Flottenwettrüsten - Motive Kaiserreich

"Die offizielle Argumentationslinie für den Ausbau zu einer der größten Flotten der Welt, war keineswegs, wie man bei einer Landmacht, wie Deutschland es nun einmal war, vermuten könnte, der Schutz der eigenen Küsten, nein, nein, als Grund wurde der Schutz der Handelsinteressen im Übersee bemüht."

Für den Schutz der Handelsinteressen in Übersse waren die großen Pötte allerdings völlig ungeeignet. Dann hätte der Reichstag doch nur Kreuzer statt Schlachtschiffe freigeben düfen.

"Die Flotte sollte matürlich auch abschreckend wirken, das bedeutet, das sie so stark sein musste, das der eventuelle Gegner, wegen der zu erwartenden nicht ganz unbeträchtlichen Verluste, davon abgehalten wird anzugreifen."

Genau das ist der Kackpunkt. Warum sollte England angreifen? Was versprechen sich die Briten von einem Angriff zur See aufs Kaiserreich. Deutschland hätte doch wenn überhaupt eigentlich nur Kreuzer bauen müssen wenn man in Übersse agieren möchte. Einige taten dass ja dann auch sehr gut und waren eine weitaus größere Gefahr als die Schlachtflotte selbst.

@balticbirdy: Mit den 5000 Seemeilen mag sein wobei sich die Reichweite unter Volldampf bestimmt noch einmal um die Hälfte reduziert hätte (gefährliches Halbwissen meinerseits)
Wobei doch fakt ist, dass die deutsche Marine eine wesentlich bessere Ausgangslage hatt bei einem evt. Angriff auf britische Häfen. In welchem Hafen lag eigentlich das Gros der britischen Schlachtflotte?

Vielen Dank im übrigen für eure guten Beiträge!
 
Die Flotte war Prestigeobjekt allerersten Ranges. Man kann es sich heute kaum vorstellen, welche Popularität ihr Ausbau vor allem in "vaterländisch gesinnten" bürgerlichen Kreisen hatte.
Deutscher Flottenverein ? Wikipedia
Wenn man dann noch Uropas Kinderfoto betrachtet - damals waren Matrosenanzüge bei Knaben gängige Bekleidung.
 
@balticbirdy: Mit den 5000 Seemeilen mag sein wobei sich die Reichweite unter Volldampf bestimmt noch einmal um die Hälfte reduziert hätte (gefährliches Halbwissen meinerseits)
Volldampf (21,5 Knoten) wurde doch nicht auf dem Marsch gefahren, das hielten die Maschinen nicht allzulange aus. Im Krieg lag das Gros der Home Fleet übrigens in Scapa Flow (Orkneys) und kontrollierte somit den Nordseezugang.
 
Genau das ist der Kackpunkt. Warum sollte England angreifen? Was versprechen sich die Briten von einem Angriff zur See aufs Kaiserreich. Deutschland hätte doch wenn überhaupt eigentlich nur Kreuzer bauen müssen wenn man in Übersse agieren möchte. Einige taten dass ja dann auch sehr gut und waren eine weitaus größere Gefahr als die Schlachtflotte selbst.

In den deutschen Überlegungen spielt auch Kopenhagen eine Rolle. Die Briten haben 1801 die weitgehend wehrlose dänischen Flotte angegriffen und fast vollkommen zerstört, um präventiv zu verhindern, das diese für Napoleon eingesetzt werden könnte.

Davor hatte die Reichsleitung natürlich Sorge, denn so lange sie deutsche Flotte nicht eine gewisse Stärke erreicht hatte, war sie der britischen gegenüber mehr oder weniger ohne Chance, war sie eine Risikoflotte.

Ein großer Teil der deutschen Flotte lag in der Nord- und nicht in der Ostsee und hierdruch fühlten sich die Briten durchaus bedroht, so das die Home Fleet verstärkt wurde. Dies wurde u.a. dadurch erreiche, in dem Schiffe aus Übesee abgezogen wurden und das war möglich geworden, weil Großbritannien seine weltpolitischen Spannungen mit Japan, Frankreich ,USA und Russland weitesgehend abgebaut hatte.
 
