Shinigami

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Ich bin kürzlich auf einer bekannten Video-Plattform auf ein interessantes Interview mit dem Historiker Wolfgang Niess, anlässlich der Vorstellung seines Buchs "Schicksalsjahr 1925, als Hindenburg Präsident wurde" gestolpert.*
Das Interview an und für sich ist ganz interessant, auch wenn für Leute, die sich schonmal mit der Person Hindenburg näher beschäftigt haben (z.B. über Pytas einschlägige Biographie) einiges darin bereits vertraut vorkommt.

Im Laufe des Interviews kam das Gespräch über die historischen Ereignisse dann irgendwann auf die vertraute Thematik des Handels der KPD und auch der Aufstellung Ernst Thälmanns im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 1925, die möglicherweise dem Mitte-Links-Kandidaten Wilhelm Marx den Wahlsieg kostete und es Paul von Hindenburg ermöglichte Reichspräsident zu werden.

So weit, so bekannt das Terrain.

Allerdings hat mich eine Bemerkung, die Niess dazu gemacht hat aufhorchen lassen, weil mir das so nicht geläufig war, oder es sollte ich es mal irgendwo gelesen haben mir jedenfalls nicht präsent geblieben ist.
Niess weist in diesem Zusammenhang nämlich darauf hin, dass das Festhalten am Kandidaten Thälmann seitens der KPD und die Weigerung auf einen eigenen Kandidaten zu Gunsten der Wahl vom Marx zu verzichten seinerzeit explizit gegen eine Empfehlung der "Komintern" erfolgt sei die der KPD empfohlen habe auf die Kandidatur zu verzichten und Marx zu unterstützen, um den konservativen Monarchisten Hindenburg (so scheint ihn jedenfalls die Komintern wahrgenommen zu haben) zu verhindern.

Das hat mich insofern erstaunt, als dass das bedeuten würde, dass sich die KPD anno 1925 radikaler verhielt, als die Gesamtlinie und Strategie der Komintern es zu diesem Zeitpunkt gern gesehen hätte und das würde bedeuten, dass die KPD zumindest zu diesem Zeiptunkt in einer immens wichtigen Entscheidung autonom von Moskau handelte.

Das macht mich persönlich etwas nachdenklich, was das Bild der KPD in der mittleren und späten Weimarer Republik und ihre Entwicklung angeht. In der Regel hat man ja den relativ starken Einfluss Moskaus auf die KPD-Führung und Stalins "Sozialfaschismusthese" im Kopf, wenn es um das obstruktive Handeln der KPD vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik geht.

Wenn aber Niess Bemerkung zutreffend sein sollte, würde sich für mich wiederrum die Frage stellen: "Hat tatsächlich der Moskauer Einfluss und die Sozialfaschismusthese die KPD auf ihre strategisch dumme Obstruktionspolitik festgelegt, oder legitimierte Stalin mit dieser Doktrin lediglich was weite Teile der KPD und der KPD-Führung (auch wenn Thälmann damals noch nicht Parteivorsitzender war) bereits vorher wollten und de facto taten?


Da würde mich interessieren, ob jemand von euch zu diesem Thema mal was gelesen hat, wie ihr das einschätzt und ob jemand Niess Aussage zur Empfehlung der Komintern Wilhelm Marx zu unterstützen, statt Thälman aufzustellen irgendwo aus der Literatur heraus untermauern könnte.








* Wer sich das Interview gern ansehen möchte, findet es direkt, wenn er den Suchbegriff "Wolfgang Niess Schicksalsjahr 1925 Interview" googlet.
 
Zuletzt bearbeitet:
Sozialfaschismus-These war eine der blödesten Ideen die 1924 von:
  • den sowjetischen marxistischen Vorsitzenden der Kommunistischen Internationalen Grigori Sinowjew und
  • Josef Wissarionowitsch Stalin
verkündet und vertreten wurde.

Diese These ist mit verantwortlich für das Scheitern des antifaschistischen Widerstands und den Machtantritt der Faschisten.
Diese These ging davon aus, dass die Sozialdemokratie als Träger des kapitalistischen Systems ein "Zwillingsbruder des Faschismus" sei. Wäre die kapitalistische Gesellschaft abgeschafft, würde sich auch das Problem des Faschismus lösen. Die SPD wurde deshalb zum Hauptfeind erklärt, der Faschismus als nur eine Ausdrucksform der kapitalistischen Herrschaft.
 
