Boxeraufstand in China: ein Völkermord Kaiser Wilhelm II.?

In einer Kurzfassung der PhD-Arbeit "Heaven in Conflict" beleuchtet Clark den Zusammenhang zwischen dem Konflikt der christlichen Lehre und chinesischen Sichten.
Clark widerspricht deiner und meiner bisherigen Darstellung vollständig, die "Boxer" hätten die Christen mit den Kolonialmächten idenzifiziert. (Haben die Boxer nicht viel mehr die Kolonialmächte mit den Christen identifziert?)
Nach Clark hätten die "Boxer" die Christen eben nicht umgebracht, weil sie sie für Handlanger der europäischen Imperialisten hielten, sondern weil sie die Christen für die Dürre und Heuschreckenplage verantwortlich machten und ihnen geheime Kannibalismusrituale unterstellten. Chlark bezeichnet das als "antichristliche Mythologie".

Die Dehumanisierung der Gruppe der Christen zu "Teufeln" ist ein wichtiger Schritt Richtung Genozid. Irrationalität der Schuldzuweisungen und natürlich die Ritualmordlegenden erinnern mich stark an den abendländischen Antisemitismus, wobei die Übereinstimmungen wohl zufällig sind bzw. diese Motive des Aberglaubens in verschiedenen Epochen weltweit unabhängig voneinander vorkommen.

Die Rolle der christlichen Lehre im Konflikt beschreibt Clark eindeutig.
The Boxers in Shanxi fought the earthly part of that battle with guns, swords, and magical spells, while the Franciscans fought in the purely spiritual realm.
Die beschriebenen Franziskaner verwirklichten ohne Kompromiss die christliche Lehre der Gewaltlosigkeit. Bischof Fogolla verweigerte die Barrikadierung der Kirche und die Verteidigung der Gemeindemitglieder. Die Gemeinde ergab sich dem Martyrium.
(Die Heiligsprechung von 120 China Märtyrern (u.a. die beschriebenen Franziskaner) erfolgte 2000 durch Papst Johannes Paul II.)


Bemerkenswert ist, dass Giuseppe Castiglione (Jesuit und Mandarin am chinesischen Kaiserhof) im 18. Jahrhundert den Erzengel Michael im chinesischen Stil malte. Link zum Bild
Castiglione malte Luzifer in abendländischer Tradition als gehörnten Teufel, während der Erzengel Michael ein wenig an die chinesische Mode angeglichen wurde.


Die Phantasie von der Nachfolge des Erzengels Michael im Kampf mit der "gelben Gefahr" spielte aber bereits 1895 Teil der wilhelminischen Propaganda, vgl. Geschichtsforum . (Die Adressaten dieser Propaganda war jedoch die Europäer.) Es handelt sich um eine Instrumentalisierung der Massaker an den Christen durch die Allianz der Imperialisten. Sie waren willkommene Vorwand für weitere Eroberungen in China.
Anzumerken ist natürlich, dass in der überlieferten "Hunnenrede" die Massaker an chinesischen Christen gar keinen Raum einnehmen. Dort geht es Kaiser Wilhelm II. lediglich, um die China lebenden Deutschen und insbesondere um die Diplomaten. Die Missionare werden von ihm auch nicht expliziert erwähnt!
 
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V
on welcher Zeit sprichst Du? Von der Zeit um 1900 wohl eher nicht...

Diese Feststellungen stammen von Hudson Taylor und beziehen sich auf die Zeit vor der Boxer-Zeit.

https://fr.wikipedia.org/wiki/Watchman_Nee

Nach dem Boxer-Aufstand folgte eine Periode der außergewöhnlichen Öffnung für das Evangelium in China:
La débâcle des Boxers fut suivie d’une période d’ouverture exceptionnelle à l’Evangile en Chine. L’Empire fut renversé et la République instaurée en 1912 avec, comme président provisoire, le médecin chrétien Sun Yat-sen. Vers 1900, on comptait plus de un million de convertis et, en 1913, le tiers des missionnaires travaillant en Chine étaient des chinois. Ils participèrent à la grande conférence missionnaire de Shanghai où l’on décida d’intensifier la formation de pasteurs chinois et de travailler au rapprochement des églises formées par les différentes sociétés de mission étrangères. En 1914, il y avait 5462 missionnaires protestants étrangers en Chine, dont plus de mille étaient rattachés à la Mission à l’Intérieur de la Chine (CIM), fondée en 1865 par Hudson Taylor, qui avait aussi 2500 pasteurs et évangélistes chinois.

