Das historische Poem (1): Skagerrak

jschmidt

Aktives Mitglied
Angesichts der zunehmenden "Action"-Lastigkeit dieses Forums - seit Monatsbeginn allein auf dem Kalkrieser Grabfeld 183 Beiträge! - sehe ich mich verpflichtet, die mehr kontemplative Richtung zu verstärken.

Deshalb eröffne ich hiermit die Diskussionreihe: "Das historische Poem", wobei mir Beispiele vorschweben, die man zur Mentalitätsgeschichte im weiteren Sinne zählen könnte. Den Anfang macht das folgende Werk, das möglicherweise schon älter ist, jedenfalls im Jahre 2000 in der Jubiläumsfestschrift einer benachbarten Marinekameradschaft veröffentlicht wurde. (Die Abschrift entspricht exakt dem Original!)
Einst war es Tag und in schimmernden Glanz lachte die Sonne hernieder
sie spielte in der Wellen Tanz sich leuchtend wieder und wieder.
Sie grüßte als sehnend erwartender Gast die Erde mit strahlender Miene
und glitt um die Flagge am ragenden Mast der Kaiserlichen Marine.

Einst war es Tag und es galt ein lockendes Spiel zu erjagen
durch die Winde frohlockendes Spiel die eherne Botschaft zu tragen.
Aus der Heimat wehrhaft umgürtendem Port weithin über Länder und Meere
von der deutschen, der heiligen Ehre.

So gingen die Jahre am Skagerrak ist die Stunde erschienen,
da hieß es, nahte der Tag der Heimat der fernen zu dienen.
Heut gilt es, ihr Brüder mit wagendem Mut für Deutschlands Ehre zu streiten.
Wir wollen mit unserem versöhnenden Blut der Zukunft die Wege bereiten.

Und das Werk gelang, trotz Wunden und Tod,
dicht umhüllt noch mit bläulichen Schwaden
grüßte vom Maste das schwarz, weiß und rot voll Ehrfurcht
die toten Kameraden. Doch es ward Nacht.

Weithin durch das Land jagte der Irrwahn die Schande
die Flagge sank kampflos am rheinischen Mast.
Und des Werbers tückische Bande umschnürte das Volk
das des Kampfes so früh für Deutschlands Ehre gestritten.

Da ist sterbend die Flotte bei Scapa Flow still in die Fluten geglitten.
Nun hält sie am Grunde des Meeres die Wacht,
in harrendem wortlosen Schweigen
bis die ersten Strahlen der leuchtenden Sonne sich zeigen.

Die künden, ihr träumenden Schläfer erwacht
noch einmal gilt es zu streiten.
Noch einmal gilt es zur Sonne des Sieges zu eilen.
Und klingt es nun wieder mit rauschendem Tone das herrliche, starke,

ICH DIENE.

Dann steigt mit dem Licht aus dem Dunkel empor:
Die alte, die Deutsche Marine.
Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Ich habe keinerlei Absicht, irgendwen zu denunzieren (etwa wie "die doofen Matrosen", hahaha). Was mich interessiert und z.T. auch fasziniert, sind Fragen wie: Was transportiert dieses Gedicht? Welche (historischen) Motive/Stoffe? Was ist das Ziel des Dichters? Warum wird er (mit diesem seinem Werk) noch im Jahre 2000 für publikationswürdig erachtet? usw.

Interpretationsfreiwillige vor!
 
Nach kürzester Recherche mal als Einstieg:

Das Gedicht bezieht sich offenbar auf den 1. Weltkrieg und riecht schon ziemlich nach Dolchstoßlegende.

Weithin durch das Land jagte der Irrwahn die Schande
die Flagge sank kampflos am rheinischen Mast.
Und des Werbers tückische Bande umschnürte das Volk
das des Kampfes so früh für Deutschlands Ehre gestritten.

