Fragen zu Pauperismus und Bevölkerung

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Hi.

Bevor ich evtl. als Neuling in euer Forum hinzustoße, möchte ich euch Fragen zu entsprechender Literatur bezüglich bestimmter Themen stellen, die mich interessieren.

Zu meiner Person: Ich bin in Kürze Absolvent eines Magister-Studiums in Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Leider hat sich der Lehrstuhl, an dem ich studiert habe, nur auf Wirtschaftsgeschichte spezialisiert. Sozialgeschichte habe ich also nicht viel gelernt. :(

Und das, obwohl Sozialgeschichte mir mehr liegt als der wirtschaftliche Aspekt.

Ich interessiere mich dabei vor allem für die Anfangsgeschichte des Kapitalismus im 19. Jahrhundert und die Vorkapitel der Marktwirtschaft im 18. Jahrhundert.

Ich hätte da folgende Fragen.

1.) Wie hat sich die lohnabhängige Bevölkerung im 19. Jahrhundert gebildet? Bei Marx las ich von einer sogenannten "ursprünglichen Akkumulation". Dieser zufolge wurden im 18. Jahrhundert massenhaft Bauern und Leibeigene von den Feldern vertrieben, um den Ackerbau für den frühmodernen kriegsführenden absolutistischen Staat auf betriebswirtschaftliche Bebauung umzustellen und möglichst viel Geld aus der Landwirtschaft und dem Export herauszuholen.

2.) Die erste Frage habe ich gestellt, weil von ihr weitere Fragen abhängen. Unter anderem die Frage, ob der Pauperismus des 19. Jahrhunderts ein vorindustrieller gewesen sei, wie es der Großteil der Wirtschaftshistoriker behauptet (Abel, Pierenkemper, Buchheim, Achilles, usw.).

Walter Achilles bringt in seinem Buch 'Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung' den Beleg von Abel, dass die Getreidepreise im frühen 19. Jahrhundert gestiegen seien und somit die Reallöhne gesunken.
Ursache für diesen vorindustriellen Pauperismus sei das Bevölkerungswachstum gewesen.

Aber - und das gibt mir zu denken - wie kann man einen Pauperismus einer vormodernen Agrargesellschaft zuschreiben, von der behauptet wird, sie habe auf Subsistenzproduktion, also Produktion für den Eigenbedarf beruht.
Wenn die Mehrheit einer Bevölkerung durch Eigenproduktion lebt, dann ist der Getreidepreis doch ein schlechter Indikator zur Messung der Armut. Denn die Mehrheit wäre ja gar nicht vom KAUF von Getreide abhängig, da sie ja selbst anbaut und von Eigenproduktion, und nicht von gekauftem getreide, lebt.

Insofern ließe sich der Pauperismus gar nicht als eine Armut alter Ordnung, sondern als Folge der Modernisierung und des Kapitalismus beschreiben. Denn wenn der Großteil vormoderner Bevölkerungen subsistenzwirtschaftend war, der Pauperismus aber durch Getreidepreissteigerungen direkt und durch Bevölkerungswachstum indirekt zustande kam, die Abhängigkeit von Lohnarbeit jedoch eine moderne Erscheinung ist, die erst mit dem Kapitalismus aufgrund von 'eclosures' beherrschend wird für die Bevölkerungmassen - dann war der Pauperismus doch eine Folge des Kapitalismus, oder?

Oder anders gefragt: Wie viele Menschen waren im 18. oder 19. Jahrundert von der Eigenproduktion und wieviele von der Warenproduktion (Geldeinkommen, Lohnarbeit etc.) abhängig?

