Deutsche Juden im ersten Weltkrieg

Ich habe schon mehrmals Aussagen deutscher Juden gelesen, die Deutschland als von den Nazis okkupiert ansahen.
Für sie war ihr Vaterland und die Deutsche Kultur mehr oder minder unabhängig von der damaligen Diktatur und Politik.
Eine Tragik sondergleichen, das man gerade ihnen das Deutschsein absprach.
 
@ Corto: Ja es hatte eine Form von Assimilation stattgefunden, die kulturell geprägt war und eine tiefe Verwurzelung gerade der überdurchschnittlich gebildeten jüdischen Bevölkerung in die deutsche Kultur beinhaltete. Jenseits von der tiefen Enttäuschung, die die jüdisch-deutschen Patrioten angesicht der "Judenzählung" verspürt hatten.

Verstärkt wurde diese Haltung der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis durch die Zuwanderung eher armer, schlecht gebildeter stark orthodoxer Juden aus dem Osten.

Nicht zuletzt die soziale Abgrenzung gegen die "jüdische Unterschicht" verstärkte noch das Gefühl der sozialen und kulturellen Integration, jenseits von der politischen Dissimilation
 
Die Frage der Assimilation der Deutschen mit einem jüdischen Glaubensbekenntnis kann an dem Beispiel der „Judenzählung“ des preußischen Kriegsministeriums verdeutlicht werden. Gleichzeitig ist aber vor einer Generalisierung zu warnen, da der spezifische Antisemitismus in Preußen keine Entsprechung beispielsweise in Bayern gefunden hat. Und es ist auch deutlich zu machen, dass beispielsweise in der kuk-Armee von Ö-U diese extremen Formen der religiösen Ausgrenzung nicht in diesem Umfang praktiziert worden sind. Die aggressive Form der Antisemitismus ist besonders in Preußen, vor allem aus dem Umfeld der radikalen Nationalisten, den „Alldeutschen“, ausgeprägt gewesen. Wenngleich auch Teile des politischen Katholizismus, das Zentrum, dem jüdischen Glauben skeptisch gegenüber standen.

Für die Einordnung der Situation der Deutschen mit einem jüdischen Glaubensbekenntnis oder mit einer jüdischen Herkunft kann man unterschiedliche Phase unterscheiden. 1. Phase umfaßt die Vorkriegszeit bis Juli 1914 Die zweite Phase beginnt mit den „Balkonreden“ von KW II., in denen er nur noch Deutsche kennt und sie kennzeichnen den Beginn des „Burgfriedens“. 3. Phase beginnt im Herbst 1914 mit der Suche nach Gründen bzw. Schuldigen und dem Aufkündigen des Burgfriedens durch die extreme nationalistische Rechte. In diese Phase fällt auch die Durchführung der „Judenzählung“ 4. Phase kann man ungefähr auf die Periode des Zusammenbruchs der Fronten datieren und der Benennung einer jüdisch marxistischen Verschwörung in der Form der „Novemberverbrechen“.

Im Deutschen Kaiserreich gab es einen weit verbreiteten Antisemtismus (vgl. Nipperdey, S. 289ff) Und 1914 gab es weit verbreitete anti-jüdische Animositäten (Nipperdey, S. 309). In der preußischen Armee gab es vor 1914 eine systematische Diskreminierung von Soldaten mit einem jüdischen Glauben. Deutlich wurde das an den Punkten in denen Soldaten mit hervorragenden militärischen Bewertungen die Beförderung zum Offizier d.R. verweigert wurde (Kitchen, S. 39ff)

Im Sommer 1914 gab es eine patriotische Bewegung, die auch die Deutschen erfaßte, die einen jüdischen Glauben hatten. (Wehler, S. 128 und Nipperdey, S. 310). Dennoch so Picht, gab es keine „einhellige jüdische Antwort“ auf den Krieg und die Unterschiede verstärkten sich über die Dauer des Krieges. (Picht, S. 737).

Mit der Balkonrede von KW II. kam es zum Burgfrieden, der für Sozialdemokraten und auch für Deutsche jüdischen Glaubens den Zugang zu höheren staatlichen Stellen, wie im Fall von Ballin und Rathenau, öffnete und gleichzeitig den Zugang zu Offizierstellen ermöglichte. Und damit auch den Notwendigkeiten eines sprunghaft wachsenden Millionenheeres Rechnung trug.

Zunächst wurde der Burgfrieden von der radikal antisemitischen Rechten respektiert. Allerdings forderte der antisemitische Reichshammerbund bereits Ende August 1914 auf, „Kriegsermittlungen“ gegen Juden durchzuführen (Picht, S. 739).

Als Reaktion gründeten die jüdischen Organisationen Anfang 1915 das „Büro für Statistik der Juden“, um neutrale, belastbare Informationen zu sammeln, um gegen die antisemtischen Organisationen argumentieren zu können.

