Zunächst ist festzuhalten, dass „Verfassungen“ für nahezu jedes – moderne - politische System vorhanden sind. Ein interessantes Beispiel wäre dabei die sowjetische Verfassung von 1936 („Stalin-Verfassung“), die mit einem sehr hohen Aufwand formuliert und legitimiert wurde. Die Verfassungsrealität und die –Wirklichkeit sind dann jedoch nicht notwendigerweise identisch.
In diesem Sinne geht auch Fraenkel bei der Beurteilung des „Ermächtigungsgesetzes“ als sogenannte „Verfassungsurkunde“ von einer Sollvorstellung aus. Er schreibt: „Seit den Tagen des Aristoteles ist stets von neuem wiederholt worden, dass die beste Verfassung eines Staates eine gemischte Verfassung sei.(Fraenkel, 1963, S. 44).
Ruck ordnet die Reichstagsbrandverordnung dahingehend ein, dass sich der „Aufbau des – zumindest tendenziell – totalitären Führerstaates im Zeichen des permanenten Ausnahmezustand und das Ermächtigungsgesetz vom 24.03.1933 erfolgte und stellte in formeller und materieller Hinsicht ebenso einen klaren Verfassungsbruch dar. “ (S. 35).
In diesem Kontext zitiert Ruck Fraenkel in der US-Orginalausgabe von 1941 (S. 26): „Die Verfassung des Dritten Reiches ist der Belagerungszustand. Seine Verfassungsurkunde ist die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28.02. 1933.“
Ähnlich formuliert Bracher u.a., dass das Ermächtigungsgesetz die Grundlage der Herrschaftsausübung des NS-Systems bis zu seinem Zusammenbruch 1945 gebildet hat. (S. 82)
Damit wurde die Weimarer Reichsverfassung 1933/34 de facto aufgehoben (Ruck, S. 35)
In Reaktion auf diesen neuen Zustand referiert Neumann die Sichten der „Rechtsgelehrten“ des NS-Systems, die vom Ermächtigungsgesetz als „dem Grundstein einer neuen Verfassung sprechen“ (S. 82).
Folgt man den Ausführungen von Fraenkel zum Doppelstaat dann existierte weder ein objektives noch ein subjektives Recht. Es fehlen somit die Normen, aber es herrschen die „Maßnahmen“. (vgl. Ruck, S. 37). Eine abweichende Situation ist für den Wirtschaftsbereich zu erkennen.
Eine Reihe von NS-Führern wollten aus dem „verfassungsrechtlichen Niemandsland“ die neue „souveräne Diktatur“ mit einer entsprechenden Verfassungsreform auf den Boden einer „autoritär rechtsstaatlichen Ordnung“ stellen. Weil klar war, dass das „Ermächtigungsgesetz“ die „Verfassung“ eines „Polizeistaates“ war.
Diese Diskussion über die Fundierung des „Führerstaates“ durch eine NS-Verfassung wurde durch Hitler persönlich im Frühjahr 1935 unterbunden (Ruck, S. 46). „Hitler dachte mitnichten daran, seinen Status als unumschränkter Herr des permanenten Belagerungszustandes durch konstitutionelle Normen eingrenzen zu lassen.“ (Ruck, S. 46).
In diesem Sinne spiegelt das „Ermächtigunsgesetz“ die Verfassungswirklichkeit einer Diktatur wider, in der Recht situativ definiert wurde. Seine Rechtfertigung bzw. Legalität und Legitimität fanden Rechtsnormen durch idealisierte "Volkswohl" und durch die "Einsicht" des Führers in die Mechanismen der Geschichte.
Aber dieses Gesetz war in Fraenkels Auffasssung sicherlich keine "Verfassung", die seinen Vorstellungen von idealisierter Verfassung entsprach.
Bracher, Karl Dietrich; Sauer, Wolfgang; Schulz, Gerhard (1962): Die Nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34. Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag
Fraenkel, Ernst (1963): Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus. In: Theodor Eschenburg und u.a. (Hg.): Der Weg in die Diktatur. 1918 bis 1933. München: Piper, S. 29–46.
Fraenkel, Ernst (2001): Der Doppelstaat. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Fraenkel, Ernst; (2017): The dual state. A contribution to the theory of dictatorship. Oxford, United Kingdom: Oxford University Press.
Neumann, Franz (2004): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
Ruck, Michael (1992): Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge - Verfassungsstrukturen des NS-Staates. In: Karl Dietrich Bracher und Manfred Funke (Hg.): Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bonn: Bundeszentrale für Politische, S. 32–56.