Entstehung des Antisemitismus

Wieger

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Es gibt die marxistische These, dass der Faschismus der Nothebel des Kapitalismus ist, um die Gesellschaftsformation am Leben zu erhalten (Um sie kurz zu umreißen). Einige kennen diese These vielleicht.
Ein Student meinte zu mir neulich, dass die Kritik (an der These) daran besteht, dass sie die Ursachen des Antisemitismus verkennt und nur auf die Ökonomie schaut, wobei ich mich nun frage, wie genau ist Antisemitismus oder meinetwegen Antijudaismus entstanden, da ich mich im Altertum mehr schlecht als recht auskenne?! Ich vermute nämlich, dass auch die sozioökonomischen Verhältnisse den Ausgangspunkt bilden.
 
Da muss man einen Unterschied zwischen dem religiösen Antisemitismus und dem nationalistisch-rassistischen Antisemitismus machen. In der Antike und Mittelalter war der Hintergrund religiös, ab der Neuzeit 19. und 20. Jahrhundert wurde es dann nationalistisch-rassistisch.

Ich kann dir dieses Buch empfehlen, dass die geschichte des Antismemitismus sehr gut aufzeichnet:

Geschichte des Antisemitismus von Werner Bergmann

Amazon.de: Geschichte des Antisemitismus: Werner Bergmann: Bücher

Und auf Shoa.de gibt es auch einen sehr guten Artikel dazu:

Shoa.de - Antisemitismus

Ich zitiere:

Im Jahr 1096 z.B. wurden in ganz Europa Tausende von Juden getötet und vielerorts ganze jüdische Gemeinden ausgerottet. Diese Pogrome entstanden z.T. aus der christlich-religiösen Überzeugung, die Juden seien die Feinde der Christen. Die Opfer wurden so zu Sündenböcken gestempelt und für damals rational nicht erklärbare Naturkatastrophen, Hungersnöte und Seuchen verantwortlich gemacht. Infolge weiterer Stereotypisierungen wurden Juden als Mörder kleiner Kinder, als Hostienschänder und Brunnenvergifter verleumdet und verfolgt. Als 1348 eine Pest Europa verheerte, stellte man dies als Strafe Gottes dafür dar, dass die Christenheit die Juden noch nicht aus ihrer Mitte entfernt habe. Fortan kasernierte man Juden in gesonderten Stadtteilen, den Ghettos und zwang sie, sich durch besondere Kleidung als Juden zu erkennen zu geben. Das fanatisierte Klima der Kreuzzüge (11.-13. Jahrhundert) trug wesentlich zu dem von der katholischen Kirche bis in die 1960er Jahre offiziell aufrechterhaltenen Vorwurf gegenüber den Juden als „Christusmörder“ bei.

Oft hatte der Antisemitismus wirtschaftliche Ursachen. Beispielsweise warf man Juden vor, sich auf Kosten von Nichtjuden zu bereichern. Da es Christen im Mittelalter aus religiösen Gründen versagt war Zinsen zu nehmen, blieben die Geldgeschäfte oft den Juden vorbehalten. Dies führte dazu, dass viele Christen bei Juden verschuldet waren. Die meisten anderen Berufe waren ihnen verschlossen. Aus der Landwirtschaft wurden sie verdrängt, und ein Handwerk konnten sie nicht ausüben, weil sie als Nichtchristen kein Mitglied einer Zunft werden durften. So blieb ihnen nur das Geldgeschäft und der Kleinhandel.
 
Zuletzt bearbeitet:
[...] wie genau ist Antisemitismus oder meinetwegen Antijudaismus entstanden [...]?! Ich vermute nämlich, dass auch die sozioökonomischen Verhältnisse den Ausgangspunkt bilden.

