Foren-Treffen in Berlin: Zille-Tour

Reinecke

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Auf Vorschlag der anderen ist hier mein Handout zur Zille-Führung vom Forum-Treffen in Berlin (Samstag); wegen der beschränkten Zahl der Anhänge/Bilder in mehreren Teilen:

Was ist ein Hinterhof?


Die Entstehung eines Hinterhofes als schematische Grafik (Quelle: Wikipedia). Vom Vorderhaus an der Straßenseite des Grundstückes wachsen Seitenflügel in die tiefe des Raumes. Werden diese um ein Quergebäude (Hinterhaus, Gartenhaus etc.) ergänzt bzw nach hinten abgeschlossen entsteht der typische Hinterhof. Häufig lagen mehrere Quergebäude und damit auch mehrere Hinterhöfe hintereinander. Drei bis vier waren keine Seltenheit, den Rekord hielten bis zur Zerstörung im 2. Wk. und endgültigem Abriss 1972 die Meyerschen Höfe mit 6 Gebäudereihen hintereinander.


Abb. 1: Hinterhof, Schema
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Abb. 2: Die Meyerschen Höfe in Berlin Wedding
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Diese entstehenden Mietskasernen stachen durch schlechte Bausubstanz, fehlende bzw mangelhafte Heizung und sanitäre Anlagen und eine extreme Bebauungsdichte plus Überbelegung hervor. So betrug die Mindestgröße eines Berliner Hinterhofes gem dem Bebauungsplan von 1862 exakt 5,34 m; dies war der Wendekreis einer pferdegezogenen Feuerspritze...


Abb. 3: Der Himmel scheint klein und weit weg, betrachtet von einem solchen Hof (auch Lichtschacht genannt...).
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Abb. 4: Impression der Armut
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Abb. 5: Der Krögelhof im berüchtigten Krögel, vor dem Krieg der vielleicht ärmlichste Teil Berlins.
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Dabei war die soziale Durchmischung der „Kieze“ überall recht groß. Selbst in ausgewiesenen Arbeiterbezirken lagen in den Vorderhäusern (besonders in der sog Belle Etage) oft Wohnungen für besser Situierte. Das lässt sich teils noch heute an den größeren Räumen, der besseren Bausubstanz und der größeren Raumhöhe sehen, verglichen mit den Maßen im Hinterhaus des gleichen Wohnblocks. Auch war die Nähe zwischen Wohn- und Arbeitssphäre oft sehr gering. Nicht selten lagen im Hof hinter dem letzten Wohngebäude Industriebetriebe, was Lärm- und Schmutzbelastung für die Bewohner noch erhöhte.
 
Abb. 6: Das ist, zugegeben, ein Bild von Chemnitz und nicht von Berlin, aber es zeigt, was ich meine (Man beachte die Schornsteine!) und was wir nachher auch sehr deutlich vor Augen geführt bekommen werden.
 

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Zille und sein „Milljöh“


Heinrich Zille wurde 1858 in Radeburg (Sachsen) geboren. 1867 zog die Familie nach Berlin, auf der Flucht vor Gläubigern und in der Hoffnung auf eine bessere Arbeit. Diese Hoffnung trog sechs lange Jahre lang, in denen der Vater arbeitslos war, und v.a. die Mutter mit Heimarbeit die Familie ernähren musste. In diesen frühen Jahren seines Lebens lernte Zille das Elend, die ganze Grausamkeit der frühen Industrialisierung und ihrer Wohn- und Lebensbedingungen kennen. Noch Jahre später stellte er fest:


Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.“


Abb. 7:„Der späte Schlafgänger“
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Nachdem er schon als Kind eine Begabung für das Zeichnen erkennen ließ und auch privat etwas Unterricht erhielt, begann er eine Lehre als Lithograph. Dazu hatte ihm schon sein Zeichenlehrer geraten: „Das beste is, du lernst Lithograph. Zeichnen kannste, und du sitzt in ’ner warmen Stube, immer fein mit Schlips und Kragen […] man schwitzt nicht und bekommt keine schmutzigen Hände. Und dann wirst du mit ‚Sie‘ angeredet. Was willst du mehr?“


Neben seiner Tätigkeit als Lithograph bei der Photographischen Gesellschaft zeichnete (und fotografierte) Zille in seiner Freizeit. Er sah sich nicht als Maler, und widersprach auch der Behauptung, er sei besonders begabt oder gar ein Genie. „Das ist Zwang. (…) Nichts als Fleiß und Zwang!“, sagte er über sich, sein Können und sein Werk.


Abb. 8: Herbst


Schon seit seiner Kindheit war er von den Hinterhöfen und Mietskasernen, vom Leben der Tagelöhner, Arbeitslosen, Prostituierten und Straßenkinder geprägt. Etwa seit 1900 fanden sich diese Motive auch immer öfters in seinen Zeichnungen. Das Berliner „Milljöh“ begann mehr und mehr, sein Werk zu prägen. Leider gefiel dass seinem Arbeitgeber weniger. Im Jahr 1907 wurde ihm mit fast 50 Jahren von der Photographischen Gesellschaft gekündigt. Zille war „verbittert , empört und zutiefst bestürzt“ (Zitat Wikipedia).


