Dollfuß- Tyrann, oder Märtyrer?

Linker

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Heute jährt sich zum 70 Mal der Todestag von Engelbert Dollfuß dem Kanzler (oder Diktator) Österreichs, der 1933 das österreichische Parlament ausschalten ließ, im Februar 1934 in einem drei Tage langen BürgerInnenkrieg die ArbeiterInnbewegung niederschlug, im Mai 1934 den Ständestaat ausrief (dem italienischen Faschismus ähnlich) und im Juli 1934 bei einem Putschversuch der Nazis ums Leben kam.

In Österreich ist es nach wie vor eine Streitfrage, wie man Dollfuß beurteilen soll. Die einen sagen er war ein Austrofaschist, der die Demokratie und die ArbeiterInnenbewegung niederschlagen ließ und den Weg für den Nazifaschismus mit seiner Politik bereitete. Die anderen sagen, er war gezwungen die Linke zu unterdrücken und an der Eskalation gäbe es eine geteilte Schuld zwischen Links und Rechts und er war ein Patriot der im Kampf um die Freiheit Österreichs gefallen ist.

Höchste Zeit wieder mal über dieses Thema zu diskutieren.
 
Der siebzigste Jahrestag des Juliputsches

Da ist mir wohl jemand zuvogekommen. Aber ein Überblick über die Ereignisse kann nie schaden. ;)

Juliputsch und Ständestaat

Am 25. Juli 1934 wurde der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß während eines nationalsozialistischen Putschversuches angeschossen und verblutete im Bundeskanzleramt. Bei dem 1892 geborenen Bauernsohn Dollfuß handelt es sich um eine der umstrittensten Persönlichkeiten der österreichischen Geschichte. Er wurde 1932 Bundeskanzler einer konservativ-christlichsozialen Regierung, schaltete im März 1933 mittels des 1917 erlassenen "kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetztes" das Parlament aus und verbot die kommunistische und die nationalsozialistische Partei.
Im Anschluss daran hob die Regierung verschiedene Arbeits- und Freiheitsrechte auf, die in den zwanziger Jahren erlassen wurden, u.a. um die Wirtschaft anzukurbeln und das Budget zu sanieren (Kontraktionspolitik). Beim ersten Generalappell der neugegründeten Vaterländischen Front verkündete Dollfuß: Das Parlament hat sich selbst ausgeschaltet, ist an seiner eigenen Demagogie und Formalistik zugrunde gegangen. Dieses Parlament, eine solche Volksvertretung, eine solche Führung unseres Volkes, wird und darf nie wieder kommen.(...) Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorbei! Wir lehnen Gleichschalterei und Terror ab, wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker, autoritärer Führung!" (zitiert nach Berchtold 1967: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, S. 429f.)

Die österreichische Sozialdemokratie sollte jedoch langsam ausgeschaltet werden: Ihre Beteiligung an politischen Prozessen wurde behindert, das "rote Wien" finanziell kurz gehalten und die sozialdemokratische Miliz - der republikanische Schutzbund - wurde verboten. Die Parteilokale der SDAP wurden immer wieder nach Waffen durchsucht, bis am 12. März 1934 in Linz Widerstand geleistet wurde, der sich zu einem kurzen Bürgerkrieg ausweitete. Am 15. Februar 1934 war der Aufstand gescheitert - nicht zuletzt deshalb, weil der Generalstreik misslang - und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wurde verboten.

Am 1. Mai 1934 trat gleichzeitig mit dem neuen Konkordat mit dem Heiligen Stuhl auch eine neue, ständestaatliche Verfassung in Kraft, die stark autoritäre Züge hatte und die bürgerlichen Freiheitsrechte beschränkte.

In den dreißiger Jahren erlebten die Nationalsozialisten in Österreich einen ungeheuren Aufschwung und zogen bei Wahlen in viele Gemeinderäte ein. Da im Ständestaat keine Machtergreifung über Wahlen möglich war, beabsichtigten die "illegalen Nazis" den Sturz der Regierung Dollfuß. Mittels intensiver Propaganda, Wirtschaftssanktionen von Deutschland aus und häufigen Terrorakten (von 1933 bis 1938 insgesamt 803 Opfer nationalsozialistischer Gewalt, davon 169 Tote) versuchten sie die Christlich-Soziale Herrschaft zu schwächen. Am 25. Juli 1934 - vier Wochen nach dem Röhm-Putsch - drangen gegen 13 Uhr 150 SS-Männer der "österreichischen Legion" in das Bundeskanzleramt ein. Die Regierungsmannschaft war kurz zuvor gewarnt worden und verließ rechtzeitig das Gebäude am Ballhausplatz, Bundeskanzler Dollfuß wurde jedoch auf dem Weg ins angrenzende Haus-, Hof- und Staatsarchiv von Otto Planetta angeschossen und verblutete aufgrund fehlender ärztlicher Versorgung. Gleichzeitig stürmten 15 SSler das Sendehaus der österreichischen Radio-Verkehrs-AG RAVAG, wo sie die Verlesung einer Rücktrittserklärung der Regierung Dollfuß erzwangen; die war das Signal für die Bundesländer-Nazis, loszuschlagen.