Der Marxismus bzw. die marxistische Geschichtstheorie geht eigentlich alles vom sozioökonomischen Standpunkt aus an. Manchmal ist das als Methode stimmig, hier aber wohl eher nicht oder erst in einem zweiten Schritt. Denn zunächst werden die sozioökonomischen Gründe für einen späteren Antijudaismus der auf Wuchervorwürfen etc. basiert dadurch geschaffen, dass Juden quasi nichts anderes bleibt, als den verpönten Arbeiten nachzugehen. Landbesitz etwa war Juden verboten; es muss zwar jüdische Handwerksbetriebe für den speziell jüdischen Bedarf gegeben haben, etwa Schlachter oder Kunsthandwerker, aber an sich war den Juden auch die "ehrliche" Arbeit des Handwerks untersagt, Christen dagegen durften zunächst nicht "wuchern", also Geld ohne Wertschöpfung erwerben. Die Juden wurden also erst durch den Antijudaismus in ihre gesonderte sozioökonomische Stellung gebracht.

Da Du das ganze ja von der These des Faschismus als letztem Aufbäumen gegen des Kapitalismus gegen die Revolution her aufziehst noch zwei Anmerkungen:
1.) Diese These ist aus dem Schock der Marxisten der zwanziger und dreißiger Jahre entstanden, die plötzlich merkten: auf den Kapitalismus folgt nicht die sozialistische Revolution. Sie brauchten für ihr Denksystem - den HistoMat - eine stimmige Erklärung des Faschismus.
2.) Faschismus ist nicht zwingend antisemitisch. Der Antisemitismus war bei italienischen oder spanischen Faschisten kaum spürbar. So gab es in der Falange Española durchaus Antisemiten, aber eben auch solche, die in den Sepharden Botschafter der Hispanidad in anderen Ländern sahen. Und der Vater des Gründers der Falange (José Antonio Primo de Rivera), Miguel Primo de Rivera war derjenige, der das Dekret der Vertreibung der Juden aus Spanien vom März 1492 wieder aufhob.
 
Hallo @Wieger, schön dich mal wieder zu lesen!

Vielleicht noch ein paar Anmerkungen zum Wirtschaftleben auf dem flachen Land. Denn dort erfüllten sie eine durchaus wichtige Rolle. El Quijote hat schon darauf hingewiesen, dass Juden weder einer Zunft beitreten konnten, noch Land erwerben durften. Juden waren im 17. und 18. Jahrhundert längst schon zu Ausbeutungsobjekten der Obrigkeiten geworden. Etliche Duodezfürsten hielten sich Juden wie Milchkühe, um dann für Schutzbriefe zu kassieren. Ein Schutzbrief war befristet, und wenn die Herrschaft wechselte, waren die Gebühren erneut fällig. Der Markgraf von ansbach zwang die jüdische Gemeinde alle ausgemusterten herschaftlichen Gäule zu einem festen Tarif aufzukaufen. Ein hessischer Schutzjude mußte die in den landgräflichen Forsten geschossenen Wildschweine aufkaufen. Interessant, dass der Landgraf (Friedrich II.) einem anderen Schutzjuden, der sich als Besitzer einer Uniformmanufaktur verdient gemacht hatte, das Privileg der hohen Jagd verlieh.

Aufmerksamen Betrachtern fiel schon im 18. Jahrhundert auf, dass im Kleinkreditwesen ebensooft Juden die Betrogenen waren wie umgekehrt. Oft handelte es sich dabei um Klein- und Kleinstkredite mit extrem langer Laufzeit. Oft war es für Juden schwierig, ihr Geld zurückzubekommen, und oft mußte für die Verarmung weiter Bevölkerungsteile und schlechte Zahlungsmoral das Schlagwort vom "jüdischen Wucher" herhalten. Als die Franzosen in den von Frankreich annektierten teilen Deutschlands und den Sattelitenstaaten Juden gleichberechtigt wurden, hieß es oft, die Besatzer würden die Juden bevorzugen.

Das einzige wirklich lukrative Gewerbe, das Juden offenstand, war der Juwelen und Diamantenhandel. Viele Hoffaktoren gingen aus diesen Kreisen hervor. Einige wie die Söhne des alten Mayer Amschel Rothschild stiegen bis in den Adelsstand auf, andere wie Joseph Süß Oppenheimer konnten auch tief stürzen.

