Drittes Reich und "Funktionselite"

jschmidt

Aktives Mitglied
Ich würde gern auf eine Frage zurückkommen, die schon oft gestellt und behandelt wurde, nämlich die nach der individuellen Schuld für das, was 1933-1945 geschehen ist.

Den Anstoß gibt die Diskussion in http://www.geschichtsforum.de/f82/deutsche-volk-im-dritten-reich-22543/, woraus ich folgende Auszüge mit herüber genommen habe:

man kann es nicht oft genug sagen: Schuld kann es im rechtlichen wie moralischen Sinne nur für individuelle Taten geben
Von daher würde ich sagen, dass die NSDAP-Wähler vorneweg eine Kriegsschuld hatten.
aber die Frage nach der Verantwortung der einzelnen Bürger ist schon eine sehr brisante und schwierige
Ich mache nicht die Menschen, die während der NS-Herrschaft als Mitläufer bei allem mitmachten, sich unterordneten und weitestgehend in Ruhe weiterlebten verantwortlich
man muss unbedingt den historischen Kontext dieser Zeit anschauen. Die Menschen 1933 wussten nicht, das es einmal einen Holocaust geben wird, es gab viele die sahen das es auf einen Krieg hinausläuft
meiner Meinung nach, sind die Wähler schuldig, die der NSDAP ihre Stimme schenkten. Das mag hart klingen, aber für mich ist es so. Naivität oder Propaganda ist keine Entschuldigung für mich

Allerdings möchte ich die Diskussion gern vom "kleinen Mann auf der Straße" wegnehmen und auf diejenigen fokussieren, die man gemeinhin als "Funktionselite" bezeichnet.

Als Einstieg stelle ich die gekürzte Fassung eines Nachrufs auf einen Politiker vor. Ich nenne ihn "X" und seine Partei "XXX", weil mir die Absicht der Denunziation völlig fern liegt; genauso könnte man die Person "Y" aus der Partei "YYY" wählen! (Habt insoweit bitte Vertrauen!)
Die vielen Trauergäste, die schweigend seinem Sarg folgten, waren beredter Ausdruck von Dankbarkeit, Respekt und Liebe für eine Persönlichkeit, deren Wirken den Menschen aller Bevölkerungsschichten gegolten hat. X. zeichnete sich als Mensch und Politiker aus, dessen Liebe zur Heimat und dessen Verbundenheit mit seinen Landsleuten vorbildlich war. [...]

X., am [soundsovielten] 1903 im Elsass geboren, aber im Saarland groß geworden, war ein Mann der ersten Stunde. Der Jurist, studiert hatte er an den Universitäten in Heidelberg und Göttingen, schloss sich früh einer politischen Gruppierung an, die, wie er selbst, die Rückkehr der Saar nach Deutschland anstrebte. Dies war für ihn die damals noch illegale XXX, in der er schnell zu einer führenden Persönlichkeit aufstieg. Nach dem Wahlkampf für die Volksabstimmung am 23. Oktober 1955 war es deshalb selbstverständlich, dass er am 18. Dezember gleichen Jahres in den ersten frei gewählten Landtag des Saarlandes berufen wurde. Seine Karriere danach war steil; 1957 berief ihn [der Ministerpräsident] als [...]minister ins Kabinett [...]
Zur Auflockerung zunächst eine Frage: Ist an diesem Text irgend etwas Auffälliges?
 
[/INDENT]Zur Auflockerung zunächst eine Frage: Ist an diesem Text irgend etwas Auffälliges?

Dem Nachruf ist ein gewisser, einbauter Sprung nach seiner Hochschulzeit nicht abzusprechen; immerhin war er zwischen dem 30. und 42. Lebensjahr, wohl der Beginn seiner Karriereleiter, nicht auf dem Mond stationiert. :D
 
Dem Nachruf ist ein gewisser, einbauter Sprung nach seiner Hochschulzeit nicht abzusprechen; immerhin war er zwischen dem 30. und 42. Lebensjahr, wohl der Beginn seiner Karriereleiter, nicht auf dem Mond stationiert. :D

War er nicht. Wenn ich das richtig sehe, war der gesuchte Herr seit 1933 NSDAP-Mitglied und diente zuletzt als Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, verantwortlich für Fragen der Rüstung und Kriegsvorbereitung.

@jschmidt: Ich denke, wir könnten den Namen hier schon nennen.
 
@silesia: Ich habe seinerzeit ein bißchen länger gebraucht...:rotwerd:

@floxx78: Ebenfalls Respekt! Ich würde aber gern bei der (relativen) Anonymität bleiben.