Das Bundeskanzleramt wurde von der Polizei und dem Bundesheer umstellt, sodass der Kontakt zwischen den Putschisten und ihrer Führung unterbrochen war und diese das Gebäude kampflos übergaben. Otto Planetta und der Anführer der Besetzung - Franz Holzweber - wurden noch im Juli hingerichtet, sowie elf weitere Aufständische in den darauffolgenden Wochen. Wenig beachtet, aber dennoch bedeutsam waren die im Gegensatz zu den städtischen Februarkämpfen in den Bundesländern stattfindenden Aktionen. Diese wurden von der SA (in Wien hielt die SS die Fäden in der Hand) koordiniert.

In der Steiermark war Radkersburg das Zentrum der Bewegung, wo die Nationalsozialisten gemeinsam mit dem Steirischen Heimatschutz und dem deutschnational-antiklerikalen Landbunds für Österreich weite Teile der Südoststeiermark beherrschten. Die blutigsten Kämpfe fanden jedoch am 26. Juli im Obersteirischen Industriegebiet entlang der Mur-Mürz-Furche und der Enns statt; an diesem Tag brach auch der Aufstand in der Steiermark zusammen und die geschlagenen Nationalsozialisten flohen nach Jugoslawien. Ihr Rückzug wurde von Kärntner Kameraden ermöglicht, die zu dieser Zeit in Unterkärnten und im Lavanttal kämpften. Des weiteren kam es noch in Innsbruck, im Mühlviertel und im Salzburger Flachgau, die allesamt niedergeschlagen wurden.

Der Putsch wurde von Deutschland aus gesteuert, wobei die Konflikte zwischen SS und SA sowie den "illegalen Nazis" in Österreich zu dilettantischem und unkoordiniertem Vorgehen führten. Nach dem Scheitern des Aufstands distanzierte sich die nationalsozialistische Reichsregierung von den Geschehnissen in Österreich.

Unter den aus Deutschland angreifenden "Legionären" befand sich der 1914 geborene Robert Haider, Schuhmachergeselle aus Goisern, Vater des langjährigen FPÖ-Obmanns und Kärntner Landeshauptmanns Jörg Haider. Robert Haider war 1933 als SA-Mann bei einer Schmieraktion erwischt worden. Er hatte fliehen können und war in Bayern der Österreichischen Legion beigetreten. Nach dem "Anschluss" kehrte er nach Oberösterreich zurück und wurde Gaujugendwalter der Deutschen Arbeitsfront in Linz.

(zusammengestellt aus "70 Jahre Juliputsch" des DÖW und den Informationen, die der Verein für demokratische Bildung im Netz zur Verfügung gestellt hat)

Literaturliste zum Juliputsch:
  • Gudula Walterskirchen, Engelbert Dollfuß Arbeitermörder oder Heldenkanzler. Wien: Molden Verlag 2004, 320 Seiten, 24,80 Euro.
  • Eva Nicoladoni-Dollfuß, Mein Vater, Hitlers erstes Opfer. München: Amalthea 1994, 368 Seiten, 24,90 Euro.
  • Gottfried-Karl Kindermann, Österreich gegen Hitler Europas erste Abwehrfront 1933 - 1938. München: Langen Müller 2002, 480 Seiten, 29,90 Euro.
  • Kurt Bauer, Elemtar-Ereignis Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934. Wien: Czernin Verlag 2003. 400 Seiten 29,50 Euro.
  • Wolfgang Maderthaner, Michaela Maier (Hg.) "Der Führer bin ich selbst" Engelbert Dollfuß - Benito Mussolini Briefwechsel.
    Wien: Löcker 2004. 160 Seiten. 15 Euro.
Zum Juliputsch und dem nationalsozialistischen Terror fand auch ein Forschungsprojekt statt.



