Hallo excideuil,
vielen Dank für diese Fragestellung, bzw. Ausführungen auf akademischen Niveau. Auch wenn es mir an solch profundem Hintergrundwissen, speziell über den Ägyptenfeldzug fehlt, so bin ich in der Recherche (eigentlich über die vornapoleonische Zeit), auch über diese Fragestellung gestolpert.
Überliefert ist ja Beispielsweise nach der Schlacht von Brienne (1814):
"Napoleon nutze die Zeit zu einer Inspektion seiner Truppen, die er auf dem Schlachtfeld des Vortages vor Brienne antreten ließ. In der Nacht hatte Frost den zuvor aufgeweichten Boden überfroren. Darin waren Tote und Verletzte, die - wie bei Napoleon üblich - ihrem Schicksal überlassen worden waren, festgefroren, konnten sich nicht rühren und auch nicht beiseite geschafft werden. Napoleon, der nach eigenem Bekunden beim Anblick menschlichen Leides keinerlei Empfindung empfand, ließ sich auch davon nicht beeindrucken. So standen denn die frisch einberufenen französischen Rekruten in Reih' und Glied mit Toten und Sterbenden zwischen sich und ihren Beinen. Diese Erfahrung prägte sich bei ihnen tief ein und trug mit bei zu den massenhaften Desertionen der nächsten Tage"
Schlacht von Brienne ? Wikipedia
Oder die Annekdote in den Friedensgesprächen von 1813 mit Metternich:
"Napoleon: „... Ich bin im Felde aufgewachsen, und ein Mann wie ich schert sich wenig um das Leben einer Million Menschen ... Die Franzosen können sich nicht über mich beklagen; um sie zu schonen, habe ich die Deutschen und die Polen geopfert. Ich haben in dem Feldzug von Moskau 300.000 Mann verloren; es waren nicht mehr als 30.000 Franzosen darunter."
Metternich: „Sie vergessen, Sire, dass Sie zu einem Deutschen sprechen!'"
(Metternich, Denkwürdigkeiten, hrsg. von Otto H. Brandt, München 1926, Band l, S. 246 ff.)
Also nach heutigen Maßstäben, würde man wohl eindeutig von einem Soziopathen sprechen. Nur stellt sich hier die Frage, welcher Feldherr der damaligen Zeit war dies nicht? Doch um erstmal von der Kriegsverbrecher-Thematik zur allgemeinen Armee-Problematik dieser Zeit zu kommen. Soldaten wurden ja nicht aus humanitären Gründen "geschont", sondern weil sie wertvolle "Ressource" darstellten, die eben nicht über Nacht ersetzt werden konnten. Sehr gut erkennbar an den durch die Bevölkerungsknappheit notwendigen Preußischen Militärreformen der vornapoleonischen Zeit. Die damalige Ausbildung dauerte gut 18 Monate, um massenhafte Desertationen zu vermeiden, mußte ein ausgeklügeltes Kantonssystem eingeführt werden, mit unschönenen Nebeneffekten wie der drakonischen Disziplin, der "Sippenhaft" oder der Nachschubpflicht. Soziale Einrichtungen wie Invalidenheime oder Waisenhäuser dürften kaum die Idee einer sozialen Absicherung entsprungen sein, sondern weil sich sonst mangels "Moral" kein stehendes Heer erhalten ließ. Desertationen waren ein grundlegendes Problem jeder Armee dieser Zeit.
Napoleon hatte dieses Problem durch die Levée en masse vorerst nicht. Doch im ersten Koalitionskrieg verlor Frankreich trotz dieses Vorläufers der Wehrpflicht und der sicherlich großen Begeisterung von 1793-1796 von 1 Mio Soldaten 600.000 durch Desertation oder Verluste. Also kampferprobte und vor zuverlässige Soldaten, waren das wertvollste Gut des damaligen Militärs. Deshalb ja auch Napoleons extreme Priviligierung der "Alten Garde". Eine der Neuerungen die Napoleon zugeschrieben werden, ist ja auch das "moderne Sanitätswesen", rein praktisch zur damaligen Zeit sinnlos bis kontraproduktiv, aber es hob die Moral.
Doch um mal auf ein Zitat von Dir zurückzukommen:
"Spricht - oder träumt - so ein Mensch, der mit der Aufklärung und der franz. Revolution groß geworden ist oder ein Abenteurer, dem nichts heilig ist?"
