die barbarische Gesellschaft

dekumatland

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Hallo,

unter diesem Titel hat Wolfgang Scheibelreiter eine Mentalitätsgeschichte der Merowingerzeit geschrieben (erschienen bei der WBG), welche kontrovers diskutiert wurde.

Ich fand dieses Buch sehr interessant, allerdings auch nicht ganz leicht zu lesen - die meisten spätlat. Zitate (aus Gregor von Tours und "Fredegar") werden nicht übersetzt. Selbst hohen Damen wie Chrodechild und Balthild attestiert Scheibelreiter recht grimmige barbarische Züge... Zumindest scheinen diese Franken kein Problem damit gehabt zu haben, als Konfliktlösungsstrategie weniger zu diskutieren als vielmehr das Schwert zu ziehen.

Rauflustige Barbaren oder kühl kalkulierende Verwalter des zerfallenen weströmischen Nachlasses?

Gruß,
dekumatland
 
Hmm, mich würde deine Meinung zu diesem Buch interessieren? Vielleicht noch ein bisschen angereichert mit Informationen zu Kernaussagen?

Ich selbst habe das Buch nicht gelesen und muss zugeben, dass die von mir gelesenen Rezensionen dazu mich nicht überzeugt haben. Als Beispiel führe ich jene aus der FAZ an:

FAZ MATTHIAS GRÄSSLIN schrieb:
Barbaren kennen nur Bungalows
Merowingische Existentialontologie mit Georg Scheibelreiter

Georg Scheibelreiter, Professor für Mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien, deutet gern. Zunächst deutet er uns den Titel seines Werkes. Der Begriff "Achsenzeit", mit dem Karl Jaspers das Auftreten von bedeutenden Religionsstiftern und Menschheitslehrern im sechsten und fünften Jahrhundert vor Christus verdeutlichen wollte, stehe hier für die Merowingerzeit, weil sich damals "die Achse der Weltgeschichte nach Norden verschiebt" (Henri Pirenne). Sodann deutet er mit dem Finger auf gewisse Kollegen. Diese hätten die wesentlichen Quellenwerke "ideenreich, zuletzt aber schon grotesk und aberwitzig interpretiert" und "sich zu sehr von den Quellen und literarischen Intentionen ihrer Verfasser leiten" lassen. Auf den restlichen sechshundert Seiten gibt uns der Autor sodann eine erschöpfende Demonstration seiner eigenen Deutungskunst. In lockerer thematischer Ordnung werden Episoden aus dem Leben der Chilperiche, Meroweche und Dagoberte, ihrer Ehefrauen und Untertanen dargeboten, und zwar im Walzertakt von Paraphrase, Kommentar und Überleitung zur jeweils nächsten Episode. Scheibelreiter versteht diese Methode als Versuch, "die Atmosphäre jener Welt, in der Menschen im Umbruch der Werte lebten und die Verrückung der Werte erlebten, nachzuempfinden, in ihrer Unverwechselbarkeit festzuhalten und damit jener Epoche ein Gesicht zu geben".

Es ist ein verwegenes Unternehmen, die Mentalität einer relativ schlecht dokumentierten Epoche allein aus anekdotischen Aperçus und psychologischen Porträts erschließen zu wollen. Ansatzweise gelingt dies allenfalls in den ersten beiden Kapiteln ("Umbruch und Verlust der Antike"; "Amt und Amtsverständnis"), die hauptsächlich institutionelle Entwicklungen behandeln; untersucht wird hier die allmähliche Rückbildung antiker Staatlichkeit in Formen personengebundener Herrschaft. In den übrigen Kapiteln ("Elemente der barbarischen Existenz"; "Krieg als Erfahrung des Lebens"; "Raum und Raumempfinden"; "Die Ausgesetztheit des Menschen"; "Statik und Dynamik des Lebens") verlieren sich Scheibelreiters merowingische Exegesen regelmäßig in einer phänomenologischen Wesensschau, in wabernden Seinsaussagen über das "existentielle Befinden des Barbaren", das der Autor natürlich immer schon kennt. "Der Barbar lebt nicht von Tag zu Tag, sondern im Augenblick des Tages immer neu, jedes Geschehen ist in sich geschlossen und steht für ihn nicht in einem größeren kausalen Zusammenhang." "Der barbarische Mensch wägt nicht ab, er reflektiert auch nicht die Möglichkeiten, die aus der gegebenen Situation für ihn erwachsen. Er handelt augenblicklich, begreifbar sofort." "Kämpferische Ekstase ist Vollendung des barbarischen Menschen." "Der Barbar ist Gegner des Dauerhaften." "Daher ist seine Bekehrung schwierig, sofern sie nicht auf immer neuen Wundern aufbauen kann."