Es kommen vielleicht noch ein paar Hinweise; ich warte deshalb ein wenig. Die nächste Frage wird dann lauten: Warum sieht der Nachruf "so" aus und nicht anders?
 
Die nächste Frage wird dann lauten: Warum sieht der Nachruf "so" aus und nicht anders?

Die betreffende Person war nach Angaben im Internet bis 1939 im Reichswirtschaftsministerium, also einer von Tausenden Funktionsträgern, die als Beamte die Machtübernahme als legal akzeptiert und schlicht weitergearbeitet haben, eben unter veränderten Bedingungen. Insoweit als Regierungsrat im RWiMin "Mitarbeit an der faschistischen Kriegsvorbereitung" laut DDR-Braunbuch.

vorgeworfen wurde: NSDAP-Mitgliedschaft ab 1.5.1933
und angebliche "GeStaPo"-Mitarbeit.

1939 - 1945 angeblich Kriegsteilnehmer und Gefangenschaft.
 
Der Herr war doch auch 1957 Innenminister und später 1961 auch Justizminister des Saarlandes.
 
@alle: Ich seh' schon, dass die "Quizfrage" viel zu leicht war.:hmpf:
Ich brauchte damals ein wenig länger, auch weil die Recherchemöglichkeiten geringer waren; Erich Später (Peter-Imandt-Gesellschaft) half mir dann auf die Sprünge.

Warum sieht der Nachruf "so" aus und nicht anders? habe ich den Verfasser des Nachrufs gefragt. Obwohl/Weil ich ihn weitläufig kannte, hat er mir nicht geantwortet.
Wie kann sein Verhalten erklärt werden?
Wie hätte eine aufrichtige und wahrheitsgemäße Antwort aussehen können?
 
Wusste gar nicht mehr, dass ich das habe (dort S. 49), nebst Graubuch; beide als alleinige Quelle sicher fragwürdig, aber zum Abgleichen wichtig. Bei Klee (Personenlexikon) und Wistrich (Wer war wer) fehlt mein Klient, ebenso bei Wulf (Diener / Denker / Vollstrecker) - ich nehm's mal als gutes Zeichen.
 
Angabegemäß Reichswirtschaftsministerium bis 1939, danach Wehrmacht.

Wenn das stimmt, dürfte er als Oberregierungsrat sicher nicht in unteren Rängen verweilt haben.

Wenn man hier weiter recherchieren will:
- Nachschlagewerke zu den Auszeichnungen
- Dienstalterslisten

Außerdem gibt es wohl Akten in den Adelsverzeichnissen.
 
Warum sieht der Nachruf "so" aus und nicht anders? habe ich den Verfasser des Nachrufs gefragt. Obwohl/Weil ich ihn weitläufig kannte, hat er mir nicht geantwortet.
Wie kann sein Verhalten erklärt werden?
Wie hätte eine aufrichtige und wahrheitsgemäße Antwort aussehen können?

Ich führe mal den Gedankengang weiter.

Variante 1: Der Verfasser hat vermutet, die "Lücke" im Lebenslauf fiele dem flüchtigen Leser nicht auf. - Das Wort "frühe" bringt einen jedoch sofort darauf.

Variante 2: Der Verfasser hat gemutmaßt, der Verblichene habe sich für die NSDAP-Mitgliedschaft geschämt. - Halte ich für unwahrscheinlich, weil die Kategorie der Scham jenem Personenkreis, der hier als Funktionselite vorgestellt word, weitgehend fehlt, soweit ich das überschaue. Aber es mag Ausnahmen geben.

Variante 3: Der Verfasser hat angenommen, dass die 12-jährige NSDAP-Mitgliedschaft des Verblichenen nicht ins Gewicht fällt angesichts dessen übriger Lebensleistung. - Das ist meine Hauptvariante, weil direkt oder indirekt sehr häufig vorkommend. Sie deckt u. a. folgende Teilaspekte ab:

a) Mitläufertum: X. ist zwar in der NSDAP gewesen, aber nur halbherzig oder pro forma. Er hat sich - Balduin-Zitat - eingeordnet, um "weitestgehend in Ruhe" sein Leben führen zu können.

b) Persönliche Schuldlosigkeit: X. konnte deshalb auch keine persönliche Schuld auf sich laden; er konnte insbesondere, selbst in seiner Stellung als höherer Ministerialbeamter, nicht wissen, dass es - Ursi-Zitat - "einmal einen Holocaust geben würde"; ob er zu den "vielen" gehört, "die sahen das es auf einen Krieg hinausläuft", bleibt zunächst mal offen.

c) Nach 1945 hat X. sich voll und ganz in den Dienst des Gemeinwohls gestellt, hohe Mandate und Ämter übernommen. Diese 30 Jahre zählen einfach mehr als jene 12. Er hat die Chance wahrgenommen, gewisse Irrtümer (insbesondere zur Natur und Realität des NS-Regime) durch seine praktische Arbeit in verantwortlichen Positionen wieder gut zu machen. Falls er doch so etwas wie Schuld empfand, hat er jedenfalls tätige Reue gezeigt.