Von welchen Chinesen sprichst Du hier? Von den Boxern wohl eher nicht. Die hatten den Christen noch sehr viel mehr vorzuwerfen: Angeblich führten sie Schadenszauber aus, vergifteten Brunnen und schnitten kleinen Kindern das Herz aus dem Leib.

Das war wohl eine allgemein verbreitete Beobachtung im Land. Vielleicht auch ein gewisser Neid auf die "Reis-Christen", die von der Kirche unterstützt wurden.
 
Clark widerspricht deiner und meiner bisherigen Darstellung vollständig, die "Boxer" hätten die Christen mit den Kolonialmächten idenzifiziert. (Haben die Boxer nicht viel mehr die Kolonialmächte mit den Christen identifziert?)
Nach Clark hätten die "Boxer" die Christen eben nicht umgebracht, weil sie sie für Handlanger der europäischen Imperialisten hielten, sondern weil sie die Christen für die Dürre und Heuschreckenplage verantwortlich machten und ihnen geheime Kannibalismusrituale unterstellten. Chlark bezeichnet das als "antichristliche Mythologie".


Nein, in #153 findet sich eben dieser Hinweis und die Sicht von Clark ist in dieser Beziehung auch nicht besonders "originell".

Eingebunden ist diese Situation, so die Arbeiten von Cohen und Esherick in einen „Modernisierungskonflikt“, bei dem traditionelle und teils archaische bzw. schamanistische Vorstellungen über das Leben und die Natur eine Rolle gespielt haben. Dieses Gleichgewicht, so die Sicht der „Boxer“ auf die christlichen Missionen wurde durch die Fremden gestört und war eine der zentralen Gründe für die Erklärung bzw. Schuldzuweisungen der teils verheerenden Dürren in China zu der Zeit.

Aber ich werde ausführlicher noch dazu etwas schreiben. Kann nur etwas dauern.

Vielleicht könnte ja ein Moderator das Thema entflechten und unter die "Ursachen des Boxer-Aufstands" verschieben. Dann hat der gute KW II. seine Ruhe :winke:
 
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Diese Feststellungen stammen von Hudson Taylor

Indem man Zitate kenntlich macht, lassen sich die Aussagen richtig einschätzen.

Man kann sagen, es existierte vielleicht kein Land auf der Welt mit einer größeren religiösen Toleranz als China. Den einzigen Grund, den die Chinesen gegen das Christentum anführten war, das es in ihren Augen eine Religion der Ausländer war.


There is perhaps no country in the world in which religious toleration is carried to so great an extent as in China; the only objection that prince or people have to Christianity is that it is a foreign religion, and that its tendencies are to approximate believers to foreign nations.


(Hudson Taylor 1867)

Zur zeitlichen Einordnung:

Wenige Jahre zuvor war der Zweite Opiumkrieg zu Ende gegangen.

Als Ergebnis des verlorenen Krieges musste Peking 1860 zähneknirschend in den "Vertrag von Tianjin" einwilligen, der die Regierung zur Tolerierung der christlichen Religion und zum Schutz der christlichen Missionare verpflichtete:

ARTICLE VIII. The Christian religion, as professed by Protestants or Roman Catholics, inculcates the practice of virtue, and teaches man to do as he would be done by. Persons teaching or professing it, therefore, shall alike be entitled to the protection of the Chinese authorities, nor shall any such, peaceably pursuing their calling, and not offending against the law, be persecuted or interfered with.


https://en.wikisource.org/wiki/Trea...een_of_Great_Britain_and_the_Emperor_of_China



ARTICLE XXIX.
The principles of the Christian religion, as professed by the Protestant and Roman Catholic churches, are recognized as teaching men to do good, and to do to others as they would have others do to them. Hereafter those who quietly profess and teach these doctrines shall not be harassed or persecuted on account of their faith. Any person, whether citizen of the United States or Chinese convert, who, according to these tenets, peaceably teach and practice the principles of Christianity, shall in no case be interfered with or molested.
https://en.wikisource.org/wiki/Trea...ted_States_of_America_and_the_Empire_of_China
 