Aud der See ist alles O.K. aber vom Land her droht der Verrat, der die Flagge, die eben noch voll Ehrfurcht die toten Kameraden grüßte (Oh Gott), kraftlos in sich zusammensinken lässt.

Was ist wohl mit dem "rheinischen Mast" gemeint ?

Da ist sterbend die Flotte bei Scapa Flow still in die Fluten geglitten.
Ich zitere mal Wikipedia

Nach dem Waffenstillstand wurden 74 Schiffe der deutschen Hochseeflotte in Scapa Flow interniert. Dort gab Konteradmiral Ludwig von Reuter am 21. Juni 1919 den Befehl zur Selbstversenkung der Flotte. Er vermutete, dass die deutsche Regierung den Friedensvertrag von Versailles nicht annehmen und deshalb am nächsten Tag wieder Kriegszustand herrschen würde. Die deutsche Flotte sollte den Briten nicht in die Hände fallen.
Scapa Flow ? Wikipedia

Die Frage, warum dieses Gedicht im Jahr 2000 veröffentlicht werden sollte, stelle ich mir auch. Kommentarlos und ohne Kontext finde ich das eher bedenklich. Vielleicht waren Mitglieder der Marinekameradschaft 1919 vor Ort, aber selbst dann...

EDIT:

Kein Autor genannt? Und kein Enstehungsjahr?
Das Ende des Gedichts legt mE Nähe zu den Nationalsozialisten und deren Kriegspropaganda nahe. Also 30er Jahre?
 
Zuletzt bearbeitet:
(a) Was ist wohl mit dem "rheinischen Mast" gemeint? (b) Kein Autor genannt? Und kein Enstehungsjahr?
Ganz kurz: (a) Kann sich auf Entstehungsgegend beziehen (Saarland als Teil des Rheinlands) oder auf die Separationsbestrebungen von Adenauer & Co. oder auf sonstwas. (b) Nein, leider. (Ich könnte beim Herausgeber nachfragen, mache ich aber erst zum Schluss.)
 
So gingen die Jahre am Skagerrak ist die Stunde erschienen,da hieß es, nahte der Tag der Heimat der fernen zu dienen.
Heut gilt es, ihr Brüder mit wagendem Mut für Deutschlands Ehre zu streiten.
Wir wollen mit unserem versöhnenden Blut der Zukunft die Wege bereiten.
"Der Tag" ist auch eine geläufige Bezeichnung innerhalb der Marine für das große Treffen mit der Grand Fleet. "Der Tag" war ebenso im Englischen geläufig, nicht etwa als Übersetzung. (Wolz, Nicolas: Das lange Warten - Kriegserfahrungen deutscher und britischer Seeoffiziere 1914-1918)

Und das Werk gelang, trotz Wunden und Tod,
dicht umhüllt noch mit bläulichen Schwaden
grüßte vom Maste das schwarz, weiß und rot voll Ehrfurcht
die toten Kameraden. Doch es ward Nacht.
Das ist der Mythos vom Sieg, ungeachtet der strategischen Niederlage.
Nacht ist hier doppeldeutig: verhindert den umfassenden deutschen Sieg und leitet zugleich über auf:


Weithin durch das Land jagte der Irrwahn die Schande
die Flagge sank kampflos am rheinischen Mast.
Und des Werbers tückische Bande umschnürte das Volk
das des Kampfes so früh für Deutschlands Ehre gestritten.
Hier schimmert die Dolchstoßlegende.
Einen "rheinischen Mast" gibt es mW nicht, ich würde es in Richtung von Wacht am Rhein deuten.

Da ist sterbend die Flotte bei Scapa Flow still in die Fluten geglitten.
Nun hält sie am Grunde des Meeres die Wacht,
in harrendem wortlosen Schweigen
bis die ersten Strahlen der leuchtenden Sonne sich zeigen.