Ehrlich gesagt, die malthusianische Erklärung, der Pauperismus sei eine Folge von Überbevölkerung und Nahrungsmangel gewesen, leuchtet mir nicht ein.
Ganz besonders nicht, nachdem ich bei Walter Achilles gelesen habe, dass zwischen 1816 und 1846 die deutsche Bevölkerung in den Grenzen des Kaiserreiches von 1871 von 23,5 Mio. auf 37,8 Mio. anstieg (+61%), die pflanzliche Nahrungsmittelproduktion innerhalb dieser Zeit aber um 200% anwuchs, die Zahl der gehaltenen Schafe in Preußen von 8 Mio. auf 16 Mio., also auch um 200% anstieg.

Das leuchtet mir nicht ganz ein. Warum wird von einer natürlichen Überbevölkerung und einer ebenso natürlichen Nahrungsmittelkrise gesprochen, wenn doch die Menge der produzierten Nahrung und des gehaltenen "Fleisches" stärker anstieg als die Bevölkerungszahl?

Und schließlich 3.) Angenommen nun, der Pauperismus des 19. Jahrhunderts sei eine Folge des Kapitalismus selbst gewesen - gab es dann in der vormodernen Agrargesellschaft schon mal so etwas wie Massenarmut oder Pauperismus? Und wenn ja, beruhte dieser auf "natürliche" Nahrungsschranken, oder auf sozialen Missständen?


Danke, dass ihr den Text bis hierhin gelesen habt. Ich schreibe manchmal wirklich langatmig.
 
Gast schrieb:
1.) Wie hat sich die lohnabhängige Bevölkerung im 19. Jahrhundert gebildet? Bei Marx las ich von einer sogenannten "ursprünglichen Akkumulation". Dieser zufolge wurden im 18. Jahrhundert massenhaft Bauern und Leibeigene von den Feldern vertrieben, um den Ackerbau für den frühmodernen kriegsführenden absolutistischen Staat auf betriebswirtschaftliche Bebauung umzustellen und möglichst viel Geld aus der Landwirtschaft und dem Export herauszuholen.
leuchtet mir nicht ein.
Ich dachte dir Ursprünge des Proletariats liegen in den Manufakturen und der dort beginnenden Arbeitsteilung im Betrieb selber. In England (auf welches eine starke Nutzung der Maschienen in der LW hindeutet) hängt dies mit dem Pächterwesen zusammen, durch das Arbeitskräfte schnell vom Land in die Stadt wndern konnten. Mich wundert an der Erklärung, die du angibst, dass staatliche Maßnahmen den privaten Unternehmen nutzten. Zumal Maschinen doch Kapitalintensiver sind als Arbeitskräfte, oder?
Nur ein paar Überlegungen eines Schülers. Ob die einem angehenden Magister helfen?
 
Gast schrieb:
... Wie hat sich die lohnabhängige Bevölkerung im 19. Jahrhundert gebildet? Bei Marx las ich von einer sogenannten "ursprünglichen Akkumulation". Dieser zufolge wurden im 18. Jahrhundert massenhaft Bauern und Leibeigene von den Feldern vertrieben, um den Ackerbau für den frühmodernen kriegsführenden absolutistischen Staat auf betriebswirtschaftliche Bebauung umzustellen und möglichst viel Geld aus der Landwirtschaft und dem Export herauszuholen...

Meines Wissens bezieht sich Marx Begriff von der "ursprünglichen Akkumulation" auf die Herausbildung und Anhäufung von Geldkapital als Grundlage für privatwirtschaftliches, kapitalistisches Unternehmertum (in England früher als in Deutschland).

Die Landflucht im 19. Jahrhundert in "Deutschland" entwickelt sich in Folge der Bauernbefreiung und in einer dialektischen Beziehung zur wachsenden Industrialisierung/Bildung von Industriemetropolen (Bedarf an industr. Arbeitskräften/Suche nach Arbeitsplätzen außerhalb der wenig lukrativen Agrarwirtschaft).
 
@Themi

"Mich wundert an der Erklärung, die du angibst, dass staatliche Maßnahmen den privaten Unternehmen nutzten. Zumal Maschinen doch Kapitalintensiver sind als Arbeitskräfte, oder?
Nur ein paar Überlegungen eines Schülers. Ob die einem angehenden Magister helfen?"