Napoleon ist ja kein Kind der Aufklärung, auch wenn diese sicherlich ihren Teil zur Auslösung beigetragen hat. Aber die Revolution hiess auch Robespierre und Revolutionstribunale, royalistische Umsturzversuche und nicht zuletzt der erste Koalitionskrieg, in dem Frankreich von Preußen und Habsburg der Krieg erklärt wurde. Letztlich war Napoleons Machtergreifung nichts anderes als ein Militärputsch unter den Vorzeichen des zweiten Koalitionskrieges. Der Ägytenfeldzug fällt ja noch unter die Herrschaft des Revolutionsdirektoriums, sicher nicht zuletzt mit dem Hintergedanken den immer populärereren Napoleon erstmal loszuwerden.
Das dahinterstehende strategische Interesse dürfte es aber eher gewesen sein, Großbritanien, mit dem man sich ja im Krieg befand, empfindlich zu treffen und damit einen Frieden zu erzwingen. Und jetzt könnte man sich auf die Frage zubewegen, ob die Kriegsführung während des Ägyptenfeldzuges die Kritierien von Kriegsverbrechen erfüllen. Nach heutigen Maßstäben zweifelsfrei, doch wie sieht es nach damaligen Maßstäben aus? Im Russisch-Österreichischen Türkenkrieg (1787–1792) war bereits erklärtes militärisches Ziel, das Osmanische Reich zu zerschlagen. Ich bezweifele stark, dass dieser Krieg mit sanfteren Bandagen geführt wurde. Auch ist es symptomatisch für Napoleons frühe Feldzüge, dass er tatsächlich ohne Versorgungslinien agierte, was ihm ja sehr lange Zeit auch einen seiner entscheidenden Vorteile, die Geschwindigkeit, brachte.
Des weiteren handelte es sich um einen Kolonialkrieg, das Osmanische Reich (oder seine Verbündeten) wurden zweifelsfrei nicht als ebenbürtige, bzw. gleichrangige Gegner betrachtet, auch gab es keine Regeln wie die Haager Landkriegsordnung oder die Genfer Konventionen, innerhalb Europas wäre Napoleon für sein Vorgehen mit Sicherheit verachtet worden, bei Kolonien, die sich in der Wahrnehmung außerhalb des rudimentären europäischen Wertekanons befanden, dürften auch keine "ungeschriebenen" Regeln gegolten haben. Exemplarisch dafür, vielleicht der indische Aufstand von 1857, der ebenfalls mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurde, nichtsdestotrotz dennoch nur auf sehr verhaltene (und nur indivduelle) Kritik stiess.
Ende des 18.jahrhunderts dürften nur sehr wenige wirklich Anstoss an Napoleons Kriegsführung gefunden haben, wenn überhaupt, vermutlich eher, weil er letztlich keinen Erfolg verbuchen konnte. Dennoch bleibt die Frage im Raum, wenn wir diese Massaker mal beiseite lassen, ob sich Napoleon nach damaligen europäischen Maßstäben zum Kriegsverbrecher gemacht hat. Bspw. eben im Rahmen des ja überaus brutalen Rußlandfeldzuges. Aber auch dies würde ich im Kontext der Zeit klar verneinen. Die weitaus meisten Opfer fielen ja nicht absichtlichen Massakern oder "brutal" geführten Schlachten zum Opfer, sondern aufgrund von mangelhafter Planung, Versorgungsengpässen, Überanstrengung, Krankheiten, Seuchen, der Kälte, der allgemeinen Rücksichtslosigkeit zu dieser Zeit.
Gleichzeitig darf man aber nie vergessen, dass Napoleon trotz seines Machtstrebens, seiner Soziopathie, seiner Rücksichtslosigkeit, sich weitestgehend im Rahmen der damaligen Zeit in vernünftigen "Bahnen" bewegt hat. Das postrevolutionäre Frankreich war tatsächlich umgeben von Feinden die auch tatsächlich Krieg erklärten. Frankreich, seit Ludwig dem XIV, war der "natürliche" Hegemon Europas und hatte das Haus Habsburg in dieser Rolle abgelöst. Der Anspruch auf Spanien zumindest nach den Gesetzen der Erbmonarchie durchaus begründet, auch wenn Ludwig der XIV. an diesen Anspruch noch scheiterte.
Die Habsburger Niederlände gehört seit langem genauso zum französischen Herrschaftsanspruch wie die linksrheinischen Gebiete, auch das "Stutzen" der Häuser Habsburg, Hohenzollern und Hannover dürfte in der heutigen Zeit noch als Präventivkriege und Pufferzonen durchgehen. Der "Wahnsinn" im Sinne der Weltherrschaft, also die Zäsur der damals außerhalb der Kabinettskriege anerkannten Machtverschiebungen, dürfte neben dem Anspruch auf Spanien der Angriff auf Rußland gewesen sein. Aber auch dies war ein Merkmal der Zeit, die Revolution in Frankreich wurde lange Zeit weniger kritisch gesehen, als die Machtverschiebungen durch Rußland auf der Krim. Denn bereits damals war allen Herrschern bewußt, dass Frankreich vielleicht kulturell, ökonömisch (neben den Niederlanden und England) und von der Bevölkerungsdichte der führende Staat in Europa war, aber ein expansives Rußland ein ganz anderer Machtfaktor ist. Vermutlich so, wie wir heute China betrachten würden. Nur, dass das damalige "China" vom deutschen Hochadel regiert wurde.