Auch nach der Bekehrung des Barbaren war selten Besserung in Sicht, denn "die barbarische Haltung drang bald in den geistlichen Bereich vor". Scheibelreiter präsentiert uns einschlägige Exemplare der Gattung - den betrunkenen Einsiedler Winoch ("Gerade er hätte der erzieherischen Kommunikation in einem Kloster bedurft"), den Märtyrer Leodegar ("geht kämpfend zu Grunde - aber mit einem Wechsel der Zielsetzung") oder den zahnwehgeplagten Hofbeamten Charibert aus Soissons, der sich, weil in St. Medard gerade keine Heiligen-Sprechstunde stattfindet, mit dem Kurzschwert heilsame Holzspäne aus dem Kirchentor schneidet ("Die Unmittelbarkeit der Handlung, die gegen Widerstände zum Ziel gelangt, ist ein originär barbarisches Element"). Wenn der barbarische Mensch aber einmal nicht zum Ziel gelangt, so ist auch dies ein originär barbarisches Element. Als der Dux Beppolen 586 mit seinem Gefolge im dritten Stock eines Hauses in Angers ein Gelage abhält, gibt zwar der Fußboden nach, aber nicht Scheibelreiters Deutungskunst: "Man wird Beppolen mangelnde Vertrautheit mit mehrstöckigen Häusern vorwerfen müssen."

Ein weiteres, typisch barbarisches Element betrifft die Störungen der menschlichen Kommunikation. Der heilige Amandus liest den Slawen, Basken und König Dagobert die Leviten, der heilige Kolumban wirft am Bodensee ein Bierfaß um - ohne Erfolg. "Der erhoffte Märtyrertod war auf solche Weise nicht zu erreichen und scheint an ein Mindestmaß gegenseitiger Einlassung gebunden gewesen zu sein." Kurzfristig erfolgreicher war ein "Dinner for two" in Thüringen, bei dem König Herminafrid seinen Tisch nur halb gedeckt vorfand. Auf sein Erstaunen antwortete Königin Amalberga, daß derjenige, der nur ein halbes Reich sein nenne, auch keinen ganzen Tisch gedeckt brauche. Stammt der Brauch des zerschnittenen Tischtuchs etwa auch aus der thüringischen Verfassungsfolklore? Jeder andere Interpret hätte hier zunächst einmal Grimms "Deutsche Mythologie" oder die Tischsitten der Völker studiert. Nicht so Scheibelreiter. Als eingefleischter Adept der textimmanenten Existentialpragmatik hat er sich vor allem gefragt, ob es möglich wäre, "daß sich Herminafrid mit seiner Gemahlin in eine Diskussion einlassen würde oder gar versuchte, sie durch gute Worte vom Vorteil des gegenwärtigen Zustands zu überzeugen". Angesichts der Einsilbigkeit des merowingischen Ehelebens kann man diese Möglichkeit ausschließen. Es war anders: "Amalberga gibt ein Rätsel auf, der König muß dessen Sinn erfassen und es durch entsprechende zum Ziel führende Handlungen lösen."