Zuletzt bearbeitet:
"Davor hatte die Reichsleitung natürlich Sorge, denn so lange sie deutsche Flotte nicht eine gewisse Stärke erreicht hatte, was sie der britischen gegenüber mehr oder weniger ohne Chance, eine Risikoflotte."

Ok, so langsam ergibt sich für mich ein klareres Bild. Aber eine existenzielle Bedrohung wäre das auch nicht gewesen, schon gar nicht, wenn man nur wenige Schiffe gehabt hätte.
Hätte es dann nicht ausgereicht nur Kreuzer zu bauen die weniger bedrohlich auf England gewirkt hätten. Ein Präventivschlag der Engländer wäre dann doch kaum denkbar gewesen.
Ich verstehe den Zusammenhang so: Deutschland brauchte Schiffe um als Weltmacht in Übersse mitzumischen. Sie wollten aufrüsten und genau durch diese Aufrüstung (1+2Flottengesetz) fühlte sich England bedroht und rüstete ebenfalls auf. Beim Dreadnoughtsprung war man schon klar auf Konfrontationskurs. Ab hier lasse ich den Risikogedanken Tirpitz`s gelten.
Der Risikogedanke Tirpitz`s existiert aber schon seit seinem Amtsantritt und da brauchte das Kaiserreich nun wirklich nicht einen Angriff (Präventivschlag) der Engländer befürchten. Das Flottenbauprogramm wurde doch von Anfang an durch den Risikogedanken gestützt in einer Zeit als die französische und russische Flotte bedeutender waren als die Deutsche. Es scheint als wär der Reichtag ebenfalls vom Weltmachtgedanken besessen gewesen.
 
Man ging im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit Großbritannien davon aus, das die Briten zu dem Mittel der Nachblockade greifen würden. Um diese zu durchbrechen, wurde eine große Seeschlacht angestrebt und dazu sollte eben die Flotte dienen, die herifür natürlich eine gewisse Stärke benötigte.

Sehr gut zusammengefasst, dass deutsche Flotteninteresse. Nur den Punkt mit der Nahblockade habe ich nie verstanden. Wieso rechneten die deutsche Admiralität mit einer Nahblockade und wie hätte die ausgesehen? Die britischen Dreadnought-Flotte kann doch schlecht die deutsche Küste entlang patroullieren und Handelsschiffe überprüfen. Und aufteilen kann man die auch nicht.


Ok, so langsam ergibt sich für mich ein klareres Bild.

Ein Aspekt der ab und zu erwähnt wird, ist, dass die Deutsche Flotte England vom Kontinent aussperren sollte, um den deutschen Hegemonialkrieg zu ermöglichen. GB konnte nur auf dem Festland Krieg führen, solange die See fest in britischer Hand war, also hätte die Flotte GB als "Macht des Gleichgewichts" neutralisieren können.
 
Nur den Punkt mit der Nahblockade habe ich nie verstanden. Wieso rechneten die deutsche Admiralität mit einer Nahblockade und wie hätte die ausgesehen? Die britischen Dreadnought-Flotte kann doch schlecht die deutsche Küste entlang patroullieren und Handelsschiffe überprüfen. Und aufteilen kann man die auch nicht.

So nah nun vielleicht auch wieder nicht, aber im Gegensatz zur Fernblockade bis nach Norwegen/Island gibt es Abstufungen :winke: Nahblockade lag bis zur Zeit vor den Dreadnoughts und bei entsprechender Überlegenheit auch unmittelbar an den Häfen. Die Zeit dürfte aber mit den Möglichkeiten des Minenlegens weitgehend vorbei gewesen sein. Immerhin sah das gültige Seekriegsrecht noch Hafenblockaden vor; zum US Civil War mit seinen Küstenblockaden waren es auch nur 40 Jahre Abstand.