Abb. 9: "So, heute sind Sie 25 Jahre bei mir, nun denken Sie mal, wieviel Geld Sie mir schon haben weggeschleppt."
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Erst dieser Schicksalsschlag machte aus Zille den freischaffenden Künstler, als den wir ihn heute vor allem kennen. Allerdings beeinflusste dieser Schritt auch seine Werke. Viel mehr als vorher musste er auf den Geschmack seines Publikums achten. Viele der witzigen, aber auch zynischen Motive und v.a. Bildunterschriften, für die er so bekannt wurde, waren eher dem Zwang geschuldet, lustig sein und dem Publikum gefallen zu müssen. Er hatte wohl manchmal das Gefühl, sich über das Elend, das er um sich herum sah und das er selbst erlebt hatte und erlebte, lustig zu machen und es auszunutzen. Auf der anderen Seite portraitieren viele seiner Zeichnungen und Bonmonts den Lebenswillen, die Selbstbehauptungskraft der Menschen
seiner Umgebung.


Abb. 10: „Brot soll ick nicht essen, Herr Doktor?“ - „Nein, liebe Frau.“ - „Na, denn is et jut, ick kann mir ooch keens koofen.“


Abb. 11: Das kalte Frühstück: "Vater sitzt inn der Destille und Mutter liegt in'n Landwehrkanal, heute gibts keen Kaffee"
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Abb. 12: Das Eiserne Kreuz
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Abb. 13: Der schlaue Aufseher: "Wem gehören denn die hübschen Kinder, die da auf dem Rasen spielen?" - "Alle mir, Herr Oberwärter!" - "So, dann will ich gleich mal Ihren Namen notieren;das Betreten des Rasens is nämlich bei Strafe verboten!"
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Abb. 14: „Wollt Ihr wohl weg von der Blume! Spielt mit'n Müllkasten!“
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Abb. 15: „Mutta, jib doch die zwei Blumentöppe raus. Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!“
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Es ist diese Mischung aus Zynismus und Anteilnahme, aus Mitgefühl und derben Berliner Sprüchen, die den Zauber Zilles ausmachte und noch heute ausmacht. Der einem kleinen Jungen, der seine tote Ratte vorzeigt, die Wort „Ick kann nischt dafür, dasse tot is, bei uns zu Haus isses so feucht!“ in den Mund legte, und doch gerade damit den Lebensmut und die Menschlichkeit seiner Berliner Mitmenschen darstellte und lebendig werden ließ. Pinselheinrich, so langs in Berlin noch een Mietshaus jibt, so lange wird’s ooch Dir jebn.

Abb. 16: Hinterhof-Zirkus
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EDIT und Nachtrag
Die eigentlich Führung ging dann vom S-Bhf Wedding (Nordring) durch die Lindower Straße, über Nettelbeckplatz und Reinickendorfer Straße in die Gerichtstraße Richtung Panke, dann an deren Ufer entlang zurück bis zur Pankstraße, und dann über diese und die Wiesenstraße bis zum S-Bhf Humboldthain, wo das Ganze endete.

LG Reinecke
 
Zuletzt bearbeitet:
Herzlichen Dank dafür!

Ist ja fast eine Blaupause für den nächsten Berlin-Aufenthalt...:winke:
 
Im Angermuseum Erfurt fand man 1963 7 farbige Arbeiten von H. Zille aus dem Jahre 1918.
Man vermutet, dass diese Arbeiten als Illustration für ein Werbeprospekt einer Erfurter Firma gedacht waren.

Frage an den Berliner:
Ich hatte mich mal in einem anderen Zusammenhang dafür interessiert, ob Heinrich Zille (1858 – 1929) mit Edvard Munch (1863 – 1944) im „Schwarzen Ferkel“ zusammengekommen ist.

Hielt es für möglich, bin da aber nicht schlüssig fündig geworden.
Mir ging es um die Problematik: „sehen und sah“.
Zille auf seine Art und Weise; Edvard Munch auf seine Art und Weise.
 
Zille wurde 1903 in die Berliner Secession (eine Künstlergruppe) aufgenommen, an der auch Munch beteiligt war. Ob sie auch persönlich miteinander bekannt waren kann ich nicht sicher sagen, aber sie werden mit Sicherheit das Werk bzw die Ausstellungen des anderen rezipiert haben.
 
Zille wurde 1903 in die Berliner Secession (eine Künstlergruppe) aufgenommen, an der auch Munch beteiligt war. Ob sie auch persönlich miteinander bekannt waren kann ich nicht sicher sagen, aber sie werden mit Sicherheit das Werk bzw die Ausstellungen des anderen rezipiert haben.

Vielen Dank!
 
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