Die Knappheit ihrer Kommunikation verwickelt die merowingischen Helden und Heldinnen in slapstickartige Auftritte oder in nibelungische Situationen. Von der Komik zum Heroismus, von der Wortlosigkeit zum Wortbruch, zu Heimtücke, falschen Eiden und Schwüren ist es nur ein Schritt. "Ein Meister der Hinterlist war Chlodwig. Die Ausschaltung seiner königlichen Verwandten zeigt die Vielfalt seiner diesbezüglichen Möglichkeiten." Gregor von Tours läßt Chlodwig beispielsweise klagen, daß er keine Sippschaft mehr besitze, um herauszubekommen, ob noch jemand lebe, den er auch noch umbringen könne. Ein Zynismus des Bischofs von Tours? Nein, meint Scheibelreiter, "List dieser Art gehört wesentlich zu den erfolgreichen Führerpersönlichkeiten jener Jahrhunderte."

MATTHIAS GRÄSSLIN

Georg Scheibelreiter: "Die barbarische Gesellschaft". Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.-8. Jahrhundert. Primus Verlag, Darmstadt 1999. 659 S., geb., 98,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

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Ich muss zugeben, dass mich dieser sehr bissige H. Grässlin nicht eben verleitet das Buch in die Hand zu nehmen. Aber vielleicht hast du ja ein paar besser inspirierende Worte dazu?

Wenn hier scheinbar von besonders "barbarischen Taten" geschrieben wird, empfielt sich vielleicht auch ein Blick in Peter Heathers "Der Untergang des Römischen Weltreiches", wenn er Politikwechsel auf "römische Art" beschreibt...?
 
Ich muss zugeben, dass mich dieser sehr bissige H. Grässlin nicht eben verleitet das Buch in die Hand zu nehmen. Aber vielleicht hast du ja ein paar besser inspirierende Worte dazu?
Hallo,

ganz so schrecklich, wie die Rezension es darstellt, ist der Scheibelreiter nicht (Rezensenten, die nicht wohlwollend sind, neigen ja gerne dazu, auf Einzelheiten herumzureiten - in der Hoffnung, diese als pars pro toto wirken zu lassen) - - aber zugegebenermaßen etwas zäh zu lesen, wiewohl interessant.

Fragwürdig am gesamten Konzept ist, warum sich der Versuch, aus den recht heterogenen Quellen der "barbarischen Mentalität" nahe zu kommen, hauptsächlich auf die merowingischen Franken begrenzt: genügend "barbarisches" boten andere Regna dieser Zeit ja auch... Allerdings bieten die zehn Bücher fränkische Geschichte (Gregor von Tours) nebst ihrer Fortsetzungen genügend Stoff, wenn auch doppelt perspektivisch: es ist die Sicht des Galloromanen senatorischer Herkunft (worauf Gregor ja sehr großen Wert legte) und zugleich die Sicht des Christen (interpretatio romana) auf die halbheidnischen neuen Machthaber. Und aus dieser Ausgangslage heraus versucht Scheibelreiter, sich den Charakteristika der Mentalität zu nähern, was partienweise sogar recht spannend und überraschend zu lesen ist.

Einige Kapitel sind lesenswert, einige andere sind etwas zähflüssig. Übrigens ist gerade das Kapitel über den Krieg im Gegensatz zu Rezension eines der lesenswerten: was da an Kuriosem aufleuchtet, wirkt aus heutiger Sicht gelinde gesagt ineffizient... erstaunlich, dass solche Truppen tatsächlich hin und wieder irgendwelche Entscheidungen herbeigeführt hatten. Ebenso ist das Kapitel über die senatorischen Familien und deren "Barbarisierung" zu quasi Kirchen- oder Bistumsclans lesenswert.

Was die Merowingerzeit betrifft, hat mir selber das Buch von Patrick Geary mehr gefallen, aber zusätzlich diese "Spezialstudie" von Scheibelreiter zu lesen, halte ich für keinen Verlust.

Gruß,
dekumatland
 
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