Gibt es noch andere Varianten? Was ist von der Hauptvariante zu halten?
 
Aus den bisherigen Informationen würde ich mich Deiner Tendenz zu Variante 3 anschließen.

Allerdings gibt es ein "inneres" Loch der 12 Jahre, nämlich 1939-1945 Kriegsteilnehmer. Welche Funktion, welche Einheit?

Aus der Dauer der Gefangenschaft würde ich auf den Westen schließen.
 
Allerdings gibt es ein "inneres" Loch der 12 Jahre, nämlich 1939-1945 Kriegsteilnehmer. Welche Funktion, welche Einheit?

Ich weiß nicht, ob ich das herausfinden kann. Veröffentlicht ist hierüber nichts, auch nicht aus der "kritischen" Ecke, weswegen ich vermute, dass X. während des Krieges "unauffällig" war. Inwieweit würde das für die Beurteilung der These "NSDAP-Mitgliedschaft wird durch anschließende Tätigkeit für das Gemeinwohl wettgemacht" bedeutsam sein?

Die Frage, wo jemand in Gefangenschaft war, ist sicher nicht unwichtig: In vergleichbaren Fällen wurden Personen, die z. B. fünf Jahre in russischer Gefangenschaft verbracht haben, eine Art "Bonus" zuerkannt: "Die haben damals genug gelitten..." Ein typischer Milderungsgrund also in der Bewertung, der auch in Gerichtsverfahren durchaus zum Tragen gekommen ist.
 
Inwieweit würde das für die Beurteilung der These "NSDAP-Mitgliedschaft wird durch anschließende Tätigkeit für das Gemeinwohl wettgemacht" bedeutsam sein?

Nun ja, das kann man ohne Informationen eben nicht abschätzen.

Zwei Beispiele, ausdrücklich rein fiktiv:
RWiM - Rüstungswirtschaft (evt. OKW) - Besatzung Frankreich/beim Militärbefehlshaber West in Paris und Etappe oder
(höhere) Tätigkeit in einem Truppenverband, der an Kriegsverbrechen beteiligt war.

Ich suche mal.
 
Nun ja, das kann man ohne Informationen eben nicht abschätzen.
Zwei Beispiele, ausdrücklich rein fiktiv:
RWiM - Rüstungswirtschaft (evt. OKW) - Besatzung Frankreich/beim Militärbefehlshaber West in Paris und Etappe oder
(höhere) Tätigkeit in einem Truppenverband, der an Kriegsverbrechen beteiligt war.
Ich suche mal.

Ja, verstehe (und fühle mich verstanden): Ich habe das Bild einer Waage vor Augen, deren beide Waagschalen wir gemeinsam beladen. Mal sehen, wohin das trägt.

Zur Auflockerung noch ein literarisches Beispiel zum Stichwort "Wiedergutmachung": Jürgen von Mangers "Schwiegermuttermörder". Die hat der Täter umgebracht, "gesägt und innen Rhein-Herne-Kanal gekippt", und als ihm der Richter das letzte Wort erteilt, sagt der Täter: "Also ich möchte meine Untat durch ein schöneres Leben ... äh ... gut ... äh".
Es ist klar, dass sich die Strafjustiz auf solche Angebote ungern einlässt - aber wo und bei welcher Art von Verbrechen fängt der "Verhandlungsspielraum" eigentlich an?
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine erste These:

Wurde die Abteilung des Reichswirtschaftsministeriums 1939 mit Kriegsausbruch dem WiRüAmt/OKW unterstellt?

Wenn ja, würde sich "Wehrmacht 1939-1945" erklären.
 
Eine erste These:
Wurde die Abteilung des Reichswirtschaftsministeriums 1939 mit Kriegsausbruch dem WiRüAmt/OKW unterstellt?
Wenn ja, würde sich "Wehrmacht 1939-1945" erklären.