Neben all den im Zusammenhang mit dem sog. Boxeraufstand hier im Geschichtsforum aufgeworfenen Fragen und deren Antworten, ist es mir als Sinologe wichtig, eine Richtigstellung zur eigentlich fälschlichen und irreführenden Bezeichnung "Boxer" zu geben, bzw. die Erklärung hierzu von dem Sinologen Richard Wilhelm aus seinem Werk "Die Seele Chinas", Frankfurt: 1925, zu bemühen. Dort schreibt Wilhelm auf S. 16: "
Es gab auf dem Lande allenthalben Selbstschutzvereinigungen gegen das Räuberwesen, das Wege und Stege unsicher machte. Diese Selbstschutzverbände nannten sich I Ho T'uan (Vereinigungen zum Schutz der öffentlichen Ruhe). Es heißt, daß kurz nach- dem in Deutschland das Wort von der gepanzerten Faust gefallen war, dieser Titel umgewandelt wurde in I Ho K'üan (Faust zum Schutz der öffentlichen Ruhe). Das wurde dann fälschlich mit dem Wort Boxer übersetzt, obwohl von Boxen bei der ganzen Sache nicht die Rede war."
 
Der ausgesprochen ehrenwehrte Richard Wilhelm war ein bemerkenswerter Mann mit einer ebenso bemerkenswerten Sicht auf seine Tätigkeit als Missionar, wie Gerber es darstellt.

Aber in diesem Fall irrt sich Wilhelm, da ihm kaum die entsprechenden Dokumente zur Verfügung standen, die komplizierte Genealogie der "Boxer-Bewegung" zum damaligen Zeitpunkt zu erkennen.

Die "Boxer - Bewegung" (quanfei, abgeleitet aus quan bzw quanshu für "Boxen" als "martial Art Technik)
hat eine Reihe von Vorläufern (vgl. ausführliche Darstellung im Link).

Und wird objektivierend in der Regel mittlerweile als "United in Righteousness" (yihe) bzw. im Zusammenhang mit dem Milizbegriff als "Yihetuan" adressiert.

Für diese Bewegung werden als "Vorläufer" zwei zentrale Organisationen als relevant angenommen. Zum einen die "Big Sword Society" (Dadaohui), - in Shandon - die am ehesten der Beschreibung von Wilhelm entspricht, da sie in der Regel von den lokalen Honoratioren angeführt wurde. Und zum anderen aus dem Umfeld einer Massenbewegung, den "Spirit-Boxern" (in Zihli), die man eher als "soziale Bewegung" interpretieren kann . Ihre "Führer" kamen zumindest nicht aus der Schicht des "niederen Adels" bzw. der Honoratioren, sondern eher aus der Bauernschaft.

http://www.geschichtsforum.de/thema/frage-zum-boxeraufstand.23032/page-2

Gerber, Lydia (2015): Christianity for a Confucian Youth: . Richard Wilhelm and his Lixian Shuyuan School for Boys in Quingdao, 1901 - 1912. In: Anthony E. Clark (Hg.): Voluntary exile. Chinese christianity and cultural confluence since 1552. Lanham: Lehigh University Press, S. 117–144.
 
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Eine Folge dieser unsäglichen Rede war, das man in London unangenehm von den peinlichen Ausführungen Wilhelm II. berührt war. Die Briten waren in der Folge erste einmal nicht bereit, ihre Truppen den "Weltmarschall" Waldersee zu unterstellen.
 
Wenn, man mal davon absieht, dass der sogenannte Boxeraufstand, viele Ursachen hatte, unter anderem auch die sogenannten Handels- und Pachtverträge, welche China schließen musste; dann kann man wohl ohne Übertreibung sagen, dass das, was die westliche Welt, da abgeliefert hat, nicht wirklich ehrenwert war.

