Das projektierte russisch-britische Marineabkommen 1912/14

Schlafwandler I

Betrachtet man Clark im Detail,

- stellt er den bisherigen Forschungskonsens in Frage, die "langen Wege" und die "kurzen Wege" in den Weltkrieg zu unterscheiden.
- an diese Stelle rückt er die These von der "komplexen Interaktion", angebliche unbeherrschbare Krisendynamik und irrtümliche Eskalation, natürlich aufbauend auf politischen Fehlern, Missverständnissen, Zeitnot und falschen oder fehlenden Lageanalysen der Akteure (in der Kurzfassung = Schlafwandler).

Soweit, so gut.
Beispiel: Großbritannien. Auch von Clark unbestritten ist Großbritannien "im kurzen Weg" nicht direkt an der Kriseneskalation beteiligt gewesen. Die Verantwortung konzentriert er dann vielmehr auf fünf Vorgänge:

(Schlafwandler I: ) in Analogie zum Kalten Krieg: Großbritannien habe schlafwandelnd keine Politik der Stärke, keine klare Abschreckungspolitik gegen das Deutsche Reich betrieben, um klarzustellen, dass ein kontinentaler Krieg definitiv Großbritannien als Kriegsgegner des Deutschen Reiches bringen werde. Das Argument ist erstaunlich, wird es doch in Bezug auf Frankreich pervertiert: Frankreich habe eine glasklase Bündnispolitik betrieben, Russland inoffiziell beim Poincare-Beruch in Petersburg den Bestand des Bündnisses für den Ernstfall versichert, und das auch in der Juli-Krise dem Deutschen Reich nicht verschleiert. Was also bei Frankreich schlafwandelnd kriegstreibend gewertet wird, konvertiert zum Fehler-Vorwurf anderer Akteure.

Den logischen Widerspruch, eine (der deutschen Seite) offene Mäßigungspolitik gegen Frankreich zu betreiben (Klartext: den französisch-russischen Zweiverband aufzuweichen), und gleichzeitig eine harte Abschreckungspolitik gegenüber dem Deutschen Reich zu betreiben (das bisher vermiedene continental commitment), kann Clark nicht klären.

(Schlafwandler II: ) das Deutsche Reich sei über die Verhandlungen der Marinekonvention schlafwandelnd getäuscht worden. Abgesehen davon, dass folgende Probleme derzeit unbeantwortet sind:

Man mag weiter der Schlußfolgerung von Schröder folgen, dass dies Einfluß auf Bethmann-Hollwegs "Risikostrategie" hatte.

Zu bedenken ist, dass

1. der Nachweis fehlt, dass dieses verstärkend gewirkt hat. Tatsächlich gab es eine Instrumentalisierung des Vorganges, den Bethmann zur "Erklärung" auch gegenüber Dritten genutzt hat.

2. wo ist die politisch-militärische Wirkungsanalyse, wäre die Konvention tatsächlich zustande gekommen? Was hätte das an der deutschen Lage geändert, welche seestrategischen Gewichte verschoben, welche bekannten Konflikte zwischen GB und RUS gelöst? "Mehr" Einkreisung - unterstellt man mal diese Einschätzung als Treiber - hätte es ohnehin nicht gegeben.

3. Welche Rolle soll das für die (unterstellt ohnehin gegen GB angriffsunfähige) deutsche Hochseeflotte gespielt haben? Eine (defensive!) Wirkungsanalyse für deren Fähigkeit zur Blockade der Ostseezugänge selbst bei koordiniert russisch-britischem Vorgehen fehlt. Wieso rüstete dann Deutschland überhaupt russische Flottenneubauten aus, wenn doch diese Gefahr so drohend war?

4. wieso wäre dann der britisch-russische Interessenausgleich "verfestigt" worden? Die bestehenden massiven Konflikte im Mittleren Osten, die deutscherseits bestens bekannt waren, und auch in Form von Indiskretionen zuvor ausgenutzt worden sind (etwa hinsichtlich Gesprächen über Dardanellen, Persien, Bagdadbahn) wären dadurch nicht beseitigt worden.