 
Schini schrieb:
Da ist mir wohl jemand zuvogekommen. Aber ein Überblick über die Ereignisse kann nie schaden.
... während ich die Seite des Vereins für demokratische Bildung durchstudiere und zum Ergebnis komme, daß sie sich sehr gut zur Verlinkung eignet...
 
Zu Schinis Literaturhinweis
Gudula Walterskirchen, Engelbert Dollfuß Arbeitermörder oder Heldenkanzler
erschien heute in der SZ eine bemerkenswerte Rezension:
 
Zuletzt bearbeitet:
Zu besagter Rezension:

GOTTFRIED-KARL KINDERMANN schrieb:
Kanzlerdiktator
Eine faire Biografie des 1934 ermordeten Engelbert Dollfuß

GUDULA WALTERSKIRCHEN: Engelbert Dollfuß - Arbeitermörder oder Heldenkanzler. Molden Verlag Wien , 2004

Dollfuß, der anfangs Theologie, später Jura studierte, galt als weithin geschätzter Agrarreformer, als ihn die Christlichsoziale Partei 1932 zum Bundeskanzler Österreichs wählte. Nur wenige Monate später wurde Hitler Reichskanzler. Vom Mai 1933 an betrieb er den ¸¸Generalangriff auf Österreich". Zur Begründung verwies er vor dem Reichskabinett auf die Tatsache, dass Dollfuß und seine Partei in Gestalt der Vaterländischen Front die erste Bewegung der Nachkriegsära gegründet habe, die sich militant zum Selbstwert der staatlichen Unabhängigkeit Österreichs bekannte. Damit war sie gegen die von der NSDAP forcierten und weit verbreiteten großdeutschen Tendenzen in Österreich auf Kollisionskurs gegangen.
Naja ganz so war das auch nicht. Die ideologischen Unterschiede der beiden Systeme waren so wiedersprüchlich und unvereinbar nicht. Dollfuß strebte sogar ein Bündnis mit den Nazis an um die Sozialdemokratie zu zerschlagen. Dieses Bündnis scheiterte schließlich nicht an ideologischen Unterschieden, sondern an der organisatorischen Frage, ob sich die NSDAP in die Vaterländische Front eingliedern soll. Und auch wenn die Chrislichsozialen gegen den Anschluss waren, so stanbd sie nicht für ein kleines und demokratisches Österreich, sondern für die Widererrichtung der Donaumonarchie.

GOTTFRIED-KARL KINDERMANN schrieb:
Von Hitlers Stellvertreter in Österreich explizit vor die Wahl gestellt, Anschlusshelfer Hitlers oder aber von diesem zerschmettert zu werden, wählte Dollfuß den Kampf. Seine Regierung erließ schon im Juni 1933 Europas erstes Totalverbot der NSDAP, verstärkte die Abwehrkraft der Exekutive, suchte Rückendeckung bei Italien und beim Völkerbund und förderte die Paneuropa-Bewegung. Mehr noch: Österreich wurde für Jahre zur führenden Quelle deutschsprachiger Kritik am Nationalsozialismus.
War wieder nicht ganz so. Es stimmt, dass er die Schlagkraft der Exekutive verstärkte, aber die wurde eher verwendet um SozialdemokratInnen mit Repressalien zu begegnen. Und auch die unter Dollfuß wiedereingeführte Todesstrafe wurde kaum gegen die Naziterroristen eingesetzt, sondern wieder gegen SozialdemokratInnen, die sich zur Demokratie bekannten. Und was einem auch zu denken geben sollte, ist, dass er sich an Italien anlehnte und das war ja damlas bekanntlich faschistisch.
GOTTFRIED-KARL KINDERMANN schrieb:
Frau Walterskirchen arbeitet eine psychobiografisch bedeutsame Dimension von Dollfuß heraus. Sie zeigt, wie sehr der ehrgeizige und religiöse Politiker von übermächtigen Gegnern konfrontiert, plötzlich von der tief empfundenen Vorstellung erfasst wurde, im Namen einer ¸¸höheren Macht" dazu berufen zu sein, seine Heimat Österreich, den katholischen Glauben und ganz Europa gegen die Gefahren des heidnischen Nationalsozialismus wie auch des anders gottlosen Marxismus zu verteidigen. Im Monat vor seiner Ermordung sagte er, der Nationalsozialismus sei ein ¸¸kriminelles System" auf der Basis einer ¸¸kriminellen Ideologie". Wer sich nicht aktiv dem entgegenstelle, mache sich ¸¸mitschuldig".
Naja wenn man sich durch eine höhere MAcht berufen fühlt, dann kann man dem schwer was entgegen setzten. Es sollte aber auch für sich sprechen, dass er Nazionalsozialismus und Marxismus im wesentlich gleichsetzt. Und das bei einer Ausprägung des Marxismus, die sich klar zur Republik und zum demokratischen Weg zum Sozialismus bekannte.