Was mit einer der Gründe dafür ist, dass man in China nach wie vor, wenig bis gar nichts von Ausländern hält! Auch wenn, die Sache inzwischen mehr als 100 Jahre her ist, vergessen ist das in China nicht.:rolleyes::eek: Was ich übrigens auch nochmal erwähnen wollte! Weil es mit der Sache in unmittelbarem Zusammenhang steht! Die allseits bekannte Hunnenrede unseres Kaisers wird ihm und uns ja noch heute vorgeworfen.:( Aber es wurden ja nicht nur deutsche Missionare ermordet. Auch aus den anderen Nationen! Und dort war man höchstwahrscheinlich ähnlich "angetan" von diesen Umständen wie in Deutschland. Was den Schluss nahelegt, dass die Soldaten der anderen 7 Länder, wahrscheinlich mit ähnlich "aufmunternden Worten" verabschiedet wurden!

Daher ist es meines Erachtens falsch, Wilhelm als besonders dumm oder plump hinzustellen. Was die Expeditionstruppen dann dort veranstaltet haben, war sicherlich unter aller Sau! Selbst nach damaligen Maßstäben.
Gab es eigentlich irgendwelche Kritik oder Proteste gegen das Vorgehen der deutschen Truppen in Deutschland?
Ich nehme hier mal die Reaktionen auf die Aktionen eines Herrn von Trotha, später bei der Niederschlagung des Herero und Nama. Das führte ja zu seiner Abberufung, sprich man hat ihn rausgeschmissen.
 
Was den Schluss nahelegt, dass die Soldaten der anderen 7 Länder, wahrscheinlich mit ähnlich "aufmunternden Worten" verabschiedet wurden!

Welche anderen Staatsoberhäupter haben denn ihre Soldaten dazu aufgerufen, keine Gefangenen zu machen?

Nur weil Du auch ähnlich grausige Reden gehalten hättest, wenn Du z. B. der König von England gewesen wärst, ist es noch lange nicht "wahrscheinlich", dass George V. sich derartige Entgleisungen geleistet hat.

Gab es eigentlich irgendwelche Kritik oder Proteste gegen das Vorgehen der deutschen Truppen in Deutschland?
Ja, gab es. Lies Dir doch mal diesen Thread durch.
 
Eine Folge dieser unsäglichen Rede war, das man in London unangenehm von den peinlichen Ausführungen Wilhelm II. berührt war. Die Briten waren in der Folge erste einmal nicht bereit, ihre Truppen den "Weltmarschall" Waldersee zu unterstellen.

War das berühmte Bild "Germans to the front" davor oder danach? Ich dachte man war von den Leistungen der Deutschen ganz angetan?
 
Der Spruch stamm ja von Seymour; ich weiß aber nicht genau, wann Seymour diesen getan hat; insofern auch nicht ob davor oder danach.

Wie die anderen Großmächte die Leistungen der deutschen Truppen bewerteten, ist mir nicht bekannt.
 
Er hat sich mit dem Spruch kein gutes Zeugnis ausgestellt! Das ist mal sicher. Diese "Aktion", mag nach der damaligen Logik üblich gewesen sein, das ändert aber nichts daran, dass man sich schlicht unzivilisiert verhalten hat.:confused: Gerechterweise muss man natürlich auch anmerken, dass solche Gedanken wie "Nationbuilding", damals noch völlig unbekannt waren. Obendrein, hatten alle damaligen Großmächte, überhaupt kein Interesse daran, das Kaiserreich China zu einem modernen Staat zu machen!:rolleyes::p Wobei das langfristig natürlich die bessere Methode gewesen wäre, sich Einfluss zu sichern.
 
Er hat sich mit dem Spruch kein gutes Zeugnis ausgestellt!
Trainierst Du gerade für die Platitüdenweltmeisterschaft?

Der "Spruch", von dem im Beitrag zuvor die Rede war, lautet "The Germans to the front".

Falls Du Kaiser Wilhelm meinen solltest, der hat nicht nur einen Spruch losgelassen, sondern eine komplette Rede mit etlichen markigen Sprüchen gehalten. Die Regierung brachte eine zensierte Fassung der Rede in Umlauf, in der die schlimmsten Sprüche wegretuschiert war, aber es war zu spät, ein Journalist hatte mitstenographiert, und die unzensierte Fassung war bereits in Druck.