5. Wieso soll diese Konvention überhaupt in der Lage sein, deutsche Optionen des Zugehens auf Großbritannien zu beseitigen oder auch nur zu schwächen? Noch 1911/12 zeigte man sich im Rüstungswettlauf halsstarrig. Sollte erst diese Konvention der Sargnagel auf den Rüstungswettlauf sein, wenn dieser doch aufgrund der bekannten britischen Neubauprogramme bis 1916 ohnehin verloren war, und sich die Risikokapazität der deutschen Flotte als Verhandlungspfand ohnehin als Illusion erwiesen hatte.

Die Fragen sind nicht nur von Clark unbeantwortet geblieben.

Übrigens ist auch die Kernfrage, warum die Marine-Supermacht Großbritannien eine Marinekonvention mit Russland braucht, wenn sie a) bereits eine mit Frankreich und b) einen Two-Power-Standard hat, der sowohl die Überlegenheit im Mittelmeer wie die in der Nordsee sichert. Diese Überlegenheit würde sich kurzfristig c) aufgrund der bestehenden, aufgelegten Neubauprogramme binnen 3 Jahren noch erheblich ausbauen.
Einzige Erklärung: man war von Russland erpreßbar (warum wohl?, und wo? und seid wann?). Deutsches Rätselraten??

(Schlafwandler III: ) schlägt sich die geplante Marinekonvention weder beim schlafwandelnden deutschen Generalstab noch bei der Marineleitung als Bedrohungsszenarion materiell nieder. Warum hat hier nicht helle Aufregung geherrscht?

(Schlafwandler IV: ) wäre die kommende Marinekonvention tatsächlich ernstgenommen worden: sind die Warnsignale von russisch-englischen Marinegesprächen genau das eingeforderte britische Abschreckungsverhalten, was Clark zu vermissen meint. Greift das Argument durch, war die "Risikopolitik" Bethmann-Hollwegs tatsächlich ein Vabanquespiel, denn die britisch-russische Annäherung war weiter demnach angeblich - konsequenterweise: - weiter gediehen als ein bloßer Interessenausgleich. Wie "behandelt" Clark diesen Widerspruch?

(Schlafwandler V: ) Wo ist die harsche deutsche Risikopolitik-Reaktion auf die unzweifelhaft wesentlich bedeutendere britisch-französische Konvention auszumachen, indem man sich seid 1912 die Flottenräume Mittelmeer und Nordsee aufteilte? Feststellbare Reaktion: Verbesserung des deutsch-britischen Verhältnisses 1913/14?

(Schlafwandler VI: ) Warum kein deutsches "Gegenangebot", waren doch (1.) die Beziehungen 1914 zu GB vor der Juli-Krise so entspannt wie nie seid 1905, (2.) das Flottenwettrüsten entschieden, (3.) die russisch-britischen Konflikte 1914 durch Liman-von-Sanders-Krise (wo sich GB der Unterstützung Russlands versagt hatte) und durch die Entwicklung in Persien verschärft.


Welche Antworten gibt Clark hierauf detailliert? Und: welche davon sind "neu"?
 
Thema militärischer Techniktransfer:

[...]Wieso rüstete dann Deutschland überhaupt russische Flottenneubauten aus, wenn doch diese Gefahr so drohend war?

Ich ziehe diese Frage jetzt mal hier raus, weil die Problematik der Gegenseitigen "Wirtschaftshilfe" beim Waffenexport- wie Import nicht nur die Beziehung Deutschland Russland betraf.
Aber mit Blick auf neue Interpretationen zum Ersten Weltkrieg ein wichtiger Punkt.

Weiter hier: => http://www.geschichtsforum.de/f62/k...r-im-1-weltkrieg-19205/index3.html#post707804
 
Da hast Du mich missverstanden. Es ging mir nicht um die Frage, wieso Lieferungen erfolgten oder wie man das im Vergleich zu anderen Mächten und Lieferbeziehungen bewerten muss.

Es ging bei diesem Punkt ausschließlich um die militärisch-politische Bewertung einer möglichen britisch-russischen Marinekonvention aus deutscher Sicht, und um die daraus laut Clark resultierenden Folgen.
 
Seit 1907 hatte sich einiges geändert. Großbritannien war im Juli 1914 nicht mehr in der Lage eine wirksame Gleichgewichtsstratgie zu fahren, denn man war viel zu sehr von Russlands Wohlwollen, ich wollte nicht sagen Gnade, in Asien abhängig geworden. Genannt seien hier nur Persien und Indien. Sasownow hat ja auch in der Julikrise Grey mit einer Bestandsgarantie für Indiens gewunken. Warum wohl?

