Der "Wilhelminische Baustil" - Baukunst oder nicht?

Dem kann ich mich gleich anschließen!

Irreführend für die Beurteilung der Zeit zwischen 1850 und 1900 ist, dass man zunächst versucht hat, die Kunst dieser Epoche von einem distanzierten und ironischen Standpunkt her zu bewältigen. Es erübrigt sich ausdrücklich zu erwähnen, dass dieser Ansazu zu keinem befriedigenden Ergebnis führen konnte und den Weg zu einem positiven Verständnis nur erschweren musste.

Die Sicht aus diesen Vorurteilen heraus hat dieser Zeit sehr geschadet und die eigentlichen Zusammenhänge weiter ins Ominöse gedrängt. Selbst große Verlage wagten sich an diesen Zeitraum nur mit Beiträgen unter dem Gesichtspunkt "bürgerlicher Kitsch". Dabei blieb aber immer ein Gefühl der Verlegenheit haften.

Mag manches für unsere heutigen Augen in der Tat kitschig erscheinen, wird die "Kitschsicht" den guten Produkten dieser Zeit nur ungenügend und vordergründig gerecht.

Im Historismus und der Gründerzeitkunst formuliert sich zweifellos ein bürgerliches Bildungsbewusstsein, das einem ganz bestimmten Begriff von "Kunst" verhaftet ist, der nicht nur die Künstler, sondern auch die Industrie, die Architekten und Ingenieure nötigt Künst zu machen, die vor dem Maßstab der bürgerlichen Geschichts- und Stilauffassung bestehen können muss. Dass es dabei oft bei Imitationen von Kunst blieb, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden.

Um zu einem richtigen Verständnis zu kommen, muss die Ideengeschichte, die sich in den Zeugnissen der Zeit wie Gebäuden, Gemälden und Möbeln niederschlägt, als Grundlage für eine Würdigung der besten Lösungen berücksichtigt werden. Wissenschaftliche Forschungsbeiträge, die von der Thyssen-Stiftung getragen werden, beginnen inzwischen dieses objektivere und zutreffendere Bild des 19. Jahrhunderts zu entwickeln.

Akzepzieren wir einmal, dass Historismus und Gründerzeitkunst eine ganz bestimmte bürgerliche Prägung von ihren Auftraggebern her erfahren haben, respektieren wir auch ihren kulturgeschichtlichen Ehrgeiz und lernen die Fähigkeiten einiger Künstler schätzen, die diese schwierige Aufgabe dennoch meistern konnten und echte Kunstwerke hinterlassen haben.

Die Pariser Grande Opéra von Charles Garnier und die Dresdner Semper-Oper sind zwei glückliche Beispiele für eine geniale Lösung dieser Anforderungen. Virtuos vereinigen sich die Stilerwartungen in diesen Gebäuden mit den Anforderungen modernen Ingenieurbaus. Die Opernhäuser sind funktional und zeitgemäß in der Konstruktion, in geschmacklicher Hinsicht angemessen pompös - Garnier mehr als Semper - und für die Zeit und ihren Zweck hervorragend gelöst.
 
Nun ja,Semper ,Garnier und Hansen waren sicherlich die Spitzenarchitekten der Epoche,
und das,was sie machten ,war handwerkliche Spitzenleistung, aber was Neues ,Eigenes vermag ich auch hier kaum zu entdecken.
Die Maximilianstraße in München und ähnliche Ensembles aus der Epoche beeindrucken eher durch ihre städtebauliche Geschlossenheit als durch die Originalität und Formensprache ihrer Einzelobjekte .Das ist allerdings der Epoche geschuldet,in der sich im Prinzip das Pariser Modell Hausmannscher Stadtplanung erstmals flächendeckend durchsetzte und auch die technischen und ökonomischen Möglichkeiten in großem Stil dazu gegeben waren.
 
Lieber Zaphod, du bist nicht zu überzeugen - und das muss ja auch nicht sein. Ich empfehle Dir (falls sich die Gelegenheit mal bieten sollte) den Katalog der Ausstellung "Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa." anzuschauen. Diese große Ausstellung des Europarat im Wiener Künstlerhaus 96/97 (ich habs damals gesehen und mir auch den Katalog gekauft) stand mit am Anfang einer künstlerischen Neubewertung bzw. wissenschaftlichen Erforschung der Epoche.
 
Danke für den Tip, werde ich mir besorgen.:)
Wir gehen bei dem Thema schlicht von unterschiedlichen Ansätzen aus.
Ich bestreite ja nicht,daß da ab und an was Schönes,handwerklich Gutes geschaffen wurde.Aber das Schöne,Gute allein reicht mir halt nicht, um einen Stil zu definieren..;)
 
I
....Öffentliche Architektur ist immer Repräsentationsarchitektur. Der Auftraggeber Staat möchte damit etwas ausdrücken, allen zeigen wie er sich selbst sieht, wie er gesehen werden möchte. Ganz bewusst werden dabei Formen, Materialien, Säulenformen, Dekorationselemente usw. eingesetzt. Man möchte damit ein Statement abgeben, jedem klar machen, mit wem der Betrachter es zu tun hat.....


