Das Allgemeine und das Individuelle

R

ronberg

Gast
Hallo liebe Experten,

ich muss eine Hausarbeit über das "Allgemeine und das Individuelle" in der Geschichte schreiben.
Ich möchte mit Ranke beginnen, der ja gesagt hat, dass jede Epoche "unmittelbar zu Gott" ist, d.h. dass jede Epoche eben ihre Eigenheiten hat und nicht eine Wiederholung einer anderen Epoche oder geschichtlichen Struktur ist. Ranke hat also proklamiert, dass die Geschichte aus individuellen Ereignissen besteht, die nur bedingt mit anderen Strukturen verglichen werden können.
Dieses Geschichtsbild möchte ich von dem "davor" (Aufklärung) abgrenzen; es heißt ja immer, dass die Aufklärer die Geschichte als Wiederholungsgebilde sahen, weshalb man auch immer einzelne Exempla rausgreifen konnte,um an ihnen zu lernen. Jedoch stoße ich auf keine Aufklärer, der dezidiert die Meinung vertritt, dass Geschichte immer nur aus Wiederholungen besteht und keine großen Veränderungen, also individuellen Ereignisse, eintreten.
Könnte mir jemand einen Tipp geben, wo ich solches Gedankengut finden könnte?

Vielen Dank im Voraus an alle, die sich mit meinem Problem beschäftigen
Ron
 
Spontan fällt mir hierzu Kant ein.
vgl. hierzu auch
II. Das Konzept der "Moderne" - Geschichte als Fortschritt
Keineswegs das einzige, wohl aber das dominante Geschichtsbild - das Grundmuster, zu dem sich fortan partikulare Geschichtsbilder ins Verhältnis setzen mussten - ist die Vorstellung der Geschichte als eines immanenten Fortschritts zum Besseren: ein Geschichtsbild europäischer Herkunft, das universelle Geltung beansprucht. Es bestimmt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Vergangenheitsdeutung und Zukunftserwartung...
Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive - Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51-52/2002)
 
Zyklische Geschichtsbilder sind weit verbreitet. Oswald Spengler, etwas weniger doktrinär A.J. Toynbee.

Und wenn Du 2500 Jahre zurückgehst, dann wirst Du auch im Brahmanismus fündig :)
 
erst einmal vielen Dank für die Antworten!

Ich suche jedoch ganz spezifisch nach zyklischen Geschichtsbildern in der Aufklärung (deshalb fallen Oswald Spengler und Brahmanismus schon einmal weg); am besten wäre, wenn jemand sagt, dass Kriege und Politik etc. sich immer nach demselben Muster abspielen würden und sich keine neuen individuellen Ereignisse ergäben (damit ich das dann schön mit Ranke kontrastieren kann).

Hat jemand vielleicht noch eine Idee oder einen Hinweis?

Vielen, vielen Dank und herzlichen Gruß
Ron
 
Ich suche jedoch ganz spezifisch nach zyklischen Geschichtsbildern in der Aufklärung
Hmm, 200 Jahre vorher:
wikipedia schrieb:
Das Geschichtsbild Machiavellis bietet den Schlüssel zu seinem komplexen Denken. In seiner Auffassung verläuft die Geschichte zyklisch. Zunächst befindet sich eine Gesellschaft in Anarchie oder einer tiefen Krise. Diese wird durch die Herrschaftserrichtung eines Anführers (uomo virtuoso) überwunden, welcher dann feste Institutionen schafft. In einem weiteren Schritt konsolidiert er dieses politische Gebilde, doch um ihm Festigkeit zu verleihen, muss es in eine republikanische Form gebracht werden. Sobald sich die Bürger auch mit diesem Gemeinwesen identifizieren, ist der Zenit der Entwicklung erreicht: der Abstieg muss früher oder später beginnen. Dieser setzt durch den Verfall der Sitten ein (beginnend bei den herrschenden Schichten) und setzt sich mit dem Verfall der Institutionen fort. Diese Entwicklung endet wiederum in einer tiefen Krise oder in Anarchie.
 
Hallo deSilva,

wieder herzlichen Dank für die schnelle Antwort! wow!

Ich bin deinem Tipp einmal nachgegangen und habe gesehen, dass Machiavelli gehen würde. Das ist mir zwar immer noch ein bisschen allgemein, aber es geht vielleicht auch nicht anders. Ich hatte halt gehofft, dass vielleicht jemand einen Denker/Text weiß, in dem ganz "stumpfsinnig" von immer wiederkehrenden Wiederholungen in der Geschichte gesprochen und jede Gott-unmittelbare Individualität geleugnet wird.
Falls doch noch jemand darauf stoßen sollte (das wäre doch sehr interessant, oder? Ich habe nämlich jetzt schon in vielen Büchern immer nur Andeutungen gelesen, wie "In der Aufklärung hatte man ein völlig zyklisches Weltbild", seltsamerweise stehen dann jedoch nie Fußnoten da und alles wird als selbstverständlich genommen...), wäre ich sehr dankbar.