Die deutsch-britischen Beziehungen waren gut wie lange nicht mehr, weil vor allem Bethmann seit der desaströsen 2.Marokkokrise auf Entspannung mit Großritannien setzte. Die Bagdabahnfrage, weshalb die Briten und auch die Russen hypernervös waren, wurde durch großen Entgegenkommen des Deutschen Reiches gelöst. Das Flottenthema wurde linksliegen gelassen, es wurde, wenn darüber gesprochen wurde, Stichwort Haldane Mission, ein einseitiges entgegenkommen Berlins erwartet. Mal davon abgesehen, das Tirpitz ein Betonkopf und Wilhelm unnachgiebig stur waren, waren Grey und Co. doch geradezu erleichtert, das Haldane gescheitert war. Diese Mission, die Grey nicht gewollt hat, musste ja geradezu von den gemäßgiten Kabinettsmitgliedern mit "Gewalt" durchgesetzt werden.

Man hatte schon so genügend in Petersburg und Paris zu erklären. Die britische Politik war stets bemüht durch Stikllhalten bei russischen Entgleisungen und Entgegenkommen, siehe Verhandlungen zur Marinekonvention, sich das russische Wohlwollen zu sichern, denn die eigenen imperialistischen Ziele, Sicherung des Empirer, und die innenpolitischen Ziele, sozialpolitischer Natur, war alles andere untergeordnet.

silesia schrieb:
Schlafwandler II: ) das Deutsche Reich sei über die Verhandlungen der Marinekonvention schlafwandelnd getäuscht worden. Abgesehen davon, dass folgende Probleme derzeit unbeantwortet sind:

Bethmann wurde von Grey mehrfach vorsätzlich und gezielt belogen.

Schlafwandler VI: ) Warum kein deutsches "Gegenangebot", waren doch (1.) die Beziehungen 1914 zu GB vor der Juli-Krise so entspannt wie nie seid 1905, (2.) das Flottenwettrüsten entschieden, (3.) die russisch-britischen Konflikte 1914 durch Liman-von-Sanders-Krise (wo sich GB der Unterstützung Russlands versagt hatte) und durch die Entwicklung in Persien verschärft.

Was für ein deutsches Gegenangebot hättest du im Auge? So eines, wie Haldane es vorgeschlagen hat? Das wäre dann erneut ein deutsches Nachgeben gewesen und London war nicht bereit etwas zu geben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Da hast Du mich missverstanden. Es ging mir nicht um die Frage, wieso Lieferungen erfolgten oder wie man das im Vergleich zu anderen Mächten und Lieferbeziehungen bewerten muss.

Es ging bei diesem Punkt ausschließlich um die militärisch-politische Bewertung einer möglichen britisch-russischen Marinekonvention aus deutscher Sicht, und um die daraus laut Clark resultierenden Folgen.

Ich denke, vielleicht nicht, daher habe ich meine eigentlichen Beitrag auch in ein anderes Thema verlagert ...
Aber macht mal schön hier weiter, ich finde Eure Beiträge zum Thema sehr interessant.
 
Die britische Erpressbarkeit hast Du so beschrieben, wie ich sie auch sehe.

Das Flottenthema wurde linksliegen gelassen, es wurde, wenn darüber gesprochen wurde, Stichwort Haldane Mission, ein einseitiges entgegenkommen Berlins erwartet. Mal davon abgesehen, das Tirpitz ein Betonkopf und Wilhelm unnachgiebig stur waren, waren Grey und Co. doch geradezu erleichtert, das Haldane gescheitert war. Diese Mission, die Grey nicht gewollt hat, musste ja geradezu von den gemäßgiten Kabinettsmitgliedern mit "Gewalt" durchgesetzt werden.

Das ist etwas komplizierter.

Die Vorstellung von Grey war vielmehr auf koloniale Zugeständnisse an Deutschland gerichtet, auf Basis der zutreffenden Lageanalyse, dass an eine deutscherseits freiwillige Einschränkung des Flottenbaus nicht zu denken war. Dieses koloniale Zugeständnis war in Grey Sicht auch ungefährlicher als ein Marinerüstungsabkommen, was erhebliche Irritationen in Frankreich auslösen würde (weshalb die französisch-britischen Marinegespräche auch als Kompensation zr Haldane-Mission zu sehen sind).

