Kann sein dass es an der Auswahl der von mir gelesenen Quellen liegt, aber außerhalb des französischen Diskurses ist mir Boulainvilliers nirgends so großartig begegnet. Im französischen Raum wohl sehr prominent, und daher auch für den französischen Kolonialismus garantiert relevant, aber für den angelsächsischen? Da habe ich gerade einfach keine Belege vor Augen.
Nachtrag: Und dann gibts natürlich den deutschen Raum, den wir auch noch nicht so richtig beleuchtet haben. Wenn man in den "Staat" von Franz Oppenheim reinschaut (Oppenheimer wird
von der deutsche Wikipedia als der europäische Hauptvertreter der Unterwerfungstheorie bezeichnet), dann sind bei ihm all die Annahmen, die wir hier von Boulainvilliers hergeleitet haben, relativ selbstverständlich als gegeben vorausgesetzt.
So schreibt Oppenheimer gleich mal grundsätzlich:
Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Schon die Geschichte des Wortes sagt es uns. Es stammt aus dem Italienischen der Renaissanceperiode. Dort bezeichnete es den, zumeist durch Gewalt zur Herrschaft gelangten, Fürsten samt seinem Anhang: »Die [S. 15] Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren«, sagt Jakob Burckhardt. So hatte Ludwig XIV. mit seinem hochfahrenden Wort: »L'Etat c'est moi« in einem tieferen Sinne recht, als er selbst ahnte. In unserem Worte »Hofstaat« lebt die alte Bedeutung noch fort.
Das ist »das Gesetz, nach dem er angetreten«, und das ist der Staat geblieben. Er ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.
Kein primitiver »Staat« der Weltgeschichte ist anders entstanden [2]; wo eine vertrauenswerte Überlieferung anders berichtet, handelt es sich lediglich um Verschmelzung zweier bereits vollentwickelter primitiver Staaten zu einem Wesen verwickelterer Organisation; oder es handelt sich allenfalls um eine menschliche Variante der Fabel von den Schafen, die sich den Bären zum Könige setzten, damit er sie vor dem Wolfe schütze; aber auch in diesem Falle wurden Form und Inhalt des Staates völlig dieselben wie in den »Wolfsstaaten« reiner, unmittelbarer Bildung.
Schon das bißchen Geschichtsunterricht, das unserer Jugend zuteil wurde, reicht hin, um diese generelle Behauptung zu erweisen. Überall bricht ein kriegerischer Wildstamm über die Grenzen eines weniger kriegerischen Volkes, setzt sich als Adel fest und gründet seinen Staat.
Yay, ist doch alles ganz einfach, wie?
Also haben wir hier das ganze Gepansch von Boulainvilliers wieder: Herrschertum ist per Definition vom Adel abgeleitet und den Adel rücklegitimierend, und das ganze in ziemlich zirkulärer Logik: war's in der Geschichte nämlich mal anders, war's eigentlich gar nicht anders, halt nur der Bär statt der Wolf... oder so. :fs:
Eigentlich interessant ist daran, wie die Theorie der Zeit angepasst worden ist: Oppenheimer lebt nach der industriellen Revolution und rückt daher Ökonomie und Klassenkampf deutlich in den Vordergrund statt, wie Boulainvilliers, halt den Adel selber stärken zu wollen. Bei Oppenheim beschränkt sich die Referenz auf den Adel auf ein naturalisierendes "war nämlich schon immer so", wobei er übrigens (soweit mein erstes grobes Überlesen mich nicht trügt) interessanterweise kaum auf konkrete
theoretische Referenzen verweist, die früher sind als frühe Neuzeit. Bei solchen Referenzen kann man natürlich leicht den Staat als Nationalstaat und ein vom Recht zusammengehaltenes Gebilde naturalisieren... Taschenspielertricks, echt ey.
Aber eins muss man schon sagen: Ne ziemlich interessante Genese hat diese Theorie hinter sich.