Die passenste Betrachtung ist für mich insofern auch nicht der heutige Maßstab, sondern der zeitgeschichtliche. Und der zeigt sich am besten im Umgang mit Napoleon nach der Niederlage. Obwohl er ja nun mitnichten Mitglied des Hochadels war und deshalb auch nicht dessen eigenen Gesetzen unterlag, wurde er nach der Völkerschlacht bei Leipzig, bzw. deren Konsequenzen, nicht hingerichtet. Sondern bekam mit Elba ein Micky-Maus-Herzogtum, aber eine eigene Insel zum würdevollen Abgang. Und selbst nach der 100-Tage-Herrschaft, wurde er nicht hingerichtet wie etwa Marshall Ney, sondern bekam sein, wenn auch diesmal bescheideneres Exil auf St.Helena. Und das, trotz der Bedeutung der Befreiungskriege in der nationaleuropäischen Bewegung.
Also trotz der exorbitanten Blutopfer seiner Zeit, war der Respekt größer, als jegliche Rachegedanken an diesen nach heutigen humanistischen Maßstäben, sicherlich gestörten Mann. Wenngleich es im Nachhinein schwer sein dürfte, den Grad seiner Verrohung nachträglich einzuordnen. Vermutlich gab es seit Alexander dem Großen keinen Feldherren mehr, der an mehr Schlachten teilgenommen hat und gemessen an den Beteiligten, dürfte Napoleon bis heute einsam an der "Spitze" stehen. Es dürfte nicht viele Menschen geben, die vergleichbar viele Tote in ihrem Leben gesehen haben wie Napoleon. Selbst die direkten Opfer von Hiroshima erreichen nur knapp die Zahlen der Vielvölkerschlacht bei Leipzig. Die Kämpfe an der Somme mögen sehr viel verlustreicher gewesen sein, aber da hatte niemand eine derartige Bedeutung und an einzelnen Tagen, kommt da auch nix heran. Über die "Hölle" von Verdun, hätte Napoleon vermutlich gelacht. Der Unterschied ergibt sich maximal aus der damals nicht möglichen Kontinuität der Schlachterei.
Was ich ebenfalls sehr kritisch sehe, ist die "Heldenverehrung" von Napoleon. Selbst wenn man ihn nicht als Kriegsverbrecher ächtet, er gehört zweifelsfrei zu den größten Schlächtern der Menschheitsgeschichte. Wie viele Millionen auf sein Konto gehen, ist heute schwer eruierbar, aber eine Frage läßt sich ohnehin nicht klären, wie wäre die Geschichte ohne ihn verlaufen? Allein durch die Wehrpflicht, also die Bürgerarmee, kombiniert mit der ohnehin vorhandenen Vormachtstellung Frankreichs, waren die postrevolutionären Truppen dem Rest Europas dermaßen überlegen, dass eine Dominanz Frankreichs fast unvermeidlich erscheint. Und das Bündnissystem Europas basierte nicht auf treuen Allianzen, sondern auf eine Austarierung der Macht.
Und viele Veränderungen, die letztlich Napoleon zugeschrieben werden, wären sehr wahrscheinlich so oder so gekommen.
Um nochmal auf die Kriegsverbrecherfrage zurückzukommen, relativ bezeichnend finde ich, dass die ersten Anstrengungen in dieser Richtung erst um >1860 aufkamen, also lange nach der napoleonischen Zeit. Insoforn denke ich eher, dass dies mit dem Aufstieg des Bildungsbürgertums zusammenhängt, als mit einzelnen Kriegsereignissen. Letztlich halte ich diese Kriege in toto für Überbewertet, weil sie zwar "Zeitmarken" darstellen und für Geschichten über Heldentum oder Versagen liefern, aber für die eigentliche Entwicklung nicht wirklich wichtig waren, vielleicht beschleunigen sie das Eine oder Andere, aber im gesamten, halte ich sie eher für Hilfskonstrukte, die veränderte Wirklichkeit wahrzunehmen. Bestensfalls Katalysatoren.
Und ja, nach heutigen Maßstäben, zweifelsfrei ein Kriegsverbrecher, aber das würde ich z.B. für die gesamte preußische Generalität, in der in Berlin ja zahlreiche Straßen und Plätze benannt sind, ebenso sehen.
LG