Die deutsche Seite rechnete zunächst (bis 1913) mit Nahblockade, weil das eine Frage von Seekriegsdoktrin, Erfahrungen und Ankündigungen war, also kein Geheimnis.
 
Hallo Zusammen,

ich würde auch gern ein paar Schlagworte zu diesen Thema einwerfen, die nicht zu vernachlässigen wären, wenn man nach den Gründen oder Motiven sucht, warum das Kaiserreich eine große Flotte aufgebaut hat.

Ich würde da nicht erst 1897 beginnen, denn zu diesen Zeitpunkt war die Idee über eine große Flotte in Deutschland schon lang vorhanden.

Das Flottenwettrüsten ist eigendlich vom Zeitraum her mit der Industrialisierung des 19.Jharhunderts gleichzusetzen und fand bis in die 70iger Jahre vornehmlich zwischen England und Frankreich statt.
In Deutschland bzw. in Preußen wurden mehrere Anläufe gestartet ein Flotte aufzubauen, die immer wieder scheiterten.
Ich möchte da das Datum 1815 nennen, desweiteren die Bundesflotte von 1848, der Aufbau der Preußischen Flotte ab den 1860iger Jahren, die bis zu Reichsgründung in die Flotte des Norddeutschen Bundes aufging.
Hierbei gibt es die ersten richtigen Flottenbaubläne aus dem Jahr 1873, die auch für Tirpitz eine Gewisse Grundlage bildeten.

Anfang der 70iger Jahre rangierte die neue deutsche kaiserliche Marine sogar auf dem 3. Platz in der Reihe der großen Seemächte. Dies geschah unter dem Admiral Stosch. Einziges Problem dieser Zeit in Deutschland war, das die innere Struktur der Marine a.) der des Heeres glich und b.) auch von Führungskräften des Heeres geleitet wurden. So wie Stosch und auch Caprivi in den 80iger Jahren.
Hinzukommt, das durch die Indutriealisierung im Seekriegswesen die strategische und taktischen Ausrichtung einer Marine und ihrer Schiffe zu diesen Zeitpunkt nicht nur in Deutschland unklar war, sondern allgemein in einem Prozeß der Findung war, der mit den 90iger Jahren seinen 1. Abschluß fand. Es gab viele "Schulen" und Theorien, wie die moderne Flotte auszusehen habe, die den Fortschritt immer wieder blockierten.

So war es für jede größere Nation mit Zugang zum Meer wichtig, auch seine politischen Interessen sowie seinen technologichen Fortschritt in Form einer großen Schlachtflotte, bestehen aus Panzerschiffen, darzustellen. Der Schutz der neuen Handelsgebiete des neuen Kolonialismus zwang die Nationen dannach, den Schutz dieser Aufrecht zu erhalten und mit den modernsten Mitteln zu gewährleisten.

Als in den 90igern Jahren sich eine einheitliche Linie über die Zusammensetzung einer modernen Flotte formten, begann man dies in großen Flottenbauprogrammen zu bündeln, da a.) der Bau von Einheitstypen für mehr Quantität sorgte und b.) so läßtige Bewilligungen von Einzelschiffen vor den parlamentarischen Regierungen vermieden werden konnte.

In Deutschland wurde dies durch den Machtantritt Kaiser Wilhelms gefördert, aber dies war m.E. nicht ausschlaggebend für die Art und Weise des Aufbaus der kaiserlichen Marine, denn dies begann erst ab 1900 mit dem zweiten Flottegesetz so richtig, da war Wilhelm II. aber schon wieder über 10 Jahre an der Macht.

Fazit meiner seits: Die Gründung der Deutschen Flotte geht auf die 70iger Jahre zurück, die auch hier schon teilweise die Gründe für die Motive einer Flotte legten. Ganz wichtig wäre zu erwähnen, daß der aufstrebende deutsche Imperialismus als Ausdruck seiner Macht und als außenpolitisches Instrument gezwungen war, eine Flotte aufzubauen, ob nun mit Wilhelm II. oder ohne Ihn.
Als geistige Nahrung für den Aufbau der Flotte diente, wie damals in fast allen großen Nationen, die Gedanken des Mahan als Grundlage für das Seemachtdenken.