Die künden, ihr träumenden Schläfer erwacht
noch einmal gilt es zu streiten.
Noch einmal gilt es zur Sonne des Sieges zu eilen.
Und klingt es nun wieder mit rauschendem Tone das herrliche, starke,
ICH DIENE.
Dann steigt mit dem Licht aus dem Dunkel empor:
Die alte, die Deutsche Marine.
Revisionismus.
 
Ist diese Ellipse Dein letztes Wort? :winke:
"Die Wacht am Grunde des Meeres" bzw. der "träumende Schläfer" - das ist ja nichts anderes als das Kyffhäuser-Motiv! Und so richtig mag ich mir Friedrich Rückert & Co. nicht als Revisionisten vorstellen.

Die "Wacht-am-Rhein"-Deutung finde ich ganz plausibel.
 
Ist diese Ellipse Dein letztes Wort? :winke:
Die "Wacht-am-Rhein"-Deutung finde ich ganz plausibel.

Nein, gestern hatte ich wenig Zeit. Sollte ein spontaner Eindruck sein.

Die beiden fett markierten Zeilen "noch einmal" + "steigt aus dem Dunkel empor" beziehen sich auf die Wiedergeburt der Flotte, "noch einmal zur Sonne des Sieges" mit einem starken Bezug zu den Briten. Ist denn das Entstehungsjahr bekannt?

Nach der "Wiedergeburt" würde ich auf 1935 ff., tippen, vielleicht sogar die Kriegsjahre (die Genehmigung zur "35%-Flotte" durch das Flottenabkommen). Die Skagerrakschlacht hatte in der öffentlichen Wahrnehmung einen hohen Stellenwert, hatte man doch "die Briten" taktisch geschlagen (den Rest mal ausgeblendet). Passend zum "Skagerrak-Tag":
Marine-Ehrenmal Laboe ? Wikipedia
 
noch ein Nachsatz wegen des Hinweises auf Laboe:

"Seine erste Sinngebung erhielt das Ehrenmal bei seiner Grundsteinlegung 1927. Diese stand noch ganz unter dem Einfluss der Geschehnisse des Ersten Weltkriegs. Die Niederlage Deutschlands und die von vielen Deutschen als Schmach empfundenen Bedingungen des Versailler Vertrages sowie die Hoffnung auf Rache spiegelten sich deutlich in der Widmung wider, ebenso das Ziel des Wiederaufbaus der Deutschen Flotte:
„Für deutsche Seemannsehr'
Für Deutschlands schwimmende Wehr
Für beider Wiederkehr“


Der Geist der Revanche, den diese Widmung in sich trägt, wurde auch bei der feierlichen Eröffnung des Ehrenmal-Komplexes 1936 von den Nationalsozialisten aufgegriffen und für die NS-Ideologie vereinnahmt."
Marine-Ehrenmal Laboe ? Wikipedia

Die Widmung (von Scheer angebracht) könnte man als Kurzfassung des Gedichts bezeichnen.


Was ist übrigens mit der Symbolik?
"Nun hält sie am Grunde des Meeres die Wacht,
in harrendem wortlosen Schweigen
bis die ersten Strahlen der leuchtenden Sonne sich zeigen.

Die künden, ihr träumenden Schläfer erwacht
noch einmal gilt es zu streiten.
Noch einmal gilt es zur Sonne des Sieges zu eilen."
 
Zuletzt bearbeitet:
OT: britische Gegenstücke aus ""Destroyers at Jutland"

The Verdicts (Jutland) 1916

NOT in the thick of the fight,
Not in the press of the odds,
Do the heroes come to their height,
Or we know the demi-gods.

That stands over till peace.
We can only perceive
Men returned from the seas,
Very grateful for leave.

They grant us sudden days
Snatched from their business of war;
But we are too close to appraise
What manner of men they are.

And, whether their names go down
With age-kept victories,
Or whether they battle and drown
Unreckoned, is hid from our eyes.

They are too near to be great,
But our children shall understand
When and how our fate
Was changed, and by whose hand.