Aber der Tipp von deSilva war schon sehr gut, deshalb auch hierfür noch einmal DANKE!!

Ron
 
Wie wäre es hiermit: "Es gibt keinen Zufall in der Regelung der menschlichen Dinge, und Glück ist ein Wort ohne Sinn." Jacques Bénigne Bossuet - Wikiquote

Allerdings weiß ich nicht, ob die dortige "Quellenangabe" einen Buchtitel darstellen soll. Da sich Voltraire mit ihm auseinandergesetzt hat, könnte dessen theologische Universalgeschichte für dich von Interesse sein. Jacques Bénigne Bossuet – Wikipedia: Hier findet sich leider inhaltlich nichts weiter zu deiner Frage, aber vielleicht helfen die dortigen Literaturhinweise etwas weiter.

Ronberg schrieb:
Ich möchte mit Ranke beginnen, der ja gesagt hat, dass jede Epoche "unmittelbar zu Gott" ist, d.h. dass jede Epoche eben ihre Eigenheiten hat und nicht eine Wiederholung einer anderen Epoche oder geschichtlichen Struktur ist. Ranke hat also proklamiert, dass die Geschichte aus individuellen Ereignissen besteht, die nur bedingt mit anderen Strukturen verglichen werden können.
Dieses Geschichtsbild möchte ich von dem "davor" (Aufklärung) abgrenzen; es heißt ja immer, dass die Aufklärer die Geschichte als Wiederholungsgebilde sahen, weshalb man auch immer einzelne Exempla rausgreifen konnte,um an ihnen zu lernen. Jedoch stoße ich auf keine Aufklärer, der dezidiert die Meinung vertritt, dass Geschichte immer nur aus Wiederholungen besteht und keine großen Veränderungen, also individuellen Ereignisse, eintreten.

Dein Problem kann ich sehr gut verstehen: Oft genug stößt man in wissenschaftlichen Abhandlungen auf Behauptungen, die nicht belegt zu sein scheinen bzw. die man einfach nicht nachvollziehen kann oder gar überprüfen, da man Hintergrunddiskussionen, die zum Teil viele Dekade vor Publikation geführt wurde, nicht kennt und dann darüber verzweifelt, daß man nicht einmal Literaturhinweise findet.
Bist du bei deinen Recherchen schon auf den Namen Ernst Cassirer gestoßen und dessen Buch über Die Philosophie der Aufklärung (1932)? Wie später Friedrich Meinecke (Die Entstehung des Historismus) hat er herausgearbeitet, daß das historische Denken seine Grundlagen in der Aufklärungsphilosphie hat: "Die langsame und stetig-fortschreitende 'Eroberung der geschichtlichen Welt' gehört zu den großen Leistungen der Aufklärung." (Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S.225)

Bei Schnädelbach habe ich gelesen, daß Ranke besonders die Hegelsche Geschichtsphilosophie, wie später auch Burckhart und der übrige Historismus überhaupt, ablehnte (vgl. auch Historismus (Geschichtswissenschaft – Wikipedia). Insofern würde ich vorschlagen, dahingehend deine Fragestellung zu verschieben. Dazu hätte ich dann auch noch eine Literaturempfehlung: Heribert Schnädelbach, Geschichtsphilosphie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/ München: Karl Alber Verlag, 1974
 
Hallo Muspili,

oh, vielen, vielen Dank! Habe gerade schon ein bisschen bei deinen Link-Tipps nachgeschaut, das hilft mir auf jeden Fall weiter. Morgen (Montag) werde ich sicher mal Ernst Cassirer vornehmen, das was du dort geschrieben hast, hört sich sehr vielversprechend an.
Den Schnädelbach habe ich schon gelesen und fand seine Bemerkungen zu Ranke sehr hilfreich; auch bin ich von seinen Literaturangaben auf neue gestoßen, die sich dann aber leider auch nicht als fruchtbar erwiesen haben.