Das Flottenwettrüsten an sich, beginnt zwischen Deutschland und Großbritannien erst in den letzten 10 Jahren vor den Ausbruch des 1.WK, da Deutschland den erneuten Technologiesprung, der von England vorgegeben wurde annam und somit der Wettkampf eröffnet war.
 
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Hallo Köbis,

ein interessanter Beitrag.

Das Großmachtdenken bzw. der -anspruch ist Ende des 19. JH fast dogmatisch mit der Vorstellung einer entsprechend großen Kriegsflotte verknüpft worden, nach der These: keine Großmacht ohne Seemacht.

Als der Bauwettlauf einsetzte, fand man dann schnell ergänzende Argumente, neuzeitlich Investitionsförderung bzw. Investitionsimpuls durch Flottenbau. Eine völlig andere Ebene: viel Geld und Zeit wurde darauf verwandt, Werbung für den Flottenneubau als Konjunkturstütze zu machen. Klar, dass dieses Argument in der Krise besonderes hervortrat.

Schließlich die reine strategische Kalkulation: Schutz der Handelsflotte und der Kolonien. Bei diesem Argument läßt sich rational kaum eine Effizienz der Flottenrüstung darstellen - stellt man sich hier so etwas wie eine "Flottenintensität" (Flottengröße in Relation zu (Bedeutung Kolonien+tatsächlich zu schützender Außenhandel)) vor, und mißt man das am Etat, kommt man schnell zur "Champagner"flotte und mittelbar über die Reichsanteile an der reformierten Erbschaftsteuer 1906/09 zur Reichsfinanzreform.:still:
 
Schließlich die reine strategische Kalkulation: Schutz der Handelsflotte und der Kolonien. Bei diesem Argument läßt sich rational kaum eine Effizienz der Flottenrüstung darstellen - stellt man sich hier so etwas wie eine "Flottenintensität" (Flottengröße in Relation zu (Bedeutung Kolonien+tatsächlich zu schützender Außenhandel)) vor, und mißt man das am Etat, kommt man schnell zur "Champagner"flotte und mittelbar über die Reichsanteile an der reformierten Erbschaftsteuer 1906/09 zur Reichsfinanzreform.:still:

Na der Ausbau einer Flotte mit dem Motiv rein die Handelswege sowie die Kolonien zu schützen, würde es schwer machen, die Notwendigkeit einer Schlachtflotte, bestehend aus Linienschiffen als Kern, finanziell zu rechtfertigen, denn dafür benötigte man diese Art von Schiffstyp nicht.

Der Ausbau rein auf den Überseeschutz hätte ein Flotte bestehend aus Panzerkreuzern, geschützten Kreuzern, Kanonenbooten usw. notwendig gemacht, was aber dazu geführt hätte, das diese Flotte nur auf einen Teil der Motive der Seemacht ansich aufgebaut wäre, was dazu geführt hätte, das es eine Marine 2. Ranges geworden wär. Bestes Beispiel ist die Flottenpolitik Frankreichs ab den 70/80iger Jahren, die sich ihre Flotte durch die Theorie des Handelskrieges bis zu Bedeutungslosigkeit zurückentwickelt hatte, oder anders gesagt, die Entwicklung ging in eine Sackgasse.

Ab Tirpitz ging der Weg also eindeutig in Richtung "Schlachtflotte" als Kern der Marine, beispiel war wohl hier dann auch Großbritannien mit dem Naval Defenc Act von 1889.
 
Übrigens zum Thema Ausbau der deutschen Flotte bzw. Ausbau der einzelnen Schiffsklassen habe ich etwas interessantes gelesen, dass die doch immer so hohe Qualität der deutschen Schiffe in ein rechtes Licht rückt. Dies bezieht sich dabei weniger auf die Konstruktionen als Klasse und Typ, sondern mehr auf die Qualität der einzelnen Bauausführung der Werften.

