit, da sich die anderen Großmächte untereinander allmählich um einen Ausgleich ihrer alten Gegensätze bemühten, ja sogar Allianzen schmiedeten, wäre es äußerst schwierig gewesen, sich aus alldem rauszuhalten und - ganz auf sich allein gestellt - ohne selbst Bündnisverpflichtungen einzugehen, eine starke Position zu bewahren. Möglicherweise wäre man -so oder so - am Ende alleine dagestanden, abgesehen von einem (relativ) schwachen Bündnispartner Ö-U. Selbst wenn es nicht zum Krieg gekommen wäre, hätten die anderen Großmächte womöglich dem DR das Weltgeschehen aufdiktieren können. Die "Politik der freien Hand" ist/war demnach m. E. nur ein Wunschbild, welches mit den damaligen weltpolitischen Gegebenheiten kaum in Einklang zu bringen ist.
 
Mit der Amtszeit und den Namen des Reichskanzlers Bülow ist auch die expansive deutsche Weltpolitik verbunden. Die von ihm nicht unmaßgeblich geprägte Außenpolitik war auch darauf ausgerichtet, von der Abschirmung des Flottenbaus einmal abgesehen, „vorteilhafte“ Situationen und Konstellationen, insbesondere Spannungen zwischen Großbritannien und Russland, der internationalen Lage nach Möglichkeit schlicht auszunutzen. Des Weiteren sind hier zu nennen der Erwerb von Samoa, der Marianen, der Karolinen und Palaus. Nicht zu vernachlässigen ist der Bau der Bagdadbahn. Diese angeblichen Erfolge sollten im Inneren integrierend wirken und natürlich Bülow seine Machtposition helfen zu sichern. Jedoch verengte sich der außenpolitische Spielraum in der Ära Bülow zusehends und am Ende war Bülow zu der Einsicht gelangt, das ein Ausgleich mit Großbritannien in der Flottenfrage her muss.
 
Die letzte Großmacht, die die Politik der "freien Hand" verfolgt hat, genannt "splendid isolation", war Großbritannien. Dies wurde 1900/1902 aufgegeben, weil zu viele Krisenherde und zu viele, potenziell gegnerische Mächte in dieser globalen Sicht bestanden. Das "Great Game" war nicht mehr beherrschbar.

Es fällt schwer, die Bülowsche expansive Politik wegzudenken, und geht in die Spekulation über, wie die Lage dann ausgesehen hätte:

Immerhin waren es Teile der Wirtschaft, denen die Konflikte zu riskant erschienen, und die auf die wachsende Wirtschaftsmacht des "saturierten" Reiches verwiesen, die die beste denkbare Expansion gewesen wäre. Der ansonsten noch denkbare Konfliktherd Elsaß-Lothringen im Sinne eines territorialen Revanchismus Frankreichs hätte kaum den Auslöser für einen großen europäischen Krieg hergegeben, schon wegen des Desinteresses von Russland und Großbritannien in dieser Frage.

Immerhin plausibel wäre die Annahme, dass sich die beiden größten globalen Rivalen Großbritannien und Russland zB in dem Fall in Haare geraten wären, dass Russland die Beherrschung des Balkans und die Besetzung der Dardanellen gelungen wäre. Die britische Position im Mittleren Osten wurde als existentiell angesehen, bei der Bedrohung von Indien bestand keinerlei Toleranzzone. Der Burgfrieden zwischen Frankreich und Großbritannien war auch insofern brüchig, als er von den übrigen Konflikten und Gegensätzen der beiden Mächte mit Dritten lebte.

An den Konflikten hätte das Deutsche Reich wenig Anteil genommen. In der "Südost-Expansion" und mit der Einmischung in das Osmanische Reich setzte man sich aber zwischen die Stühle der eigentlichen "natürlichen" Gegner und zwang diese sogar zur oberflächlichen (temporären) Einigung.
 
Wilbury schrieb:
Eine "Politik der freien Hand" hätte aber gerade diese Saturiertheit und eine gewisse Zurückhaltung im internationalen Zusammenspiel erfordert. Davon war die wilhelminische Politik nach Bismarck jedoch meilenweit entfernt. Die von Bülow'sche Politik der freien Hand war eher eine Politik der Kooperationsverweigerung und der Auskreisung und in keinster Weise dazu geeignet, Stellung, Einfluss und Ansehen des DR auf der weltpolitischen Bühne zu erhöhen.

[FONT=&quot]Das kann man so pauschal nun auch nicht wieder sagen. Beispielsweise war Bülow in der Frage der Venezuelakrise aber auch in der problematischen Frage der Bagdadbahn durchaus kooperationsbereit. In der Venezuelakrise haben die Briten, als die USA ihre Missbilligung immer deutlicher zum Ausdruck brachten, sich „vom Acker gemacht“ und den Deutschen die alleinige „Schuld“ für alles gegeben. Entsprechend wurde dies auch in der britischen Presse publiziert. Zur Bagadadbahn läßt sich vieles sagen, aber fairerweise muss auch anerkennen, dass es für das Deutsche Reich ein enormes Prestigeobjekt war und nicht so ohne weiteres aufgegeben werden sollte. Das war auch den Männern in Whitehall durchaus klar. Interessierte Kreise in Großbritannien forderten die Ablehnung einer Kooperation mit dem Deutschen Reich und stattdessen seine Ächtung.[/FONT]


[FONT=&quot]In der Folgezeit gingen Großbritannien, Frankreich und später auch das Zarenreich dazu über, das Deutsche Reich und auch Österreich-Ungarn zwar nicht auszukreisen, aber durchaus auszugrenzen.
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