.....das ist sicher das zentrale Anliegen der Auftraggeber ab 1870 im neuen dt. Kaiserreich . Mit wem hat man es aber zu tun..? Man baut Museen, Opern ..überhaupt die Bildungseinrichtungen gern im griechisch-neoklass. Stil, die neuen Großbanken der Gründerjahre gern in Neorenaissace, wie auch Bürgerhäuser und Bildungseinrichtungen wie Opern...etc.im späten Historismus, wo die Neorennaissance ihre stärkste Wirkung erfährt.
Die an den florentinisch-republik. Stil der "echten" Rennaissance angelehnte Stil propagiert im wilhelmin.Baustil unbedingt auch die dahinterliegende Absicht, da Architektur immer sichtbare , gebaute Philosophie ist.
Das neue dt. 2.Kaiserreich stiftet sich sichtbare Identität auf dem Feld der Architektur in Anlehnung an das 1.röm.-dt.Kaiserreich mit seinen roman.-byzant. Formen aus der roman.-otton. Zeit der 1. ostfränk. Reichsgründung im 10.Jahrh. und setzt sich in dessen Kontinuität, die seit 1806 unterbrochen ist und nun wiedergegründet wird, es sind ab 1870 also auch "Gründerjahre" aus dem Geist der Gründungsjahre des 10. Jahrh. in stilist. Hinsicht.
Der humanistische Geist - 1. der griechischen Antike,
2. der republikanische der ital. Rennaissance sollen etwas stiften, was noch gar nicht da ist; Identität eines Reiches, dessen Volk trotz Reichsverfassung , wenn -oder weil bismarckscher Prägung, Demokratie weder erfahren , noch wirklich ausgeübt hat ,oder bisher kann. Demokraten fehlen noch in der Weimarer Republik.
Die Alltagswahrheit der Bürger und vorallem des enorm angewachsenen Proletariats kann besichtigt werden in der Kunst Käthe Kollwitz und Max Klingers ( graph. Zyklen: Ein Leben, Dramen-Eine Liebe ), welche die Betroffenen der wilhelmin. Ära darstellen und deren Lebensrealität sich an den heren "identitätsstiftenden " Musentempeln reibt, in denen dem Akademismus verpflichtende "Künstler " in hohem Maße großartige und künstl. wertvolle Meister in die Archivkeller verbannt haben.
Ein Beispiel:
"Allgemeine Aufmerksamkeit zog Käthe Kollwitz erstmalig durch die Teilnahme an der Großen Berliner Kunstausstellung 1898 auf sich, wo sie die ersten Blätter ihrer Radierfolge „Ein Weberaufstand“ zeigte. Adolph Menzel war davon so beeindruckt, dass er die junge Künstlerin noch im selben Jahr zur kleinen goldenen Medaille vorschlug. Dies wurde jedoch von Kaiser Wilhelm II. abgelehnt; er bezeichnete ihre sozialkritischen Arbeiten als Rinnsteinkunst, sie standen in krassem Widerspruch zum damals bevorzugten Historismus und der großbürgerlichen Salonmalerei.

Nimmt man die Metapher von der Architektur als sichtbare Philosophie ernst, so bleibt es halt nicht beim Bewundern der teils ganz schönen Bauten des späten Historismus ab 1870, um den es hier ja gehen soll, sondern auch um Ambivalenz zur Realität eines Reiches, eines Stils, der in seinen Salons viel Talmi, falsche Palmen sieht, sich der griechisch-humanist.oder republikan. Formen vorallem bedient, ohne sie zu füllen, eine großbürgerl. Doppelmoral nur umbaut ...
Immerhin ist der Staub auf den unzähligen Simsen der wilhelmin. Bauten und Fassaden ganz echt......:putzen:
 
Direkt ggü. dem Palais du Rhin liegt die Universitätsbibliothek der Universität Straßburg. Als ich mir das Gebäude 2002 von außen angeschaut habe, dachte ich, den "kleinen Bruder" des Reichstag in Berlin vor mir zu haben. Beeindruckend ist, daß die Kuppel der Universitätsbibliothek im Gegensatz zum großen Bruder in Berlin wohl noch im Original erhalten ist.

Weitere interessante Bauten findet man in den anderen großen Städten von Elsaß-Lothringen. Der Bahnhof von Metz wirkt sehr martialisch mit seinen riesigen Ritterfiguren an der Seite (wirkt wie eine Kulisse für "Herr der Ringe).


Ein Artikel über Straßburgs wilhelminisches Architekturerbe mit zahlreichen Abbildungen:

Straßburgs "Neustadt"will Unesco-Weltkulturerbe werden - SPIEGEL ONLINE

Der Stadtrat von Straßburg hat einen Antrag bei der UNESCO gestellt, die Bauensemble aus der Zeit des Reichslandes 1871 - 1918 als Teil des Weltkulturerbes anzuerkennen.

Das entsprechende Pendant in Metz (Quartier Impérial) ist ebenso bei der UNESCO eingetragen worden:

https://fr.wikipedia.org/wiki/Quartier_impérial_de_Metz#Reconnaissance
 
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