BAMA RM 3/23664, Schlußbericht der Schiffsprüfungskommision SMS Oldenburg

"Gleichwohl wiesen die elektrischen Anlagen weiterhin schwere Mängel auf, die der Besatzung noch längere Zeit Probleme bereiten sollten und die Probefahrten beeinträchtigten. Die Prüfungskommision mußte hierzu feststellen, daß die Gesamtanlage erst Ende Juni fertiggestellt worden sei: Ursachen dieser groben Verzögerung liegt einmal in der verspäteten Ablieferung (...) und zweitens in der mangelhaften Unterstützung von AEG dem Montageleiter an Bord gegenüber. Auch plagten schwere Kabelschläge die Fördereinrichtung der Hauptartillerie, die daraufhin nicht getestet werden konnte. Das Schiffskommando zählte 29 solcher Vorfälle."

BAMA RM 3/23591, Schlußbericht der Schiffsprüfungskommision SMS Markgraf

"Die Gründlichkeit einzelner arbeiten hatte unter der beschleunigten Fertigstellung empfindsam gelitten. Eine große Anzahl undichter Stellen in den Schotten, Decks pp. waren drei Wochen nach der Indienststellung immernoch vorhanden. Die Dichtung einzelner Luks ist ungenügend, Messingschienen sind teilweise sehr flüchtig befestigt. Panzerdeckel, Blenden schleißen zum Teil schlecht. Der Vorreiber der Anlegkeile von Schottüren mußten bereits mehrfach repariert werden. Der Rostschutz erforderliche Farbanstrich ist innen- und außenbords an vielen Stellen schlecht oder überhaupt nicht vorhanden(...). Bereits jetzt treten an vielen Stellen Rostbildung auf; durch die hierdurch erforderlichen, sehr umfangreichen Konservierungs- und Reinigungsarbeiten wird die Gefechtsausbildung beeinträchtigt."


BAMA RM 3/23685, Schlußbericht der Schiffsprüfungskommision SMS Prinzregent Luitpold

Erschütterungen des Schiffskörpers, die insbesonders bei hohen Fahrstufen auftraten, mußten in den Prüfdossiers vermerkt werden. So wurde die Prinzregent Luitpold bei schneller Fahrt als "Cocktail shaker" bezeichnet.


usw....
 
In #85, 88 "Außenpolitik vor und nach Bismarck" (mit diversen Anmerkungen von turgot) versuchte ich aufzuzeigen, dass das Reich in kurzer Zeit einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung nahm, der auch militärisch abgesichert werden musste. Der Aufschwung führte zu einem bedeutenden Außenhandel, der - soweit er nicht innereuropäisch war - über den Atlantik abgewickelt wurde. Nord- und Südamerika waren wichtige Handelspartner, China sollte einer werden. Es war vor Beginn des Krieges absehbar, dass das deutsche Handelsvolumen das englische in Kürze übertreffen wird (vgl. oben #85). Daher brauchte man eine Flotte, um den Zugang zum Atlantik offen zu halten. Gegen England war das damals fast unmöglich, so dass der militärische (Schlachtflotten-)Gedanke mit einer politischen Komponente verbunden wurde, der nach einer Formulierung von Tirpitz als Risikogedanke bezeichnet wird. England soll sich mit Deutschland politisch verständigen müssen, da (see-)militärische Aktionen Englands gegen Deutschland mit einem unverhältnismäßigen Risiko verbunden seien (auch im Fall einer Niederlage Deutschlands, da Deutschland so stark sein solle, daß selbst im Falle eines Sieges England seine weltweiten Verpflichtungen nicht mehr nachkommen könne).
Dieser Gedanke ist gescheitert, weil er eben nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Komponente hatte. Diese politische Komponente ist von der Außenpolitik nicht aufgegriffen worden (England konnte mit eigenen Seestreitkräften Ostasien und das Mittelmeer nicht mehr sichern und war auf Bündnisse angewiesen).
 