Our children shall measure their worth.
We are content to be blind . . .
But we know that we walk on a new-born earth
With the saviours of mankind.



sowie "My Boy Jack", aus 1915, wird aber auch in Bezug zu Jutland gesetzt.

"HAVE you news of my boy Jack? "
Not this tide.
"When d'you think that he'll come back?"
Not with this wind blowing, and this tide.

"Has any one else had word of him?"
Not this tide.
For what is sunk will hardly swim,
Not with this wind blowing, and this tide.

"Oh, dear, what comfort can I find?"
None this tide,
Nor any tide,
Except he did not shame his kind---
Not even with that wind blowing, and that tide.

Then hold your head up all the more,
This tide,
And every tide;
Because he was the son you bore,
And gave to that wind blowing and that tide.
 
Was ist übrigens mit der Symbolik?
"Nun hält sie am Grunde des Meeres die Wacht,
in harrendem wortlosen Schweigen
bis die ersten Strahlen der leuchtenden Sonne sich zeigen.

Die künden, ihr träumenden Schläfer erwacht
noch einmal gilt es zu streiten.
Noch einmal gilt es zur Sonne des Sieges zu eilen."

Damit wird wohl das nasse Grab der Hochseeflotte Scapa Flow gemeint sein, denn im weitesten Sinne liegen deutsche Kriegsschiffe in einem britischen Stützpunkt, auch wenn Sie nur "schweigen".

Und es soll an dem Tag der Überführung der Hochseeflotte ein kalter und sonniger November gewesen sein und die Sonne strahlte den roten Felsen von Helgoland ein letztes mal, der Schiffe der kaiserlichen Marine.

Der Schläfer könnte auf die Verbindung des Erich Raeder zwischen der gesunkenen kaiserlichen Marine und der neuen Kriegsmarine hinweisen.
 
OT: britische Gegenstücke aus ""Destroyers at Jutland"
Sehr schön! Dazu folgende Assoziationen:

Etwas Gemeinsames zwischen "My boy Jack" und "Skagerrak" ist die Trauer, die sich aber auf Unterschiedliches bezieht: Rudyard Kipling trauert um einen Menschen aus Fleisch und Blut, nämlich um seinen Sohn Jack, der 1915 in Nordfrankreich getötet wurde. In "Verdict", auch von Kipling, ist es eine Mehrzahl von Menschen, die etwas Positives für - letzte Zeile - die Menschheit bewirkt haben. Unser deutscher Dichter X. [1] erwähnt zwar auch Menschen ("die toten Kameraden"), aber die Verdinglichung dominiert: Er grämt sich hauptsächlich um die "Kaiserliche Marine", die schimmernde Wehr.

Es ist bei Kipling nicht erkennbar, dass er eine Wiederholung der Ereignisse für wünschenswert hält. Das genau aber ist das ganze Trachten und Sehnen von X.: Nochmal alles auf Start - und dann gewinnen! Unter normalen Umständen nämlich, insbesondere wenn man sich "des Irrwahns" bzw. "des Werbers tückischer Bande" rechtzeitig entledigt, ist die Kombination von Blut und Eisen ("eherne Botschaft" und "versöhnendes Blut" - letzteres wohl auf die Nation bezogen) unbesiegbar.


[1] Gewiss kein hochrangiger; die Verse wirken z.T. seltsam verkrampft, und das Versmaß ist mir auch ein Rätsel.
 
Ja genau, die Trauer. Dieser Bezug nebst "tide" ist wohl auch der Grund, warum das aus anderer Ecke stammende "My Boy Jack" hier verwendet wurde.


@Köbis:
Ich hatte da Assoziationen mit dem Rheingold/Nibelungen, dem lauteren Gold in Form der Flotte. Ist aber vielleicht Quatsch und durch den "Rheinischen Mast" provoziert.