Wieder eine Gratwanderung: innenpolitisch waren die (links-)radikalen Flügel Gegner jeder Verständigung mit dem monarchistischen Deutschland, außenpolitisch war der Interessenausgleich zu Frankreich zu wahren, die Rüstung brachte erhebliche finanzpolitische Friktionen, die Royal Navy presste mit der Drohung der Aufgabe der Mittelmeerpräsenz, was wiederum im Foreign Office als verheerendes Signal an Russlands Politik im Mittleren Osten empfunden wurde. Und das sind nur die "Hauptstränge": jeden dieser Aspekte können wir komplexer machen und weiter aufbröseln.


Bethmann wurde von Grey mehrfach vorsätzlich und gezielt belogen.
Mal dahingestellt, dass das nichts Besonderes war, und Indiskretionen und Lügen auf dem langen Weg in den Krieg massenweise zu finden sind: Genau auf die Auswirkungen der oben skizzierten offenen Fragen: Einfluss auf Bethmanns Risiko-Strategie in der Juli-Krise 1914?

Dazu Schröders Schlusssatz:
"Die verratenen Marinegespräche jedoch als das entscheidende Motiv für die Reichsleitung darzustellen oder gar von einer Hauptursache der Auslösung des Ersten Weltkrieges zu sprechen, die man neben den Mord von Sarajewo zu stellen habe, erscheint angesichts der Gegenargumente übertrieben. Ursächliche Bedeutung im Sinne eines kausal wesentlichen Umstands, ohne den die deutsche Politik im Juli 1914 nicht gedacht werden kann, hatten die Marinegespräche nicht."

Das sie nicht kausal bedeutsam waren, heißt nun umgekehrt nicht, dass sie unbedeutend waren.

Damit rückt er aber im Forschungsstand deutlich von der älteren Position von Hölzl ab (die These ist ja an sich nichts Neues).

Und vor diesem Hintergrund wird die Risikopolitik völlig unverständlich:

"Dem deutschen Botschafter in London Max Lichnowsky wurde am 3. Dezember 1912 durch den britischen Lord Haldane im Auftrag des Foreign Office mitgeteilt, dass „England … daher unter keinen Umständen eine Niederwerfung der Franzosen dulden [werde] können. … Sollte also Deutschland durch Österreich in den Zwist hineingezogen werden, und dadurch in Krieg mit Frankreich geraten, so würden in England Strömungen entstehen, denen keine Regierung widerstehen könnte und deren Folgen ganz unberechenbar wären. … “ Siehe Lichnowsky: an Bethmann Hollweg (mit Randbemerkungen Wilhelms II.): Haldanes Warnung vor englischem Kriegseintritt, abgedruckt in Hölzle: Quellen zur Entstehung des Ersten Weltkrieges, S. 106 – 108.


Was für ein deutsches Gegenangebot hättest du im Auge? So eines, wie Haldane es vorgeschlagen hat? Das wäre dann erneut ein deutsches Nachgeben gewesen und London war nicht bereit etwas zu geben.
Siehe die klare Botschaft an Lichnowsky oben, ein paar Monate später. Die deutsche Forderung auf "absolute Neutralität" Großbrtitanniens in jeder kontinentalen Konfrontation war wegen des Drucks auf Großbritanniens durch Frankreich und Russland in der kolonialen Peripherie weltfremd.

Das alternative Angebot des Deutschen Reichs - statt "freie Hand auf dem Kontinent" - wäre weiterer Spannungsabbau gewesen, und für das Deutsche Reich leicht bezahlbar (Verzicht auf den Marine-Rüstungswettlauf mit Großbritannien, wobei eine angemessene deutsche Restflotte, die locker für Frankreich und die Ostsee gereicht hätte, nicht einmal zur Disposition stand). Ein gewieft taktierender deutscher Außenpolitiker hätte sich dann noch wegen des Umstands die Hände gerieben, dass der von Großbritannien weggenommene Druck der Marinekonfrontation GB/DR erhebliche Konfrontationschancen zwischen GB/RUS ergeben hätte.

Die Alternative war allerdings mit den gegebenen Verhältnissen und Machtstrukturen im Deutschen Reich nicht zu machen.