Zu #16,17 Nahblockade
Unter Nahblockade verstehe ich das direkte Abschließen der deutschen Flußmündungen durch Stationierung von Seestreitkräften davor und die Besetzung von Inseln (Borkum wurde immer wieder genannt). Eine solche Aktion wäre möglicherweise mit einer Landung in Dänemark kombiniert worden (mit einer Bedrohung des Nordostseekanals). Der deutsche Außenhandel wäre sofort zum Erliegen gekommen, es gäbe erheblichen Druck auf die Niederlande und Dänemark am Krieg gegen Deutschland teilzunehmen. Diese Bedrohung hätte nur durch eine Entscheidung an derWest- oder Ostfront abewendet werden können.
Durch den Aufbau einer deutschen Schlachtflotte wurde diese Nahblockade irgendwann mal (den Zeitpunkt mussten die Engländer bestimmen) gefährlich bzw. nicht mehr durchführbar. Man konnte dies aus den Manövern der Engländer ersehen, die .W. ab 1911 nicht mehr von einer Nahblockade ausgingen.
Eine andere Frage ist freilich, ob die Engländer die Deutschen nicht in einer Entscheidungsschlacht schlagen wollten. Es war Jellicoe, einer exzellenter Kenner der deutschen Marine, der dies für zu gefährlich hielt (Beatty hätte anders entschieden).
 
Ich habe das immer noch nicht verstanden.

In #85, 88 "Außenpolitik vor und nach Bismarck" (mit diversen Anmerkungen von turgot) versuchte ich aufzuzeigen, dass das Reich in kurzer Zeit einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung nahm, der auch militärisch abgesichert werden musste.
Warum 'musste' der Aufschwung militärisch gesichert werden?


Der Aufschwung führte zu einem bedeutenden Außenhandel, der - soweit er nicht innereuropäisch war - über den Atlantik abgewickelt wurde.
Woran misst Du die Bedeutung für die reichsdeutsche Volkswirtschaft?
Wie das Verhältnis des hier wohl angesprochenen Handelsvolumens über See zum Rest?


Nord- und Südamerika waren wichtige Handelspartner, China sollte einer werden. Es war vor Beginn des Krieges absehbar, dass das deutsche Handelsvolumen das englische in Kürze übertreffen wird (vgl. oben #85). Daher brauchte man eine Flotte, um den Zugang zum Atlantik offen zu halten.
Wie soll eine deutsche Flotte zwischen 1871 und 1914 die Handelswege nach Nord- und Südamerika schützen?
Zum Handelsvolumen: denkst Du dabei an die strukturellen und kaum mehr finanzierbaren deutschen Handelsbilanz-Defizite?
Soll das 'daher' eine Kausalität zwischen dem angesprochenen Handelsvolumen-Wettlauf und der Flotte andeuten?
Es ist wohl klar, dass ein bloßer Zugang/Durchbruch zum Atlantik wenig nützt, wenn GB auf die Idee käme, einen Handelskrieg (statt Blockade) zu führen. Mangels deutschen Stützpunkten war dem logistisch nichts entgegen zu setzen.



Mir ist schon klar, dass die Flottenpropaganda die ökonomische Bedeutung betonte und damit 'arbeitete'. Ähnliches lief in der Richtung Nahrungsmittelproblem/Bevölkerungsüberschuss/Raumproblem im Deutschen Reich über 40 Jahre ab.
 
Um einmal der Export-/ImportThese zum Deutschen Reich in Bezug auf den Flottenbau einige Zahlen anzufügen:

Exportanteile 1889 / 1912 aus deutscher Sicht:
Europa......................77,1% - 75,4%
Afrika.........................0,7% - 2,1%
Amerika.....................18,9% - 16,7%
Australien/Polynesien.....0,7% - 1,0%
Asien..........................2,6% - 4,8%

Bei den Ausfuhrmengen standen England und Ö-U an der Spitze als beste Kunden.

Amerika glänzt durch einen gewaltigen Importüberschuss (Einfuhranteile 1889: 15,6% - 1912: 27% - dabei noch absolute Importwerte > absolute Exportwerte), während sich die Exportbedeutung sogar rückläufig entwickelt hat. Bei den Importen aus Amerika handelt es sich im Wesentlichen um Rohstoffe, Getreide und andere Lebensmittel.
 