Noch ein britisches:

News of Jutland by Roma White June 3rd, 1916

The news had flashed throughout the land,
The night had dropped in dread -
What would the morrow's sunrise tell
Of England's mighty dead?
What homes were wrecked? What hearts were doomed
To bleed in sorrow's school!

At early morn I sought my friend,
The fisherman of Poole.
...

I shan't be gone? Not yet! I waits
Until I gets the call! -
If you'll come out, m'm, with the nets,
I'll promise you a haul!
You're safe with Jacob Matthews, m'm!
He's ne'er been called a fool
By any of the fisher-folk
The war has left in Poole!"

First World War.com - Prose & Poetry - The Muse in Arms - News of Jutland


Admiral Ronald A. Hopwood: The Old Way
...
Cried the Breeze: "They fought and followed in the old way,
For they raced to make a record all the while,
With a knot to veer and haul on, in the old way,
That had never even met the measured mile -
And the guns were making merry in the twilight.
That the enemy was victor may be true,
Still - he hurried into harbour - in the old way -
And I wondered if he'd ever heard of you."...


L Westwood: Mess 17, HMS Agincourt Jan 21, 1917

There is a gallant man o' war, the Agincourt by name -
Which played its part most nobly to uphold Britain's fame.
With a crew nigh thirteen hundred, all jack tars true and brave
In fair fight it fears no foe to meet upon the ocean's wave.

Its seamen, gunners and stokers too their part did nobly play
When the German fleet they met in the Jutland fight that day.
They had no fear of danger, each tried to do his bit
A most decisive victory from the enemy to wrest.
Agincourt, your gunfire was most remarkable and true -
As the projectiles form your turret guns the air went hurtling through
And compelled the battered enemy to the Kiel Canal to race -
Rightly they knew that all was lost if such gunfire they did face.

Had the atmosphere conditions not been so bad at Skagerrak
Of their fleet we knew few would ever have got back.
Victory was yours full well we knew since there you did remain
And patiently waited for the foe which ne'er came back again.
Though by luck they did escape you, your chance may come again
And we hope our honour you'll uphold as Nelson did of yore.

So carry on your ceaseless watch, the path of duty's plain,
You've added one more brilliant page to Britain's naval fame.
So the noble Agincourt our praise we now do give,
The part she played in Jutland in our memory aye will live.

So any of her gallant crew we pleased to meet will be
That we may hear your true account of their first fight at sea.
 
Zuletzt bearbeitet:
@Köbis:
Ich hatte da Assoziationen mit dem Rheingold/Nibelungen, dem lauteren Gold in Form der Flotte. Ist aber vielleicht Quatsch und durch den "Rheinischen Mast" provoziert.

Das kann natürlich auch sein, denn ich bin nicht so poetisch veranlagt, daher wird wohl eine Interpretation bei mir immer stark an das Tatsächliche angelehnt sein. Denn bei dem "rheinischen Mast" habe ich z.B. zuerst daran gedacht, daß schmidti sich vielleicht verschrieben hat und es soll eigendlich heißen "heimischen Mast".:pfeif:
 
Was ist übrigens mit der Symbolik?
"Nun hält sie am Grunde des Meeres die Wacht,
in harrendem wortlosen Schweigen
bis die ersten Strahlen der leuchtenden Sonne sich zeigen.

Die künden, ihr träumenden Schläfer erwacht
noch einmal gilt es zu streiten.
Noch einmal gilt es zur Sonne des Sieges zu eilen."


Mit dieser Strophe hatte auch ich spontan die Kyffhäusersage assoziiert. Ich war mir aber nicht sich, ob das nicht zu weit hergeholt ist. Das Motiv wird bestenfalls angedeutet, man kann es aber schlecht konkret am Text festmachen.

Zunächst werden die historischen Ereignisse umgedeutet. Das Versenken der Flotte, aus Angst sie könne den Briten in die Hände fallen, wird zu einer „Wacht“ umgedeutet. Wenn ich das richtig verstanden habe, beruhte das Versenken ja auf einer Fehleinschätzung. Dieser Fehler wird hier zu etwas Positivem umgedeutet und dazu mystisch ummäntelt.
Vielleicht lässt sich die „Wacht“ im Kontext des Gedichtes auch als „Mahnwache“ deuten.