Die Schlüsselfragen oben in #121 sind damit natürlich nicht beantwortet.
 
silesia schrieb:
Die Vorstellung von Grey war vielmehr auf koloniale Zugeständnisse an Deutschland gerichtet, auf Basis der zutreffenden Lageanalyse, dass an eine deutscherseits freiwillige Einschränkung des Flottenbaus nicht zu denken war. Dieses koloniale Zugeständnis war in Grey Sicht auch ungefährlicher als ein Marinerüstungsabkommen, was erhebliche Irritationen in Frankreich auslösen würde (weshalb die französisch-britischen Marinegespräche auch als Kompensation zr Haldane-Mission zu sehen sind).

Diese Vorstellung hat er aber M.W. nach nicht ventiliert bzw. Haldane hatte diese bei seinen Sondierungen in Berlin auch nicht genannt gehabt.

Wieder eine Gratwanderung: innenpolitisch waren die (links-)radikalen Flügel Gegner jeder Verständigung mit dem monarchistischen Deutschland, außenpolitisch war der Interessenausgleich zu Frankreich zu wahren, die Rüstung brachte erhebliche finanzpolitische Friktionen, die Royal Navy presste mit der Drohung der Aufgabe der Mittelmeerpräsenz, was wiederum im Foreign Office als verheerendes Signal an Russlands Politik im Mittleren Osten empfunden wurde. Und das sind nur die "Hauptstränge": jeden dieser Aspekte können wir komplexer machen und weiter aufbröseln.

Die innenpolitische Situation in Großbritannien war schon "merkwürdig". Grey fand eher bei dem politischen Gegner, den Konservativen, als in seiner eigenen Partei Unterstützung für seinen außenpolitischen Kurs. Der "Schmusekurs" gegenüber Russland stand in der Kritik und es wurde von vielen Liberalen eben auch eine Annäherung an Deutschland gefordertet, allein schon um das ruinöse Wettrüsten zu beenden. Grey wollte dies eigentlich nicht, denn für ihn war die oberste Prämisse die Triple Entente; nichts ging bei ihm ohne diese.

Mal dahingestellt, dass das nichts Besonderes war, und Indiskretionen und Lügen auf dem langen Weg in den Krieg massenweise zu finden sind: Genau auf die Auswirkungen der oben skizzierten offenen Fragen: Einfluss auf Bethmanns Risiko-Strategie in der Juli-Krise 1914?
Dadurch wird es auch nicht besser und du wirst mir sicher zustimmen, dass das gewisse keine vertrauensbildene Maßnahme gegenüber Betthmann, der ja nun wirklich sehr um Entspannung bemüht war, war. Aber es war ja nicht das erste Mal, das Grey seine liebe Mühe mit der Wahrheit hatte.
 
McMeekin/July 1914 zu den Flottengesprächen

„German newspapers, led by the Berliner Tageblatt, had gotten wind of ongoing naval talks between Britain and Russia, which they used to trumpet the nightmare of encirclement: the idea was that the British and Russian navies might team up against Germany’s Baltic fleet. Germany’s chancellor, Theobald von Bethmann Hollweg, had issued a formal protest to London, via his ambassador, Prince Karl Max Lichnowsky, on 24 June. Bethmann, whose entire foreign policy hinged
on rapprochement with Britain—he saw this as a “question of life and death for Germany”—was obviously disturbed. So was Grey when he learned how upset the Germans were. In conversation with Lichnowsky, Grey dismissed the rumors about an Anglo-Russian naval convention, pointing out that Britain had no formal alliance “committing us to action” with either France or Russia, although he conceded that “we did from time to time talk as intimately as Allies.” This “intimacy” was, Grey insisted, absolutely “not used for aggression against Germany.” Lichnowsky, a notorious Anglophile, “cordially endorsed” Grey’s suspiciously vague assurance, but it was an open question whether less Anglophilic statesmen in Berlin would do so.11“*

[Fußnote 11] Grey to Goschen, 24 June 1914, reproduced in Grey, vol. 1, 294. “Question of life and death for Germany”: Jarausch, 156.*