Ich habe das immer noch nicht verstanden.
Warum 'musste' der Aufschwung militärisch gesichert werden?
Woran misst Du die Bedeutung für die reichsdeutsche Volkswirtschaft?
Wie das Verhältnis des hier wohl angesprochenen Handelsvolumens über See zum Rest?
Wie soll eine deutsche Flotte zwischen 1871 und 1914 die Handelswege nach Nord- und Südamerika schützen?

Ich bin Dir sehr dankbar, dass Du solche und ähnliche Fragen immer wieder stellst! Dies umso mehr, als eine einigermaßen konzise Zusammenschau außenpolitischer, innenpolitischer, militärischer und ökonomischer Faktoren seitens der "Tirpitzianer" weiterhin auf sich warten lässt.

Meiner Meinung nach liegt des Pudels Kern in einer zutiefst irrationalen Betrachtungsweise. Die klingt schon im ersten Satz von Tirpitzens "Erinnerungen" an, welche er bereits im April 1919 in die geschichtspolitische Deutungs-Arena warf: "Die Verzweiflung, welche alle Deutschen mit voller Staatsgesinnung erfaßt hat, als unser für unbesiegbar gehaltenes Reich [sic!] zusammenbrach, hat auch den Glauben an uns selbst und an die Folgerichtigkeit unsrer geschichtlichen Entwicklung zum Reich in Vielen vernichtet." (Diesem Buch zufolge gab es zwischen 1890 und 1918 sowieso nur einen Unschuldigen und Allwissenden, nämlich ihn, Tirpitz, selbst - das spricht für einen fiesen Charakter.)

Das Irrationale macht sich meiner Meinung nach am Begriff der "Seeinteressen" fest. Für Tirpitz war es unumstößlich wahr und unhinterfragbar, dass

  1. die Zukunft Deutschlands und seine Stellung in der Welt entscheidend vom Umfang des Außenhandels abhing,
  2. jener Teil des Außenhandels ausschlaggebend war, der sich auf weit entfernte Partner bezog und vorzugsweise über See stattfand,
  3. was die "politische Notwendigkeit" nach sich zog, "für die unaufhaltsam und reißend wachsenden deutschen Seeinteressen eine sie schützende Flotte zu schaffen" (S. 50).
Aus ökonomischer Sicht müssen gerade die Nr. 1 und 2 dieser Argumentationskette sehr kritisch betrachtet werden. Ich will aber noch etwas zu Nr. 3 sagen:

Tirpitz entfaltet folgendes Szenario, welches an die Kaper- und Handelskriege früherer Jahrhunderte erinnert: Wenn die fleißigen Deutschen die Schiffe mit ihren Waren in die Welt hinausschicken, dann gehen sie das Risiko ein, dass irgendwo jemand an Küsten oder auf hoher See wartet, der sagt: "Umkehren, hier geht es nicht weiter" oder sogar die Waren konfisziert. Der Ausfuhrhandel nämlich hing "mangels eigener Seemacht ausschließlich vom Belieben der Fremden, d. h. der Konkurrenten" ab (S. 51). Tirpitz paraphasiert diesen Grundgedanken unaufhörlich:

  • "Ohne Seemacht blieb die deutsche Weltgeltung wie ein Weichtier ohne Schale" (S. 50).
  • Ohne Seemacht könne der Fall eintreten, dass "jene Entfaltung, der wir unseren Rang unter den Großmächten verdankten, künstlich und auf die Dauer unhaltbar wäre", d. h. dem raschen Aufstieg könne "ein furchtbarer Niederschlag folgen" (S. 51).
  • Derzeit wäre zwar handelspolitisch eine "Offene Tür" vorhanden, die jedoch leicht zuzuschlagen wäre, und dann wäre es vorbei mit der Gleichrangigkeit gegenüber den übrigen Weltmächten mit ihren "weiten Flächen und unerschöpflichen Bodenschätze(n)" (ebd.).
Ergebnis: Wenn der "eifersüchtige Engländer" - ebenfalls ein klassischer Topos - oder sonst jemand, der keine gemeinsame Landgrenze mit uns hat (für andere wäre ja das Heer "zuständig"), unsere Schiffe bzw. die überreichen Früchte unseres Außenhandels wegnimmt, müssen wir in der Lage sein, eine Strafexpedition auszusenden oder mindestens damit zu drohen.
 