Hallo Themi.

Bei Kocka (Unternehmer in der deutschen Industrialisierung) habe ich gelesen, dass die Manufakturen sehr Wohl auf Wohlwollen des Staates hin entstanden. Die Durchsetzung des baus und der Führung einer Manufaktur war zumindest in Deutschland verbunden mit Korruption und Bestechung von staatlichen Beamten. Die Manufakturen waren schon so zentralistisch organisiert wie die Fabriken, mit der Ausnahme, dass sie noch arbeitsintensiv waren. Die Führung einer Manufaktur beruhte laut Kocka auf politischen, und nicht auf ökonomischen Erwägungen, weshalb die meisten Manufakturen im 19. Jahrhundert wohl auch pleite gingen.

@Klau P.

"Die Landflucht im 19. Jahrhundert in "Deutschland" entwickelt sich in Folge der Bauernbefreiung und in einer dialektischen Beziehung zur wachsenden Industrialisierung/Bildung von Industriemetropolen (Bedarf an industr. Arbeitskräften/Suche nach Arbeitsplätzen außerhalb der wenig lukrativen Agrarwirtschaft)."

Das hilft mir wenig weiter. Diese grobe Darstellung des Übergangs von der Agrargesellschaft zur Lohnarbeiterklasse kenne ich zu Genüge. Was mir aber nicht einleuchtet, ist, warum die Bauern ihr Land verließen. Soweit ich weiss, rebellierten im 19. Jahrhundert viele Fabrikarbeiter gegen das Fabriksystem und verabscheuten die Arbeitsdisziplin und -demütigung, der sie sich wie Knechte ausgesetzt sahen. Angesichts der Unruhen und des Widerstands der neuen Lohnklasse im 19. Jahrhundert fällt es mir schwer, von einem "freiwilligen" Abgang aus der Landwirtschaft zu sprechen. Wenn die Bauern ihren Übergang zu einer Arbeiterklasse tatsächlich als "Befreiung" verstanden - warum rebellierten sie dann gegen ihren neuen "Stand"?
 
Gast schrieb:
... Was mir aber nicht einleuchtet, ist, warum die Bauern ihr Land verließen. Soweit ich weiss, rebellierten im 19. Jahrhundert viele Fabrikarbeiter gegen das Fabriksystem und verabscheuten die Arbeitsdisziplin und -demütigung, der sie sich wie Knechte ausgesetzt sahen. Angesichts der Unruhen und des Widerstands der neuen Lohnklasse im 19. Jahrhundert fällt es mir schwer, von einem "freiwilligen" Abgang aus der Landwirtschaft zu sprechen. Wenn die Bauern ihren Übergang zu einer Arbeiterklasse tatsächlich als "Befreiung" verstanden - warum rebellierten sie dann gegen ihren neuen "Stand"?

Bei der "Bauernbefreiung" handelte es sich ja um die Ergebnisse der Stein-Hardenbergschen Landreform und das Ende jeder Form von Hörigkeit und Leibeigenschaft. Den somit persönlich freien Bauern ging es damit aber ökonomisch gesehen noch keineswegs besser. Sie konnten theoretisch als Landarbeiter oder selbstständige Bauern versuchen, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Wenn man sich die Existenzbedingungen dieser Landbevölkerung ansieht, ist es wenig erstaunlich, dass sehr viele vom Lande flüchteten, also keineswegs "freiwillig", um in den Industriegebieten ihr "Glück" zu versuchen.
Die Arbeitsbedingungen in der Industrie waren nun aber ebenfalls keinesfalls zufriedenstellend (Manchester-Kapitalismus/soziale Frage) und führten oft zu kollektivem Widerstand, der aufgrund der gemeinsamen Arbeit unter einem Dach leichter zu organisieren war als auf dem Land.
 