Du hast natürlich Recht, dass man das ganze Problem auch dahingehend verschieben könnte, dass Ranke einen Gegensatz in Hegel hat, für den die großen Ideen und Gedanken eine wichtige Rolle spielten und wo sich Geschichte immer noch unter einen alles umspannenden Überbau spannen ließ. Das ist natürlich auch ein Kontrast zum Individuellen von Ranke, aber halt doch irgendwie auch eine andere Betrachterebene. Nicht zuletzt gibt auch Ranke zu, dass es wohl so etwas wie einen "Weltgeist" geben muss (er nennt das halt anders), weil für ihn auch alle Geschehen irgendwie "zentral" gesteuert werden.

Vielleicht gibt es einfach jenen, in der Fachliteratur so vielfach angeführten Kontrast gar nicht (dass es nie dazu Fußnoten gibt, macht mich einfach stutzig). Ich vertiefe mich gerade in Machiavelli, da klappt es wohl ansatzweise.
Aber morgen nehme ich mir auf jeden Fall mal Cassirer vor. Dafür schon einmal vielen herzlichen Dank!

Gruß
Ron
 
Ich verstehe inzwischen das Problem:
Die erste Entwicklungslinie zeichnet Schröder in drei separaten Kapiteln (B., C., D.) zu Voltaire, d'Alembert und Friedrich II. überzeugend nach. Die beiden Franzosen vollzogen den Übergang von einer zyklischen zu einer fortschrittstheoretischen Geschichtsauffassung. So verstanden sie das "siècle des philosophes" (Voltaire) beziehungsweise das "siècle des lumières" (d'Alembert) nicht mehr als klassisches Blütezeitalter, sondern als neue Epoche, die sich durch den Kampf gegen Aberglauben und Fanatismus auszeichnete. Da sie bei der Suche nach einem Beschützer der Aufklärung ihre Hoffnung auf den preußischen König setzten, sprachen sie beide von einem "siècle de Frédéric". Der König selbst hielt dagegen an der zyklischen Geschichtsauffassung fest. Er sah im "siècle de Louis XIV" das vierte grosse klassische Zeitalter.

"...vollzogen den Übergang von einer zyklischen zu einer fortschrittstheoretischen Geschichtsauffassung.." Ja aber wo war denn diese "zyklische G."???

Aus: sehepunkte - Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften - 3 (2003), Nr. 5
 
Hallo deSilva,

ja, genau, das meine ich! Immer wird davon gesprochen und immer in dem Ton: "Wir wissen doch alle, was damit gemeint ist!". Das wissen wir auch, aber WO bitte könnte man denn mal einen literarischen Fundus dieses zyklischen Bildes finden? Wo gibt es einen Text, in dem der Autor dezidiert sagt (oder zumindest implizit), dass sich alles wiederholt, dass es kaum Neues in der Geschichte gibt und wir deshalb alle aus der Geschichte lernen können, weil ja alles wieder so abläuft, wie es schon einmal war.

Machiavelli ist da wirklich noch einer der evidentesten! Zwar muss man seinem Kreislauf (Anlehnung an Polybios) auch viele Formulierungen abringen, aber dort scheint es mir noch am "zyklischsten".

Dennoch scheint es irgendwo ein Loch zu geben, das alle achso zyklischen Auffassungen irgendwie verschluckt zu haben scheint...

:weinen:

Ron
 
Ich konnte es nicht lassen und habe noch ein bißchen recherchiert.
Auf dieser Seite Nikolai Jakowlewitsch Danilewski – Wikipedia

findet sich der Satz
Diese Zyklentheorie basiert auf einem idealtypischen Geschichtsbild, wie es bereits von Giambattista Vico formuliert wurde. Danach verläuft Geschichte ewig und ideal nach bestimmten Zeitabläufen, in denen die Geschichten aller „Völker“ eine Phase des Aufstieg, Fortschritts, Stillstands und Verfalls durchlaufen und enden.

Damit wäre dann etwa das gemeint (Giambattista Vico – Wikipedia):

Freudin Wiki P. schrieb:
In seiner Lebensbeschreibung [...] beschrieb [er] auch, wie ihm der Gedanke an ein Naturgesetz kam, das die Entwicklung des römischen Rechtswesens erklären kann. Von hier aus war der Schritt zu der Vorstellung von einem universell gültigen Naturgesetz bezüglich der Natur- und Kulturgeschichte nicht mehr weit. Dies wurde auch der Grundgedanke der Scienza Nuova, demzufolge eine „Philosophie und Philologie der Menschheit“ existiert, aus der sich eine unendliche Ideal-Geschichte ableitet, in die er die nationalen Historien eingebettet sah, eine jede mit ihrem spezifischen Aufstieg, mit Entwicklung, Kulmination und Abstieg.

Ansonsten kennst du vielleicht auch dieses Buch noch nicht:
Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung. München: Fink, 1980.
 
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