Diese "Aktion", mag nach der damaligen Logik üblich gewesen sein
Die "Logik" heißt schlicht: Rache. Racheaktionen gab es nicht nur damals, um 1900, sondern zu allen Zeiten.

Gerechterweise muss man natürlich auch anmerken, dass solche Gedanken wie "Nationbuilding", damals noch völlig unbekannt waren.

Was Du damit sagen willst, erschließt sich mir nicht.
 
Wenn, man mal davon absieht, dass der sogenannte Boxeraufstand, viele Ursachen hatte, unter anderem auch die sogenannten Handels- und Pachtverträge, welche China schließen musste; dann kann man wohl ohne Übertreibung sagen, dass das, was die westliche Welt, da abgeliefert hat, nicht wirklich ehrenwert war.

Was mit einer der Gründe dafür ist, dass man in China nach wie vor, wenig bis gar nichts von Ausländern hält! Auch wenn, die Sache inzwischen mehr als 100 Jahre her ist, vergessen ist das in China nicht.:rolleyes::eek: Was ich übrigens auch nochmal erwähnen wollte! Weil es mit der Sache in unmittelbarem Zusammenhang steht! Die allseits bekannte Hunnenrede unseres Kaisers wird ihm und uns ja noch heute vorgeworfen.:( Aber es wurden ja nicht nur deutsche Missionare ermordet. Auch aus den anderen Nationen! Und dort war man höchstwahrscheinlich ähnlich "angetan" von diesen Umständen wie in Deutschland. Was den Schluss nahelegt, dass die Soldaten der anderen 7 Länder, wahrscheinlich mit ähnlich "aufmunternden Worten" verabschiedet wurden!

Daher ist es meines Erachtens falsch, Wilhelm als besonders dumm oder plump hinzustellen. Was die Expeditionstruppen dann dort veranstaltet haben, war sicherlich unter aller Sau! Selbst nach damaligen Maßstäben.
Gab es eigentlich irgendwelche Kritik oder Proteste gegen das Vorgehen der deutschen Truppen in Deutschland?
Ich nehme hier mal die Reaktionen auf die Aktionen eines Herrn von Trotha, später bei der Niederschlagung des Herero und Nama. Das führte ja zu seiner Abberufung, sprich man hat ihn rausgeschmissen.

Die Times hat sich ziemlich aggressiv geäußert, und die Daily Mail hatte eine Fake-Nachricht gebracht, dass das Ausländer-Viertel gestürmt und alle Europäer massakriert wurden. Diese Nachricht hat möglicherweise den Kaiser zur sogenannten Hunnenrede veranlasst. So weit wie Wilhelm ging aber keiner. Kriegsgegner niederzumachen widersprach allen Regeln der Kriegsführung. Das Deutsche Kaiserreich hat 1899 die Haager Landkriegsordnung unterschrieben. Das Kaiserreich China hat zwar an den Verhandlungen teilgenommen, die Haager Landkriegsordnung aber nicht unterzeichnet. Ob China damit formalrechtlich den Schutz der Haager Landkriegsordnung genoss oder nicht, darüber kann man geteilter Meinung sein. Bis die Deutschen an die Front kamen, waren die Kampfhandlungen schon fast vorbei, und an Brutalität nahmen sich die Europäer alle nicht viel, es wäre unzutreffend, die Deutschen besonderer Brutalität zu bezichtigen- sie bewegten sich im internationalen Rahmen wie Kolonialkonflikte beendet und Kolonien befriedet wurden, denen man keinen Rechtsstatus zubilligt.

Neu an der Hunnenrede war eigentlich nur, dass ein christlicher, zivilisierter Monarch ganz offen seinen Soldaten Terrorbefehle gab, sie aufrief, zu einer Kriegführung wie sie für Piraten charakteristisch war, die aber nicht dem Standard europäischer Kriegsgesetze entsprach und schon gar nicht der Haager Landkriegsordnung, die Wilhelm selbst unterzeichnet hatte.
 