GOTTFRIED-KARL KINDERMANN schrieb:
In die Enge getrieben, unternahm die NSDAP im Juli 1934 den Versuch, Österreich durch einen bewaffneten Aufstand in Wien und einigen Bundesländern in ihre Gewalt zu bringen. Die Erstürmung des Bundeskanzleramtes durch die SS während einer Kabinettssitzung sollte dabei die gesamte Regierung in Geiselhaft nehmen. Kurz zuvor hatte Dollfuß aber seine Minister entlassen. Die SS-Leute, denen er entgegentrat, schossen ihn nieder und ließen ihn ohne ärztliche Hilfe sterben. Bei ihrem Plan rechneten die Putschisten fest mit einer großdeutschen Massenerhebung und der Mithilfe des Bundesheeres. Von 58 000 Freiwilligen unterstützt, schlug das Heer den Aufstand in drei Tagen nieder.

Doch die von der Verfasserin an den Beginn des Bandes gestellten Interviews mit Persönlichkeiten unterschiedlicher politischer Orientierung zeigt auf Seiten der Sozialdemokraten unversöhnliche Ablehnung. Zum Hintergrund dieser Haltung gehört Österreichs Demokratiekrise vom März 1933. Von Karl Renner ausgelöste gegenseitige Geschäftsordnungstricks hatten eine groteske Selbstausschaltung des Parlaments mitsamt seinem prekären Stimmenverhältnis von 81 zu 80 bewirkt. Überzeugt von der Unmöglichkeit, mit diesem System den Kampf gegen die NSDAP zu bestehen, regierte Dollfuß ohne Parlament weiter, begann aber mit den zahlenstarken Austromarxisten Geheimverhandlungen über eine Verfassungsreform, die der NSDAP die Wiederholung ihres in Deutschland erprobten Modells scheinbar legaler Machtergreifung verwehren sollte."
Das mit der Selbstausschaltung ist wieder so eine Sache. Tatsächlich gab es Proleme mit der Geschäftsordnung, aber als das Parlament wieder zusammentreten wollte, stand Polizei davor und verhinderte das Zusammentreten. Das man allein weiter regiert wenn man die Mehrheit verliert, scheint die Aussage von 81:80 zu sein.

GOTTFRIED-KARL KINDERMANN schrieb:
Darin zumindest waren sich beide Seiten einig. Doch entgegen einem klaren Verbot ihrer eigenen Parteileitung eröffnete eine Abteilung der von der Dollfuß-Regierung verbotenen austromarxistischen Parteiarmee im Februar 1934 einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung. Wie Dollfuß und die meisten seiner Minister, zumeist vormalige Frontsoldaten der Ersten Weltkrieges, es empfanden, war dieser Aufstand, der 300 Österreichern das Leben kostete, der österreichischen Abwehrfront gegen die NSDAP in den Rücken gefallen. Trotz Bedenken in den eigenen Reihen ließ die Regierung von 150 standrechtlich angeklagten Aufständischen acht hinrichten. Danach wurde die Sozialdemokratische Partei verboten und eine - kaum wirksam gewordene - ständestaatliche Verfassung erlassen. In Wirklichkeit reduzierte sie sich auf eine autoritäre Kanzlerdiktatur.
Da wird wieder ein bisserl Geschichte gefälscht. Dieser Auftsand kam nicht grad aus dem Nichts, sondern war der verzweifelte Versuch die Republik zu retten (damals war das Parlament schon ausgeschaltet) In den Monaten davor, hatten Polizei und die faschistische Heimwehren (die Parteiarmee von Dollfuß) Einrichtungen der Sozialdemokratie durchsucht und die ArbeiterInnnen in ihren Vierteln terrorisiert. Die Parteiarmee der Sozialdemokratie hieß übrigens Republikanischer Schutzbund und sah seine Aufgabe darin die Demokratie zu verteidigen. Die Heimwehren hingegen wollten von Anfang an (lang bevor die Nazis eine ernsthafte Gefahr waren) die Demokratie abschaffen. Ich möchte hier den Korneubuger Eid der Heimwehren (1930) zitieren: "Wir wollen den Volksstaat der Heimwehren. [...] Wir verwerfen den westlich demokratischen Parlamentarismus. [...] Wir wollen [...] eine starke Staatsführung." (Quelle: Aus Geschichte lernen. 7. Klasse, Ed. Hölzel, Wien)