„Much the same could be said of the Anglo-Russian naval talks. Despite German fears, discussions of joint maneuvers had, by June 1914, barely gotten off the ground, which is why Grey felt no need to enlighten Lichnowsky about them. And yet serious naval talks were indeed afoot that spring between London and St. Petersburg—not about Russia’s Baltic fleet but about her Black Sea fleet. With their own Black Sea dreadnoughts-under-construction nowhere near completion, the Russians were terrified that the Turks were about to float their own state-of-the-art British dreadnoughts in the Bosphorus, which would effectively rule out any future Russian attempt to seize Constantinople and the Straits. Just as Germans like Liman von Sanders were helping train the Ottoman army, a British mission under Admiral Sir Arthur Limpus was modernizing the Turkish navy. Skeleton crews were being trained to take over the first British-built dreadnought, scheduled to reach Ottoman territorial waters in July. This was the Sultan Osman I, which would mount more guns than any ship ever afloat—13.5-inch guns that were larger, faster-firing, and more accurate than the Russians’ 12-inchers. And the inferior Russian dreadnoughts would not be completed before 1916, giving the Turks nearly two years to assert their dominance over a Russian Black Sea fleet rendered obsolete by the Sultan Osman I. Small wonder that Sazonov, via Russia’s ambassador to Britain, Count Benckendorff, was requesting that the British government block, or at least delay, delivery of the Sultan Osman I—the first of no less than four dreadnoughts that British yards were building for the Ottoman navy.“*

[es folgt die häufig von McMeekin angewendete Methode, das Fehlen von Hinweisen - hier bzgl. Grey und Churchill in der Nachkriegspublikation - dann als Grundlage für die außerordentliche Relevanz der Thematik - Marinekonvention - zu unterstellen]

Zitate zu diesen Textstellen bei McMeekin mit Bezug zum Forschungsstand Marinekonvention: Null [deshalb ist hier auch nichts anzufügen]

Falls jemand Hinweise auf ergänzende Textstellen zu dieser Thematik bei McMeekin hat, bitte anfügen.

*Auszug aus: McMeekin, Sean. „July 1914: Countdown to War.“

Kommentar zu den Aussagen folgt.
 
Um McMeekin zu ergänzen, hier die Einbindung bei Münkler, der sie zur fundamentalen Grundlage seines gerafften Überblicks um Kriegsausbruch macht:

Münkler, Der Große Krieg - Die Welt 1914-18
"Der Zeitdruck, unter dem sich die Mittelmächte sahen, wurde im Frühjahr 1914 durch Gespräche über eine britisch-russische Marinekonvention noch einmal erhöht, von denen die deutsche Seite durch einen in der russischen Botschaft in London platzierten Agenten erfuhr. In diesen Verhandlungen, die britischen Gepflogenheiten entsprechend nicht in einen formellen Vertrag, sondern in einen Briefwechsel der Regierungen mit gegenseitigen Absichtserklärungen münden sollten, ging es um die Aufteilung maritimer Interessensphären und das Zusammenwirken der Seestreitkräfte in einem möglichen Krieg gegen Deutschland. In Berlin war man sich über die Brisanz einer solchen Konvention im Klaren und versuchte, über verschiedene Kanäle auf London einzuwirken, die Gespräche abzubrechen, da sie vitale deutsche Interessen gefährdeten. Der britische Außenminister Edward Grey bestritt jedoch kategorisch, dass solche Verhandlungen überhaupt geführt wurden. Die Folge war ein dramatischer Vertrauensverlust der deutschen Politik in die Aufrichtigkeit der Briten. Insbesondere schwächte dies Bethmann Hollwegs Bereitschaft, Moltkes Präventivkriegsvorstellungen entgegenzutreten. Bisher hatte der Reichskanzler darauf verweisen können, durch die von ihm eingeleitete Entspannungspolitik sei eine Achse zwischen Berlin und London entstanden, die ein Gegengewicht zu den bestehenden Militärbündnissen darstelle und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges vermindere. Jedenfalls sei es für Deutschland viel ungünstiger, die Briten durch einen Präventivkrieg gegen Russland und Frankreich in die Front gegen Deutschland zu treiben, als sie gegenüber Russland und Frankreich auf Distanz zu bringen und so das europäische Kräftegleichgewicht wiederherzustellen. Außerdem hatte Bethmann Hollweg auf die in London wachsende Einsicht gesetzt, dass nicht Deutschland, sondern Russland die eigentliche Gefahr für das britische Empire darstelle. Ersatzweise konnte er darauf verweisen, die Entspannung im deutsch-britischen Verhältnis habe die Bereitschaft der Russen gefördert, ihr Bündnis mit Frankreich zu lockern und sich Deutschland anzunähern. Beide Argumentationslinien waren mit den britisch-russischen Gesprächen hinfällig geworden."