Es war primär die Wahlempfehlung der katholischen BVP in Bayern für Hindenburg, die im 2. Wahlgang den knappen StimmenVorsprung Hindenburgs gegen den katholischen Zentrumskandidaten Marx ermöglichte. Thälmann erreichte im 1. Wahlgang 7%, im 2. 6.4%.
 
Da würde mich interessieren, ob jemand von euch zu diesem Thema mal was gelesen hat, wie ihr das einschätzt und ob jemand Niess Aussage zur Empfehlung der Komintern Wilhelm Marx zu unterstützen, statt Thälman aufzustellen irgendwo aus der Literatur heraus untermauern könnte.
Das wird schon seit vielen Jahrzehnten diskutiert.
Details im "Vorwärts", 190, 23.4.1925, S. 3 + 4.
Sinowjew am 4.4.1925 in Moskau für die republikanisch orientierten Parteien + Akteure in Berlin im Rahmen der Präsidentschaftswahlen.
 
Das wird schon seit vielen Jahrzehnten diskutiert.
Details im "Vorwärts", 190, 23.4.1925, S. 3 + 4.
Sinowjew am 4.4.1925 in Moskau für die republikanisch orientierten Parteien + Akteure in Berlin im Rahmen der Präsidentschaftswahlen.
War an mir bis dato allerdings vorbei gegangen, man kann nicht alles auf dem Schirm haben.
 
Sinowjew referiert am 4.4.25 noch auf die Konstellation Jarres-Marx, Hindenburg war noch nicht nominiert worden, was am 8. April geschah.
Der genannte Vorwärts-Ausgabe vom 23.4. berichtet S. 3, aus gut unterrichteter Quelle sei versichert worden, die Exekutive der Komintern habe die KPD aufgefordert, jetzt die Kandidatur Thälmanns zurückzuziehen.

Soweit mir erinnerlich und jetzt recherchierbar, gibt es keinen schriftlichen Beleg für Letzteres, auch keine Bestätigung durch involvierte Akteure/Entscheider bei der Komintern für eine etwa mündliche Aufforderung gegenüber Verantwortlichen der KPD.
 
Sinowjew schreibt in "Die Stabilisierung des Kapitalismus", in: "Die Kommunistische Internationale", 1925, Heft 5 (Mai, real Anfang Juno erschienen), S. 481-518, S. 486 u.a.:

[...]​
Von besonderer Bedeutung sind jedoch die jüngsten Ereignisse in Deutschland, die Wahl Hindenburgs zum deutschen Reichspräsidenten . Ich muß euch zunächst ein wenig mit der innerparteilichen Seite der Frage vertraut machen . Der zweite Wahlgang wurde in Deutschland zu einer Zeit ausgeschrieben , wo sich die Delegation der KPD auf der Tagung der Erweiterten Exekutive befand . Wir waren uns darüber vollkommen klar, was für ein wichtiges politisches Ereignis in Deutschland im Anzug war . Wir haben einmütig beschlossen , daß es der Partei überlassen werden muß, die Frage an Ort und Stelle zu entscheiden , aber wir rieten der KPD kategorisch , der SPD offen die Unterstützung eines sozialdemokratischen Kandidaten im zweiten Wahlgang vorzuschlagen , falls die SPD ihren eigenen Kandidaten nicht zurückziehen sollte. Nach dem ersten Wahlgang zog die SPD sofort die Kandidatur Brauns zurück , trotzdem er acht Millionen Stimmen hatte, während Marx , der Kandidat der pfäffisch -katholischen Zentrumspartei , nur drei Millionen bekam . Die Sozialdemokraten zogen ihren Kandidaten zurück und beschlossen , ganz Deutschland für die Kandidatur von Marx zu mobilisieren, wofür sie sich für Braun den Posten des preußischen Ministerpräsidenten erhandelten . In dieser Weise blieben im zweiten Wahl gang drei Kandidaten (Thälmann , Marx und Hindenburg ).
[...]​

In diesem Text von Sinowjew von Mai/Juno 1925 nach der Hindenburg-Wahl ist nicht hinreichend erkennbar, dass er Anfang April generell die republikanischen Kräfte in Deutschland für unterstützenswert hielt nach dem 1. Wahlgang zu Präsidentschaft. Gleichfalls kann im Artikel wenig sichtbar gemacht werden, dass Sinowjew (die Komintern) nach der Hindenburg-Nominierung am 8. April die dt. KPD mit Thälmann aufgefordert hat, die eigene Kandidatur zugunsten von Marx zurückzuziehen.