GOTTFRIED-KARL KINDERMANN schrieb:
All dies bewirkte samt einer parteihistorischen Mythisierung der damaligen eigenen Rolle bei der Linken eine solche Aversion gegen Dollfuß, dass ihm bis heute die Würdigung als Hauptarchitekt des österreichischen Staatswiderstandes gegen den Nationalsozialismus bis zur Dimension der Realitätsverweigerung versagt wird.
Zudem bewirkte er nach 1918 einen neuösterreichischen Selbstbehauptungswillen und ein Identitätsgefühl. Das Buch erschließt deutschen Lesern eine Fülle hierzulande fast unbekannter Tatsachen aus Österreich in der Ära des Dritten Reiches.
GOTTFRIED-KARL KINDERMANN

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.170, Montag, den 26. Juli 2004 , Seite 9
Schon komisch, dass man sich nicht jemanden identifizeren kann, der einen verboten hat und auf Arbeiterinnenwohnhäuser mit Kanonen schießen hat lassen. Würde das österreichische Identitätsgefühl tatsächlich auf Dollfuß beruhen würde es zmindest 40% der Gesellschaft ausschließen. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Dollfuß davon Sprach, dass man die Nazis nur abwehren könne, wenn man selbst die besseren Faschisten wäre.



Der Austrofaschismus war ein brutale Diktatur und die Sozialsdemokratie hat sich nur des Verbrechens schuldig gemacht nicht schon früher und energischer gegen die Aushöhlung der Demokratie aufgestanden zu sein.
 
ein Nachtrag

Linker schrieb:
Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Dollfuß davon Sprach, dass man die Nazis nur abwehren könne, wenn man selbst die besseren Faschisten wäre.

Eine grundsätzliche Zeiterscheinung in ganz Europa(!) - und durch die möglichmachende Umkehr der Protagonisten infolge der Kriegsparteienstellung (vermeintlich) vergessen gemacht.

Dazu dieser Querverweis: Eben las ich im >Spiegel, dass Sir Winston Churchill Anfang-Mitte der 30er-Jahre (als er im politischen Abseits schmollend und ätzend Chamberlains Appeasement-Politik kommentierte) den faschistsichen Entwicklungen und Protagonisten in Italien, Spanien, Deutschland u. Ö. durchaus positiv gegenüberstand. Churchill, der romantische Erzreaktionär, sei durchaus kein Antifaschist gewesen. Und Siegfried Haffner (ab 1938 im Londoner Exil) schreibt: "sondern eher das Gegenteil." Vom damaligen Churchill (der 30er-Jahre) habe man sich eher vorstellen können, dass er "der größte internationale Führer des europäischen Faschismus" werden könne.

Ich möchte mich hier nicht -als tendenziös oder revanchistisch- missverstanden wissen, die Polarisierung zwischen Konservativen und Sozialisten förderte ja wiederum härtere Extreme -> viele wandelten sich zu Reaktionären und Kommunisten. Und es mag recht platt klingen, aber ist gerade unsere österr. Geschichte diesbez. nicht recht platt, d.h. meisterlich unfähig gewesen: "Wenn sich zwei streiten,..." dann freuen sich die Nazibuam.

Aber um meinen Nachtrag zu Engelbert Dollfuß nun zu bringen, ein bisschen "Kaffeehausliteratur":
Vorletztes Wochenende führte ich m/eine Münchnerin in den matschigen ersten Bezirk,- auf Lieblingswegen, die vielleicht auch nur Lieblinge wurden, weil sie aus ansichtenverliebter Gewohnheit entstanden. Der, der mich schließlich vor Engelbert Dollfuß als Basrelief zu stehen kommen ließ, war: Burgring, tête a tête vorm weißschokokitschigen Mozart in den Burggarten, den einen gewundenen Weg entlang, wo Kaiser F-J gütig steht, den Blick zu Boden, wo der erste Krokus erscheinen könnt und -trefflich- gar nichts denkt, an der Albertina vorbei in die Gasse, wo Joseph II. sich baulich und reiterlich verewigte, wo auch der Hauptset für Orson Welles >Dritten Mann war, Hofreitschule und -schließlich- die Michaelerkirche. Seit jahren liegen mir die Wiener Freunde in den Ohren, dass deren Gruft (für den Hochadel, Erzadel) jene der Kapuziner (für die Erzherzöge und -innen) in den Schatten stellt, wegen seiner feinen Durchlüftung, weswegen man sich über fürstliche Mumien erschrecken darf... Nur, die Gruft war zu. Die Kirche schmucklos und... mit einem Ruch... Marianisten... Madonnen... von katholischer "Erzigkeit"... und die schob mich in diese Seitenkapelle der Michaelerkirche:

Zuallererst nahm ich wahr, dass alle Kerzen in den drei Reihen des Kerzenständers aufgefüllt waren und brannten, genug Licht, um rechts ein Schild "zum Gedenken an die verfolgten und inhaftierten christlichen Politiker in Dachau" lesen zu können, und wie, um meinen diesbezüglichen Gedanken zuvorzukommen, entdeckte ich gegenüber der unvermeidlichen Nazarener-Madonna (Lourdesmäßig lieblich) das vielleicht wirklich einzige(!) namhafte christlichsoziale NS-Opfer als Relief: "Engelbert Dollfuß, Kanzler der Republik (!?) Österreich" + entsprechenden "zu Tode durch ... gekommen" - Text.
(vielleicht hab ich das überlesen oben, nur als Anmerkung: 1934 war die NSDAP verboten, deren Mitglieder "Illegale", in den zeitungen wurde der begriff "illegale Mordbuben" strapaziert)

So. Da stand ich nun. Mit einer Münchnerin, die wohl gerade "Dachau" bedachte und verdrängte und mit mir, der in sich Dollfuß-Erklärungsbedarf verspürte, zumal meine Begleiterin für Millionen europäischer Wien-Besucher steht, die schlichtweg keine Ahnung von diesem Mann haben. Der ein Männlein war, niedlich klein ... 146 cm (?)... Napoleon war klein, Hitler war klein/er als all seine Adlanten, naja, Goebbels war noch kleiner, aber trotz Behinderung wendiger als der kleine UND dicke Röhm....
"Niedliche" Bestien. Alle aus unterprivilegierten Verhältnissen, aus "gestörten" Familienbeziehungen" (Haffner) -und keiner kann mir jetzt erzählen, dass DIESE Männlein keinen Minderwertigkeitskomplex in sich trugen, da eben alles fehlte, ALLES: Liebe, Freundschaft, psycholog. Ansprache, pädagogische Nachsicht und herzliche Zuwendung, Loyalität, die sie rechtzeitig gesunden hätte lassen... Ihr Werdegang: ehrgeizig, emporgekommen, unverschämt, verschlagen, kompromisslos in der Bekämpfung ihrer Gegner.

Ehrlich: ich gönnte dem armen*, kleinen Dollfuß sein Andenken als Mensch in einer kerzenerleuchteten Kapelle. Doch die ganze Kapelle ist zuletzt eine eigentlich schnöde Verklärung und romantische Leugnung christlich-sozialer Schuld am Hochkommen des erschreckendsten aller Faschismen, die Europa je erleben musste, an dem die Österreicher enthusiastisch bis paralysiert teilnahmen.
Heute täglich von hunderten Touristen gesehen, am Michaelerplatz, Wiens innerstädtischer Eingang zu Habsburgs Glanz und Gloria, der Hofburg, worin die wunderbare Nationalbibliothek, der Bundespräsident und div. Firlefanz unser Land repräsentieren.

Ich glaube, ich sagte dann nur einen Satz nach München: "Von denen** ist keiner umgekommen in Dachau..., interessant, nicht?"


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* für Klaus ;)
** bekannte christlich-soziale Politiker und Parteimitglieder der ersten Republik Österreich.
 
ning schrieb:
....Ich möchte mich hier nicht -als tendenziös oder revanchistisch- missverstanden wissen, die Polarisierung zwischen Konservativen und Sozialisten förderte ja wiederum härtere Extreme -> viele wandelten sich zu Reaktionären und Kommunisten. Und es mag recht platt klingen, aber ist gerade unsere österr. Geschichte diesbez. nicht recht platt, d.h. meisterlich unfähig gewesen: "Wenn sich zwei streiten,..." dann freuen sich die Nazibuam......
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Entgegengesetzte Pole fördern den Extremismus...
das war zu Beginn der Weimarer Zeit in Deutschland nicht anders und die Profiteure dieser Entwicklung haben sich, durch die Wirtschafts-Profiteure des 1. WK unterstützt, zu den "Rettern"
der Nation erklärt. :mad:
 
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