Im Zusammenhang mit der Kyffhäusersage kam mir der Gedanke, ob die NS-Propaganda diese Sage nicht auch beansprucht und auf Hitler als „Heilbringer“ bezogen hat. Die Erwartungen an den Kaiser im Berg decken sich ja in etwa mir denen, die an Hitler herangetragen wurden. (Oder die er geweckt hat.)
Innerer Frieden und Wohlstand und, hier wichtiger, das Nachholen des versagten Sieges, Eroberung Jerusalems und Revision von Versailles.

Wer soll hier eigentlich mit wem versöhnt werden?
Soll das vergossene Blut die Deutschen untereinander versöhnen und in einem neuen Konflikt einen?

Wer ist mit dem Werber gemeint. Warum Singular und nicht Plural. Ist eine konkrete Person gemeint?

Ich muss J.Schmidt zustimmen. Ich halte das Gedicht auch formal für sehr dürftig. Das zeigt sich allein an dieser ausgelutschten Metaphorik von Tag und Nacht, Dunkelheit und Licht, gut und böse, die eigentlich das Rückgrad des Gedichts bildet.
Die „Sonne des Siegers“, könnte damit die Hakenkreuzflagge gemeint sein?
Das Hakenkreuz war ja ursprünglich Symbol für die Sonne, den Tag und den Sieg. Wie ich nachgelesen habe, gab es Meinungsverschiedenheiten, in welche Richtung die Strahlen deuten sollten. Hitler hat sich durchgesetzt, so dass das nationalsozialistische Hakenkreuz eigentlich Nacht und Untergang steht. Dennoch, wie bekannt war diese Symbolik? Wäre dem Verfasser eine solche Intention zuzutrauen, obwohl sie genau besehen nicht passt?
Etwas spitzfindig:
Die Hakenkreuzflagge der Marine unterschied sich von der üblichen:

Das Hakenkreuz auf der Rückseite der Nationalflagge war ebenfalls rechtsgerichtet, während es auf den zur See benutzten Flaggen „durchgefärbt“, d.h. linksgerichtet war

Flagge Deutschlands ? Wikipedia


Deshalb eröffne ich hiermit die Diskussionreihe: "Das historische Poem", wobei mir Beispiele vorschweben, die man zur Mentalitätsgeschichte im weiteren Sinne zählen könnte.

Was genau verstehst Du unter einem historischen Gedicht? Wenn man den Begriff googelt, stellt man fest, dass oft ein historisches, d.h. altes Gedicht gemeint ist.
Oder meinst Du ein Gedicht, dass historische Ereignisse thematisiert?
 
Zuletzt bearbeitet:
Was genau verstehst Du unter einem historischen Gedicht?
Nichts exakt zu Definierendes - das Werk sollte halt einen Beitrag dazu leisten, "die Einstellungen, Gedanken und Gefühle der Menschen einer Epoche, darzustellen und zu erklären" (Mentalitätsgeschichte ? Wikipedia). [1]

Wenn selbst Du ein Beispiel hast, nur heraus damit! (Am besten in einem separaten Thread als lfd. Nr. 2.:winke:)


[1] Ich gestehe, dass ich ein bißchen mit Halbwachs' Begriff der "mémoire collective" geliebäugelt habe: Das Gedicht sollte eine "soziale Konstruktion" ausdrücken, seine Verankerung im Gruppen- oder Volksgedächtnis deutlich werden lassen - und ein bißchen "Jux und Dollerei" war bei Thema-Kreation auch dabei. :rotwerd:
 
Ein kleiner Nachtrag zu der Sonnensymbolik der Hakenkreuzflagge:
Vielen Dank! Die Sonnensymbolik bietet natürlich mannigfache Einsatz- und Deutungsmöglichkeiten. Spontan zwei davon: Die übermenschlich-naturhafte Variante, die den Kampf (und letztlich Sieg) gegen die Mächte der Finsternis zeigt; die big-man-Variante eines Mannes, weiland Barbarossa genannt, der glanzvoll aufsteigt und kraft Genie und Willen alle Verhältnisse umwirft, eine Art von "profaner Soteriologie" sozusagen.