Reichskanzler von Bülow schrieb dazu das Folgende:

"Die schlimmste Rede jener Zeit und vielleicht die schädlichste, die Wilhelm II. je ge[1]2 halten hat, war die Rede in Bremerhaven am 27. Juni 1900. Als Hohenlohe und ich dort eintrafen, erblickten wir am Hafen, wo die für Ostasien bestimmten Truppen aufgestellt waren, ein hölzernes Gerüst. Es wurde darüber hin und her geredet, welchem Zweck es dienen sollte. Die einen meinten, daß sich die Feuerwehr von Bremerhaven an diesem Turm für Feuersbrünste einexerziere, andere glaubten, die Matrosen sollten hier Turnübungen anstellen. Plötzlich erschien der Kaiser und erkletterte die, wie sich jetzt herausstellte, für ihn errichtete Redekanzel. In der Rede, die er von diesem Podi[1]9 um mit scharfer, weithin reichender Stimme hielt, befand sich der Satz: "Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen." Noch während der Kaiser sprach, setzte ich mich mit dem Direktor des Bremer Lloyd, dem verständigen Herrn 1 Reichskanzler Chlodwig Carl Viktor Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst. QUELLE Internationale Beziehungen SEK I Kaiserzeit / Kolonialismus / Imperialismus SEK II Nationalismus / Begegnung mit dem Anderen 3 Wiegand, in Verbindung, um alle anwesenden Journalisten darauf zu verpflichten, daß sie diese Rede nicht ohne vorherige Korrektur durch mich veröffentlichen würden. Diese Zusage wurde auch von allen gegeben und loyal gehalten. Als ich auf die "Hohenzollern" zurückkehrte, meldete sich ein Berliner Publizist bei mir, der die Rede wörtlich nachstenographiert hatte und glücklich war, sie als erster seinem Blatt telegraphieren zu können. Auf mein Zureden erklärte er sich in anständiger Weise bereit, auf diese Primeur zu verzichten und die Kraftstellen der kaiserlichen Ansprache zu unterdrücken. Während der Kaiser gesprochen hatte, war das Gesicht des einundachtzigjährigen Fürsten Hohenlohe immer länger geworden. Er hatte mir kaum drei Monate vorher telegraphiert: "Seien Sie versichert, daß ich, solange ich noch fähig bin, mein Amt zu verwalten, glücklich sein werde, auf Ihre Mitarbeit rechnen zu dürfen." Jetzt meinte er, indem er sich mit resigniertem Gesicht mir zuwandte: "Das kann ich unmöglich im Reichstag vertreten, das müssen Sie versuchen." Bei der Abendtafel wurden die Zeitungen gebracht. Der Kaiser griff nach ihnen und war sehr verwundert, seine Rede nur in der ihr von mir gegebenen Fassung, d. h. unter Weglassung der bedenklichen Wendungen, zu finden. "Sie haben ja gerade das Schönste weggestrichen", meinte er zu mir, der ich ihm gegenübersaß, weniger erzürnt als enttäuscht und betrübt. Da wurde ein kleines, in Wilhelmshaven erscheinendes Blatt gebracht, das die kaiserliche Rede in extenso veröffentlicht hatte. Ein Mitarbeiter dieses Blättchens hatte, auf einem Dache sitzend, die Rede nachstenographiert und sofort publiziert, ohne daß Wiegand oder ich es hatten hindern können. Er hatte auch schon die betreffende Nummer seines Blattes nach Bremen, Hamburg, Hannover, Emden und Berlin in Tausenden von Exemplaren expediert, froh über das gute Geschäft, das er machen würde. Der Kaiser war entzückt, als er nun seine Rede in ihrem vollen Wortlaut las, aber weniger erfreut, als ich, wähend er nachher seine Zigarre rauchte, ihn über seine Auslassungen zur Rede stellte ...“

Bernard Fürst v. Bülow: Denkwürdigkeiten Band 1, Berlin 1930, S. 359ff
 
Der Kaiser war entzückt, als er nun seine Rede in ihrem vollen Wortlaut las, aber weniger erfreut, als ich, wähend er nachher seine Zigarre rauchte, ihn über seine Auslassungen zur Rede stellte ...“

Das lässt leider einmal mehr ein erschreckendes Maß an Einsichtslosigkeit bei Wilhelm dem Letzten durchscheinen.