Im Jahr 1916 fing die alldeutsche Propaganda massiv an, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Kriegszielpolitik und dem negativen Einfluss der Juden. Der Burgfrieden würde die „werteschaffende Bevölkerung“ mundtot machen und sie den geldgierigen Strategien der Plutokraten preis geben und damit war eine „Internationale“ von Industriellen und Bankiers“ gemeint, zu denen man Ballin und Rathenau zählte (Picht, S. 745)

In diesem Kontext wurde der Vorwurf konstruiert, dass sich die Juden vorm Kriegsdienst drücken würden. Diese Kampagne, die von Alldeutschen und Reishammerbund gemeinsam inszeniert worden ist, hatte entscheidenden Anteil am Zustandekommen der „Judenzählung“ durch das preußische Kriegsministerium (Picht, S. 746) Eine derartige Zählung hatte Bayern nicht durchgeführt und in der kuk – Armee von Österreich waren jüdische Bürger hochwillkommen im Offizierkorps. (Wette, Pos. 663 und Berger)

Zwischen 1914 und 1918 lebten ca. 500.000 bis 550.000 jüdische Bürger in Deutschland (Wette, Pos. 626 ff und Berger). Davon haben ca. 100.000 als Soldaten gedient. 12.000 davon sind gefallen. 3500 sind mit militärischen Orden dekoriert, bis hin zum Pour le Merite (FN 97). Proportional beteiligten sich die jüdischen Bürger an der Front wie die übrigen Deutschen und die „Judenzählung“ konnte keine Fakten sammeln, die die polemische Argumentation der Antisemiten gestützt hätte.

Bekannt wurde dieser Erlaß in der breiteren Öffentlichkeit erst durch die Debatte am 3.11. 1916 im Reichstag.

Die Durchführung des Erlasses und die Wirkungen im Kriegsalltag hatten verheerende Auswirkung auf die Stellung der Juden in der Armee und wirkten sich gravierend auf die Identität der Juden aus, wie am bekanntesten in der Darstellung von Ernst Simon direkt nach dem Kriege(Picht, S. 748; Piper, S. 13)

Noch gravierender wie die Durchführung des Erlasses war in der Folge die Weigerung des preußischen Kriegsministerium, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Mit der zynischen Begründung, man wolle die jüdische Bevölkerung schützen. Mit einer Ausnahme, man stellte – ausgerechnet – dem Reichshammerbund die Daten für eine Reanalyse zur Verfügung.

Neutrale Auswertungen erfolgten nach dem Kriege durch Oppenheimer und durch Segal, aber erlangten keine Bedeutung in der antisemitischen Diskussion in Deutschland bzw. in der Weimarer Republik (Piper, S. 326). Die „Judenzählung“ hatte bereits im Krieg ihre antisemitische Wirkungen „erfolgreich“ in der deutschen Bevölkerung entfaltet. Und wirkte als Erbe über die Zeit nach 1918 weiter.

Und die Erfindung der Legende vom „Dolchstoß“ durch den „jüdischen Marxismus“ der „Novemberverbrecher“ konnte in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Behauptung an die angeblichen „verheerenden“ Ergebnisse der „Judenzählung“ anknüpfen (Piper, S. 353). Und Brockhaus und andere knüpfen an dieser Sicht an und zieht eine Verbindung zum Entstehen der NS-Bewegung

Bei der Frage der Bewertung des WW1 für die Identität der Juden hebt Picht hervor, dass bei aller politischen Ablehnung durch Antisemiten in Deutschland vor allem durch die Begegnung mit der Kultur der Juden aus dem Osten, das Gefühl der kulturellen Zugehörigkeit zu Deutschland eher stärker geworden ist. (Picht, S. 751). Und im allgemeinen sah die jüdische Bevölkerung eine positive Zukunft in der Weimarer Republik (Berger, Pos. 150)

Gleichzeitig intensivierte sich direkt nach dem WW1 die antisemitische Hetze der rechten Parteien und richtete sich zunehmend gegen jüdische Frontsoldaten. In Reaktion darauf wurde der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) gegründet (Berger, Pos. 157)

Den Endpunkt bildete der Versuch des Hauptmann d.R. und Vorsitzender des RjF im März 1934 die Entlassung von jüdischen Soldaten aus der Reichswehr zu verhindern. Sein Appell an den Reichspräsidenten und Obersten Befehlshaber Hindenburg blieb erfolglos. Die endgültige Endrechtung der jüdischen Bevölkerung“ erfolgte mit den „Nürnberger Gesetzen“ im September 1935. (Berger, Pos. 164)

Berger, Michael (2015): Für Kaiser, Reich und Vaterland. Jüdische Soldaten. Eine Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute. Zürich: Orell Füssli.
Brockhaus, Gudrun (Hg.) (2014): Attraktion der NS-Bewegung. Essen: Klartext.
Kitchen, Martin (1968): The German officer corps 1890-1914. Oxford: Clarendon Press.
Nipperdey, Thomas (1998): Deutsche Geschichte. 1866-1918. Machtstaat vor der Demokratie. Band II. 3 Bände. München: C.H. Beck.
Oppenheimer, Franz (1922): Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums. München: Verlag für Kulturpolitik
Picht, Clemens (1997): Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg. In: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Weyarn: Seehamer, S. 736–755.
Piper, Ernst (2014): Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin: List-Taschenbuch.
Rosenthal, Jacob (2007): "Die Ehre des jüdischen Soldaten". Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt am Main: Campus
Segall, Jacob (1922): Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914 - 1918. Eine statistische Studie. Berlin: Philo-Verl.
Wehler, Hans-Ulrich (2008): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der "Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914. 5 Bände. München: C.H. Beck
Wette, Wolfram (2005): Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
 
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