Die Zeit dürfte aber mit den Möglichkeiten des Minenlegens weitgehend vorbei gewesen sein. Immerhin sah das gültige Seekriegsrecht noch Hafenblockaden vor; zum US Civil War mit seinen Küstenblockaden waren es auch nur 40 Jahre Abstand.
40 Jahre sind zu der Zeit aber ein Quantensprung. 40 Jahre nach 1914 kam die Atombombe. Beim US Bürgerkrieg gabs noch keine U-Boote, keine Geschütze die 10-20km weit feuern, usw. Wäre denn ein Nahblockade technisch überhaupt noch machbar gewesen, 1914?

Als der Bauwettlauf einsetzte, fand man dann schnell ergänzende Argumente, neuzeitlich Investitionsförderung bzw. Investitionsimpuls durch Flottenbau.
Wenn man etwas machen will, dann (er-)findet man auch Gründe dafür. Das ist genauso wie bei dem Kolonien, da fand man dann auch Gründe dafür, warum man die unbedingt haben müsste.

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Dieser Gedanke ist gescheitert, weil er eben nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Komponente hatte.

Das Problem ist, dass England die deutsche Strategie kontern konnte, indem es dem Deutschen Reich die Franzosen und Russen auf den Hals hetzt und es so zwingt, seine finanziellen Mittel in die Heeresrüstung zu stecken. Tirpitz Strategie tut so, als ob die britisch-deutsche Auseinandersetzung zur See ein isoliertes Problem wäre, das man "für sich" betrachten könnte.

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Wenn die fleißigen Deutschen die Schiffe mit ihren Waren in die Welt hinausschicken, dann gehen sie das Risiko ein, dass irgendwo jemand an Küsten oder auf hoher See wartet, der sagt: "Umkehren, hier geht es nicht weiter" oder sogar die Waren konfisziert. Der Ausfuhrhandel nämlich hing "mangels eigener Seemacht ausschließlich vom Belieben der Fremden, d. h. der Konkurrenten" ab (S. 51).
Nur wie plausibel ist so ein Szenario? Selbst wenn es zum Krieg kommt zwischen Deutschland und GB, und die Briten alle deutschen Schiffe aufbringen, dann wickeln die Deutschen ihren Handel eben über einen Zwischenhändler ab. Eine Ware die über Italien nach USA verkauft wird, ist eine italienische Ware und GB kann wohl schlecht ganz Europa blockieren (wiewohl sie es rein technisch natürlich schon gekonnt hätten). Selbst wenn, war der Überseehandel viel zu unbedeutend - wie man an silesias Statistik sehen kann - um mit einer Blockade das Reich in die Knie zu zwingen. Der mögliche Schaden durch eine Handelsblockade stand in keinem Verhältnis zu den immensen Kosten der Hochseeflotte.
 
Wäre denn ein Nahblockade technisch überhaupt noch machbar gewesen, 1914?
Wieso sollte das technisch nicht machbar sein? "Nähe" ist relativ, siehe oben. Der Blockade-Effekt ist derselbe, auch 20 km weiter draußen.

Das Problem ist, dass England die deutsche Strategie kontern konnte, indem es dem Deutschen Reich die Franzosen und Russen auf den Hals hetzt und es so zwingt, seine finanziellen Mittel in die Heeresrüstung zu stecken. Tirpitz Strategie tut so, als ob die britisch-deutsche Auseinandersetzung zur See ein isoliertes Problem wäre, das man "für sich" betrachten könnte.
Was soll denn damit gemeint sein?
 
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