Auf dem flachen Land spielten Juden als Als Vieh- und Häutehändler und häufig als gesuchte Veterinäre eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben. Die Klein- und Kleinstkredite wären von anderen Geldverleihern wohl niemals vergeben worden. Dabei waren die Zinsen noch durchaus maßvoll zu nennen, wie ich aus einer archivalischen Quelle erfuhr.

So lieh sich ein gewisser Johann Siebert von dem hessischen Juden Leib Wallach 1 Reichstaler und 18 Albus gegen 8% Zinsen. Siebert löste den Schuldschein nach über 12 Jahren gegen den endgültigen Betrag von 3 Rthl und 25 Albus ein.
 
Es ist richtig, dass die Fürsten die Juden gerne ausgenommen haben. Allerdings schützten sie Juden auch häufig vor Übergriffen der Bevölkerung und bei Pogromen.
Exemplarisch interessant ist der Umgang der Reichsstadt Wetzlar im 14. Jhdt. mit ihren Juden. Deren Vertreibung 1349 wird als einer von mehreren Faktoren in Zusammenhang gebracht mit dem Stadtbankrott einige Jahre später und der langen wirtschaftlichen Krise der Reichsstadt:

Geschichte der Juden in Wetzlar - Website © by: Daniel Puscher
 
Es gibt die marxistische These, dass der Faschismus der Nothebel des Kapitalismus ist, um die Gesellschaftsformation am Leben zu erhalten (Um sie kurz zu umreißen). Einige kennen diese These vielleicht.

Von welchem marxistischen Thesenschreiber stammt das? Marx kann es bekanntlich nicht gewesen sein.
 
Von welchem marxistischen Thesenschreiber stammt das? Marx kann es bekanntlich nicht gewesen sein.

"Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals."
Georgi Michailowitsch Dimitroff (damaliger Komintern-Vorsitzender)

Das mussten wir in der Schule (DDR) auswendig lernen. Finde ich aber ziemlich eindimensional gesehen.
 
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Von welchem marxistischen Thesenschreiber stammt das? Marx kann es bekanntlich nicht gewesen sein.

Interessanter Hinweis.
Lenin schrieb noch 1916: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.

Es ist so wie El Quijote schrieb: das Aufkommen des Faschismus in europäischen Staaten stellte die Kommunisten zunächst vor ein Rätsel und gegenüber den eigenen Reihen vor (theoretischem) Erklärungsbedarf. Italien war hier der Auslöser. Wenn ich das aus den frühen Konferenzen der Internationale im Kopf habe, beruhigte man sich bereits Mitte der 20er damit (Hitler war noch nicht in den Köpfen), dass es eine vorübergehende Erscheinung im Auslaufstadium des Kapitalismus sei. Ich meine, hier einmal im Forum etwas von einer Konferenz in dieser Richtung zitiert zu haben, finde das aber nicht wieder. Die These muss in Stalins Zeiten, und direkt nach Mussolinis Erfolg entstanden sein.

Mit Antisemistismus hatten diese Betrachtungen der 20er Jahre wenig zu tun, zum älteren zB
http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Chrysostomos

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das der geläufige historische Erklärungsansatz der kommunistischen Seite für die Geschehnisse 1918-1945.
 
Das ist eine sehr interessante Fragestellung, zumal sie gerade meinen Lesestoff berührt. Insofern auch mein Dank für die Links.
Scorpio hat mir vor einiger Zeit u.a. "Die Buchsweilers" von Valentin Senger empfohlen und obwohl mir zu Beginn das Lesen sehr schwer gefallen ist, mußte ich es dann ganz schnell zu Ende bringen. Es geht zwar nicht an die Anfänge des Antisemitismus zurück (es spielt im 18./19.Jh.), aber viele der Argumente, die Ursi, El Quijote und Scorpio hier genannt und untersetzt haben, findet man wieder. Es wird die Geschichte von Vater und Sohn und natürlich der sie umgebenden Personen über fast drei Generationen erzählt und die Schwierigkeiten der Juden im zersplitterten Deutschland.
 
Oder Kurt Gossweiler hat sich wirklich eingehend mit dem Faschismus beschäftigt.
Really? ;)
Der dürfte allerdings noch heftig pubertiert haben, als diese These bereits in der Welt war.