Vielleicht ist das der geeignete Moment, um die andere Frage in den Blick zu nehmen: Warum wird gerade dieses Gedicht im Jahre 2000 neu gedruckt? Dass irgendwo im Saarländischen ein Haufen revisionistischer Marinefans sich verschanzt hätte, ist zwar denkmöglich, aber realiter nicht der Fall.
 
Warum wird gerade dieses Gedicht im Jahre 2000 neu gedruckt?
Erste Antwort: Um überzeitlicher Werte willen!

Worunter zuerst die "Kameradschaft" zu verstehen ist, wie der Präsident des Deutschen Marinebundes in seinem Grußwort zur Festschrift schrieb, in der das Gedicht abgedruckt ist. Sie sei "das Band", um das "man uns allenthalben beneidet", und zwar "auch in einer Zeit ..., in der wir bisweilen, um [sic] Zweifel aus Unkenntnis, belächelt werden."

Es geht des Weiteren um "die Verbreitung maritimen Gedankenguts" - so schrieb in einem weiteren Grußwort der damalige Inspekteur der Bundesmarine, sozusagen in "amtlicher" Funktion.

Sind Kameradschaftsgedanke und maritimes Gedankengut unauflöslich mit all dem verbunden, was das Gedicht transportiert? Besteht ein Mangel an Identifikationsangeboten?
 
Sind Kameradschaftsgedanke und maritimes Gedankengut unauflöslich mit all dem verbunden, was das Gedicht transportiert? Besteht ein Mangel an Identifikationsangeboten?

Man muß solche "Gedanken" sicher mit dem fast jahrhundertalten deutschen Skagerrak-Mythos verbinden, den die Marine vom Märchen zur Verklärung hochgezogen hat.

Die vollständige (möglicherweise entscheidenden Beitrag leistende) strategische Niederlage wurde mit militärisch völlig sinnlosen taktischen Gegenrechnungen kaschiert, die krassen Führungsfehler von Scheer zum Meisterplan ausgedeutet.

Es besteht kein Mangel an Identifikationsangeboten, sondern es besteht offenbar der Bedarf einer damals überflüssigen und politisch hochriskanten Marine an romantisch verklärten Traditionslinien nach der Machart von Heimatfilmen.

In dem Sinne wäre es statt solcher Gedichtgedenken eher angebracht, den Gedenksaal in Laboe mit den netten kleinen Schiffsmodellen

- um den historischen Hintergrund der "Risikoflotte",
- die schnelle Flucht vom Skagerrak, bei der Scheer auch die zusammengeschossen und kampfunfähigen Schlachtkreuzer als Fehlerausgleich anbieten mußte und mit Glück heimbrachte,
- und die Selbstmordplanungen der Marine vom Oktober 1918

zu ergänzen.
 
Ich habe die Tage in einen Bericht des ZDF hineingeschaut, in dem es um die Sinnsuche der Bundeswehr ging. Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges muss sich der einzelen Soldat und die Organisation doch die Frage "wozu?" stellen. Was sind die Aufgaben? Wo ist die Bedrohung? Und mit welchen Mitteln sollte man ihr entgegentreten? – "Mit einer deutschen Flotte" wird da sicher nicht die erste Antwort sein.
Das Konstruieren solcher Traditionslinien und und Sinnsuche in einer verklärten Vergangenheit mag dem einen oder anderen über den eigenen Verlust an Sinn hinweghelfen.
 
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