Das trifft zu! Aussage KEITEL am 3.4.1946: Diejenigen Funktionen ministerieller Art, die auf das OKW tatsächlich arbeitsmäßig übergegangen sind, wurden in einer Reihe von Ämtern vollzogen beziehungsweise bearbeitet, von denen ich die wichtigsten hier kurz mit ihren Funktionen nennen will. ... Dann das »Rüstungs- und Wirtschaftsamt«, wobei ich erwähnen muß, daß es im Jahre 1940 aufgelöst wurde und nur noch ein kleines Wehrwirtschaftsamt bestand, das sich hauptsächlich befaßte mit Nachschubfragen auf allen Gebieten der Verbrauchsgüter der Wehrmacht, die ich hier nicht mehr nennen will, wie Feuerung, Kohle, Treibstoff und so weiter
 
Dann das »Rüstungs- und Wirtschaftsamt«, wobei ich erwähnen muß, daß es im Jahre 1940 aufgelöst wurde und nur noch ein kleines Wehrwirtschaftsamt bestand, das sich hauptsächlich befaßte mit Nachschubfragen auf allen Gebieten der Verbrauchsgüter der Wehrmacht, die ich hier nicht mehr nennen will, wie Feuerung, Kohle, Treibstoff und so weiter

Na, da untertreibt er aber gewaltig, was den Chef Thomas und die Ämter angeht.
http://www.bundesarchiv.de/foxpublic/0615EB4C0A06221200000000A93F9734/findmittelinfo.html

Damit könnte XYZ so ziemlich überall dabei gewesen sein;

- "harmlose" Verbindungsstäbe bei den Heeresgruppen/Armeen
- aber auch Vorbereitung "Grüne Mappe" Sowjetunion
- Reichskommisariate (mit angehängter Verbindungsabteilung WiRüAmt)
- Militärbefehlshaber Frankreich (oder in Griechenland etc.)
etc etc.

ein Beispiel für die Brisanz (jetzt ohne das nochmal nachgeprüft zu haben):
KTB OKW 3. Oktober 1940
WiRüAmt: Vortrag über europäische Öllage und unsere eigene Kupferlage. Vorschlag, Kupfervorkommen zu besetzen. Weltweite große Kupfervorkommen: Polen, Schweden, Rußland, Südchina, Philippinen, Bougainville (Pazifik), Südkongo, Mexiko/USA, Peru, Chile, Kanada. Besetzung durch uns nur bei ersten drei möglich. Förderungsprogramm der Vorkommen im Generalgouvernement soll geschaffen werden."

Wo gibts jetzt die Personal-/Abteilungslisten für das WiRüAmt/OKW und Verbindungsstellen?
 
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Damit könnte XYZ so ziemlich überall dabei gewesen sein...
WiRüAmt: Vortrag über europäische Öllage und unsere eigene Kupferlage. Vorschlag, Kupfervorkommen zu besetzen. Weltweite große Kupfervorkommen: Polen, Schweden, Rußland, Südchina, Philippinen, Bougainville (Pazifik), Südkongo, Mexiko/USA, Peru, Chile, Kanada. Besetzung durch uns nur bei ersten drei möglich. Förderungsprogramm der Vorkommen im Generalgouvernement soll geschaffen werden."

Herzlichen Dank! :friends:
So gesehen, sind die stichwortartigen Verwürfe, die z. B. das "Braunbuch" erhebt, alles andere als unplausibel: X. war - bestenfalls! - ein typischer Manager/Bürokrat, den als Archetyp wohl Speer am besten verkörpert. Er hatte die erforderliche Intelligenz und formale Ausbildung für seinen Job - und wusste, was er tat.

Er scheint allerdings nicht so belastet gewesen zu sein, dass irgendwer ihn unter Anklage gestellt, seine Auslieferung verlangt oder dergleichen getan hätte. Näheres müsste seine Entnazifizierungsakte enthalten, die allerdings nicht auffindbar ist.
 
X. war - bestenfalls! - ein typischer Manager/Bürokrat, den als Archetyp wohl Speer am besten verkörpert. Er hatte die erforderliche Intelligenz und formale Ausbildung für seinen Job - und wusste, was er tat. Er scheint allerdings nicht so belastet gewesen zu sein, dass irgendwer ihn unter Anklage gestellt, seine Auslieferung verlangt oder dergleichen getan hätte.

Dazu fehlte wohl Anfang der 50er schlicht der Überblick.
Das WiRüAmt/OKW war nicht so ohne, s.o. ... :grübel:Weiterhelfen würde eine Stellenbesetzung 1941/42.

Und bei Speer denke ich an Nordhausen...


P.S. Danke an die Moderation ... :winke: :yes:
 
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