Die ganze Fragestellung macht im übrigen mE nur Sinn, wenn man einer ökonomischen Programatik folgt und - wie von kommunistischer Seite Mitte der 20er betrieben - Erklärungsbedarf für solche historisch/ökonomischen Abläufe im eigenen Modell sucht. Man könnte von außen und ohne selektive Wahrnehmungen im eigenen Modell auch nach anderen Erklärungen für den "kommunistischen Erklärungsbedarf" suchen: der Faschismus zB in Italien als Konkurrenzmodell zum Kommunismus bei den Arbeitern. Nicht zuletzt bei Mussolini war es anfangs ein Gebräu aus Anschauungen, aus sozialistischen Anschauungen und Faschismus, bis sich das einpendelte.
http://www.geschichtsforum.de/317078-post6.html
 
"Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals."
Georgi Michailowitsch Dimitroff (damaliger Komintern-Vorsitzender)

Dimitroff ist mir ein Begriff. Dass sich so ein Lenin- und Stalin-Liebediener Marxist schimpft ist anarchronistisch.
 
Es gibt die marxistische These, dass der Faschismus der Nothebel des Kapitalismus ist, um die Gesellschaftsformation am Leben zu erhalten (Um sie kurz zu umreißen). Einige kennen diese These vielleicht.

"Aufhaltung des wirtschaftlichen Zerfalls durch Machtmittel", so auch "Faschismus als Waffe des Kapitals" (Mussolini in Italien, die befürchtete "Regierung Stinnes" in Deutschland): Radek 1922/23.
http://www.geschichtsforum.de/f66/faschismus-als-ideologie-des-kapitalismus-17434/

Dagegen die Analysen Trotzkis auf dem III. Komintern-Kongress: in Italien wird die Ablösung des Faschismus durch die Diktatur des Poletariats nicht gelingen können, da der Faschismus schneller zerfalle als die kommunistische Partei Italiens erstarke: prognostiziert wird eine Zwischenphase der Reformisten des Kapitalismus: "Die Offensive des Kapitals 1921 - 1923". Verbunden mit Kritik an der KPI, sich nicht mit den Faschisten zu verbrüdern (Zinov).

Streit herrschte also darüber, ob der Faschismus Teil der Revolutionierung sei - als letzte Waffe des Kapitals (Radek) - oder Antwort/Ergebnis der Revolutionierung in Konkurrenz zur Diktatur des Proletariats (Trotzki/Zinov).

Die Nachkriegsdoktrin lief dann auf die erste Alternative hinaus, unter dem Eindruck der Ereignisse:
"England, Frankreich und die USA hatten gehofft, durch die Politik der Befriedung die imperialistischen Widersprüche zwischen ihnen (=alte imperialistische Mächte) und der faschistischen Mächtegruppe (=neue imperialistische Mächte) überbrücken zu können. Verblendet vom Klassenhass gegen die UdSSR, wollten sie die Kräfte der faschistischen Reaktion gegen den Fortschritt lenken, um das sozialistische Land zu vernichten ... Die amerikanischen und britischen Monopole hatten Deutschland geholfen, wiederaufzurüsten und eine gewaltige Kriegsmaschinerie zu schaffen. ...Sie machten damit den Weg für den Aggressor frei und lieferten eine Reihe europäischer Länder den Faschisten aus. ...
Die Neuaufteilung der imperialistischen Welt .... beseitigte nicht nicht Widersprüche, die zum Ersten Weltkrieg geführt hatten, im Gegenteil, sie schuf alle Bedingungen für eine weitere Verschärfung der Widersprüche und für einen neuen zusammenstoß. Die allgemeine Krise des Kapitalismus, die sich im Ergebnis des Ersten Weltkrieges und des Sieges der Oktoberrevolution entwickelt hatte, vertiefte alle inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems. Besonders scharfe Widersprüche traten zwischen den alten und den jüngeren imperialistischen Mächten aufdie sich infolge der Ungleichmäßigkeit nach vorn schoben, sowie zwischen den Siegerstaaten und den besiegten Ländern, die nach Revanche lechzten."

Boltin/Telpuchowski, Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion, Band 1.
 
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