Sowie in den Fußnoten:


"147 Für eine ausführliche Erörterung der britisch-russischen Gespräche vgl. Rauh, «Die britisch-russische Marinekonvention», S. 40ff. Man muss Rauhs These von der russischen Kriegsabsicht im Hintergrund dieser Gespräche nicht teilen, um die fundamentale Bedeutung dieser Gespräche anzuerkennen.

148 In der Forschung ist die Bedeutung dieser Gespräche zumeist heruntergespielt worden; als Ausnahmen sind nur Rothfels («Die englisch-russischen Verhandlungen») und Hölzle (Der Geheimnisverrat und der Kriegsausbruch) zu nennen. Die Gespräche über eine Marinekonvention zwischen St. Petersburg und London deuteten jedoch eine grundlegende Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen Mittelmächten und Triple Entente an, und sie erhöhten den Zeitdruck, unter den sich die deutsche und die österreichisch-ungarische Seite gesetzt glaubte.

149 Genau das war für die Briten der Grund, sich auf die Gespräche über eine Marinekonvention mit den Russen einzulassen: Man fürchtete, Russland könnte sich Deutschland annähern und mit ihm einen Kontinentalblock bilden, der Europa beherrschte und die Briten an den Rand drängte; vgl. Rauh, «Die britisch-russische Marinekonvention», S. 46ff. Das «europäische Sicherheitsdilemma» (Hildebrand) resultierte nicht bloß aus der Konfrontation der beiden Blöcke, sondern auch aus dem Misstrauen innerhalb beider Bündnisse hinsichtlich der Ziele und Absichten der Partner."


Die gesamte Passage stützt sich auf den umstrittenen Historiker Manfred Rauh, hier schon Gegenstand im Forum, mit seiner Darstellung in den MGM 1987, sowie auf die beiden überholten Forschungsarbeiten von Rothfeld und Hölzl.

Der aktuelle und zu dieser Thematik speziell ausgerichtete Forschungsstand (deutschsprachig Schröder, sowie die diverse Standardliteratur zur britischen Seite) wird von Münkler komplett übergangen. Die aktuelle Grundlagenliteratur findet sich nicht einmal im Literaturverzeichnis von Münkler.

Anmerkungen zum Inhalt folgen.

[In den Beiträgen #121, 128 und 129 finden sich nun die zentralen Darlegungen von Clark, McMeekin und Münkler.]
 
Zuletzt bearbeitet:
Ergänzender Hinweis: Der Text befindet sich bei Münkler auf den Seiten 92 und 93.

Ich kann da noch nichts zu sagen. Das Werk steht hier bei mir, wie so enige andere auch, aber ich habe es noch nicht geschafft es zu lesen.. Aber es ist schon komisch, das Stephan Schröders Standardwerk "Die englische-russische Marinekonvention mit seinen knapp 800 Seiten nicht zu Rate gezogen wird und dafür der umstrittene Rauh.
 
Zuletzt bearbeitet:
Habe gerade einmal flüchtig das Werk von Jörn Leonhard durchgeblättert und es scheint so, das dort die Marinegespräche nicht thematisiert worden sind.
 
Ich kann da noch nichts zu sagen. Das Werk steht hier bei mir, wie so enige andere auch, aber ich habe es noch nicht geschafft es zu lesen.. Aber es ist schon komisch, das Stephan Schröders Standardwerk "Die englische-russische Marinekonvention mit seinen knapp 800 Seiten nicht zu Rate gezogen wird und dafür der umstrittene Rauh.

Es ist ja noch schlimmer: Schröder hat dezidiert den Nachweis geführt, dass Rauh in allen entscheidenden Aussagen ohne Quellennachweis bleibt, und hat logischerweise seinen - vorsichtig ausgedrückt - tendenziösen Schlussfolgerungen und Mutmaßungen widersprochen.

Das ist schon mal die Basis, der wir noch die nicht-deutschsprachige Forschung anfügen können, die diese Zerlegung von Rauh bestätigt.

Hinzu kommen die oben formulierten offenen Punkte bei Schröder, die Antworten erfordern (siehe #121).

Aber man sollte trotzdem noch auf Münkler und McMeekin eingehen.
 
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