Wobei ich sagen muss, dass mich das hier überrascht:

Als Hohenlohe und ich dort eintrafen, erblickten wir am Hafen, wo die für Ostasien bestimmten Truppen aufgestellt waren, ein hölzernes Gerüst. Es wurde darüber hin und her geredet, welchem Zweck es dienen sollte. Die einen meinten, daß sich die Feuerwehr von Bremerhaven an diesem Turm für Feuersbrünste einexerziere, andere glaubten, die Matrosen sollten hier Turnübungen anstellen. Plötzlich erschien der Kaiser und erkletterte die, wie sich jetzt herausstellte, für ihn errichtete Redekanzel.

Hatte man tatsächlich den Reichskanzler nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass Wilhelm da eine Rede zu halten beabsichtigte und das vorbereiten ließ?

Es erscheint mir ehrlich gesagt auch etwas unwahrscheinlich, dass es quasi noch während der Rede gelang fast alle Pressevertreter noch rechtzeitig einzufangen und auf Linie zu bringen.

Ohne da jetzt Verschwörungstheorien spinnen zu wollen, aber wäre es möglich, dass der Herr Reichskanzler vielleicht doch nicht so ahnungslos war, wie er hier tut und die Journalisten bereits vorher darauf verpflichtet hatte nichts unredigiertes zu veröffentlichen, durch eine Panne aber einfach jemand vergessen wurde?
 
Hatte man tatsächlich den Reichskanzler nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass Wilhelm da eine Rede zu halten beabsichtigte und das vorbereiten ließ?

Es erscheint mir ehrlich gesagt auch etwas unwahrscheinlich, dass es quasi noch während der Rede gelang fast alle Pressevertreter noch rechtzeitig einzufangen und auf Linie zu bringen.

Beide Fragen kann ich dir jetzt nicht zuverlässig beantworten. Auch gut möglich, das Bülow Unkenntnis vortäuschte, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.

Bebel hatte im November 1900 im Reichstag das Vorgehen der deutschen Truppen heftig kritisiert und dies auch auf die "Hunnenrede" von Wilhelm II. vom 27.Juli 1900 zurückgeführt. Bebel hatte im Reichstag Passagen, die waren einfach nur furchtbar, aus zwölf Briefen deutscher Soldaten, die in China dabei waren, vorgelesen.

Bülow antwortet auf Bebel, das die "unpassende" Wortwahl des Kaisers ein Ausrutscher gewesen sei.
 
Beide Fragen kann ich dir jetzt nicht zuverlässig beantworten. Auch gut möglich, das Bülow Unkenntnis vortäuschte, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.

Muss ich mir bei Zeiten mal ansehen ob sich dazu was finden lässt, so ganz nehme ich Bülow die Story nämlich nicht ab.
Das wenn extra eine Rednertribüne oder -Kanzel für KW II. vorbereitet wurde sollte man doch erwarten, dass da Fragen der Sicherheit erörtert und mit der Reichskanzlei Rücksprache genonnen worden wäre, zumal Bremerhaven ja sozusagen "nichtpreußisches Ausland" war und ein solcher Auftritt ja eigentlich ohnehin die Kooperation der Bremer- mit den Preußischen Stellen voraussetzt.

Andereseits scheint man aber in Fragen der Sicherheit auch extrem geschlampt zu haben, denn wenn ein Journalist da unbehelligt einfach auf ein Dach steigen und das mit- oder nachstenographieren konnte, hätte da natürlich auch jemand mit ganz anderen Absichten hinaufklettern können um einen einzigartigen Ausblick auf den Kaiser zu haben.

Interessant jedenfalls.......

Bülow antwortet auf Bebel, das die "unpassende" Wortwahl des Kaisers ein Ausrutscher gewesen sei.

Naja, aber wer sollte das glauben? Das der Kaiser bei seiner Sozialisation bei seinem ja doch hin und wieder durchscheinenden Interesse für Geschichte, seinem ständigen Bewegen in der Welt des Militärs und in der internationalen Politik die Parole "Pardon wird nicht gegeben" ausversehen ausgegeben hatte, das konnte wohl niemand ernst nehmen.
 
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