Verwischt der Artikel von Sinowjew aus Die Kommunistische Internationale seine kürzlich vorhergehenden Positionen? Oder vereinfachten bzw. überspitzten die genannten "Vorwärts"-Artikel die Positionen von Sinowjew, der Komintern?
 
Sinowjew schreibt in "Die Stabilisierung des Kapitalismus", in: "Die Kommunistische Internationale", 1925, Heft 5 (Mai, real Anfang Juno erschienen), S. 481-518, S. 486 u.a.:

[...]​
Von besonderer Bedeutung sind jedoch die jüngsten Ereignisse in Deutschland, die Wahl Hindenburgs zum deutschen Reichspräsidenten . Ich muß euch zunächst ein wenig mit der innerparteilichen Seite der Frage vertraut machen . Der zweite Wahlgang wurde in Deutschland zu einer Zeit ausgeschrieben , wo sich die Delegation der KPD auf der Tagung der Erweiterten Exekutive befand . Wir waren uns darüber vollkommen klar, was für ein wichtiges politisches Ereignis in Deutschland im Anzug war . Wir haben einmütig beschlossen , daß es der Partei überlassen werden muß, die Frage an Ort und Stelle zu entscheiden , aber wir rieten der KPD kategorisch , der SPD offen die Unterstützung eines sozialdemokratischen Kandidaten im zweiten Wahlgang vorzuschlagen , falls die SPD ihren eigenen Kandidaten nicht zurückziehen sollte. Nach dem ersten Wahlgang zog die SPD sofort die Kandidatur Brauns zurück , trotzdem er acht Millionen Stimmen hatte, während Marx , der Kandidat der pfäffisch -katholischen Zentrumspartei , nur drei Millionen bekam . Die Sozialdemokraten zogen ihren Kandidaten zurück und beschlossen , ganz Deutschland für die Kandidatur von Marx zu mobilisieren, wofür sie sich für Braun den Posten des preußischen Ministerpräsidenten erhandelten . In dieser Weise blieben im zweiten Wahl gang drei Kandidaten (Thälmann , Marx und Hindenburg ).
[...]​

I

In der Publikation der Komintern INTERNATIONAL PRESS CORRESPONDENCE, Vol. 5. No. 40 PRESS 29th April 1925, S. 519 f., notiert das Exekutivkommitee u.a.:

[...] Die Kommunistische Internationale hatte der KP Deutschlands vorgeschlagen, den sozialdemokratischen Kandidaten im zweiten Wahlgang zu unterstützen, falls die Sozialdemokraten ihren eigenen Kandidaten beibehalten.[...]​

Die teils überlieferte, vermeintlich belegte Sichtweise, die Komintern hätte sich generell gegen die nochmalige Kandidatur Thälmanns für den 2. Wahldurchgang zur Präsidentenwahl 1925 ausgesprochen, trifft womöglich so nicht zu.
 
Dann danke ich für die Mühen.

Mit anderen Worten hat Niess die Haltung der Komintern dann in dem Gespräch eindeutiger dargestellt, als sie in dieser Hinsicht war.
 
Genau. Doch nicht nur im Gespräch, sondern auch in der Publikation, welche der Anlass für das Gespräch war:
Wolfgang Niess, Schicksalsjahr 1925. Als Hindenburg Präsident wurde. (2025).


Und...Niess repliziert lediglich aufs Neue eine alte Position, die schon seit vielen Jahrzehnten in den Geschichtswissenschaften kursiert....und letztlich auf 2, 3 Vorwärts-Ausgaben des Aprils 1925 zurückzugehen scheint bzw. auf weitere autobiographische Werke von damaligen Zeitgenossen aus dem Bereich der Linksliberalen und Sozialdemokraten in der Weimarer Republik.
Der Historiker Karl Holl bemerkt 1968 in Vierteljahrshefte zur Zeitgeschichte (S. 256) im Zusammenhang mit dem 2. Wahlgang der Präsidentschaftswahlen:

[....] der auch von der Komintern gewünschte Verzicht auf die nochmalige Kandidatur Thälmanns seitens der KPD, [...]​
 
Zuletzt bearbeitet:

Die KPD und Moskau. Unzertrennlich mit dem Thema ist Moskau's deutsche Superspionin Ursula Kuczynski, Kodename 'Sonya'.
 
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