@Klaus

Konnte sich die Landbevölkerung auf dem Land nicht mehr ernähren?
 
Mit der "ursprünglichen Akkumulation" meinte Karl Marx, die Vertreibung der Kleinpächter durch die Großgrundbesitzer (in GB). Diese früheren Kleinpächter bildeten das lohnabhängige urbanes Proletariat.
 
Verständnisfrage Pauperismus

Hallo allerseits,
für eine Projektarbeit beschäftige ich mich in den nächsten Tagen mit dem Thema Pauperismus. Als Einstieg habe ich mir den Wiki-Artikel vorgenommen.
Denke das schafft eine brauchbare Basis, allerdings hat sich bereits ein Verständnisproblem ergeben, bei dem ihr mich hoffentlich unterstützen könnt.

Zunächst gab es auf Grund vieler Faktoren seit Ende des 18.Jahrhunderts ein enormes Bevölkerungswachstum.
Im Artikel steht, dass die Produktivität der Wirtschaft nicht mit den gestiegenen Anforderungen mithalten konnte.
Heißt: Mehr Menschen, aber die Produktion kommt nicht mit - geht es dabei um Lebensmittel? Oder allgemein um jeden Bereich?

Daraus resultiert laut Artikel, dass mehr und mehr Menschen Arbeit in Heimarbeit und Handwerk suchten - verstehe ich so:
Zu geringe Produktivität und Mangel an Waren veranlasst Leute als Arbeitskräfte in die Produktion einzusteigen. Und das Verhältnis von Bauern zu Heimarbeitern/Handwerkern verschiebt sich, da nunmal X Felder nur von Y Bauern bestellt werden können.
ABER:
Anschließend ist von Preisdruck die Rede? Also Angebot > Nachfrage.
Die zu geringe Produktivität hat sich quasi in das Gegenteil gekippt?
Verstehe ich das richtig?
Dann müssten die Produkte doch total günstig geworden sein und mehr Leute hätten sie sich leisten können - das widerspricht doch dem Pauperismus?

Sind die Schlüsse, die ich aus dem Artikel ziehe, erstmal korrekt? Und könnt ihr mir mit dem letzten Problem helfen?
Gibt es Beispiele/Infos die mir das Verständnis erleichtern?

Gruß,
larok
 
Zuletzt bearbeitet:
Hier fehlen die besseren Pflug- und Saatmaschinen, die Einführung der Fruchtwechselwirtschaft, Düngemittel, gezüchtetes Nutzvieh etc. als Basis. Landwirtschaft wurde effektiver und von immer weniger Menschen in immer weniger Zeit zu bewerkstelligen. Ein großer Teil der Landbevölkerung wurde mittellos. Parallel dazu stieg die Bevölkerungsdichte erst allmählich, dann sprunghaft. Das nun entstehende Überangebot an Nahrungsmitteln konnten doch auf Grund der Erwerbslosigkeit nur wenige in Anspruch nehmen. Immer mehr Menschen verarmten rapide. Sie zogen in die Städte ab in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber auch dort warteten nur Elendsviertel, überbevölkerte Mietskasernen oder Wellblechhütten, Krankheit oder ein Job, der schlecht bezahlt und extrem gesundheitsschädlich war. Eine riesige Menge an Menschen verelendet an der Peripherie der aufblühenden Industrien. Dieses Massenelend und diese Massenarbeitslosigkeit nennt man Pauperismus.
 
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ABER:
Anschließend ist von Preisdruck die Rede? Also Angebot > Nachfrage.
Die zu geringe Produktivität hat sich quasi in das Gegenteil gekippt?
Verstehe ich das richtig?
Dann müssten die Produkte doch total günstig geworden sein und mehr Leute hätten sie sich leisten können - das widerspricht doch dem Pauperismus?
...

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt, dass es eigentlich um Lohndruck/-dumping ging. Die Heimarbeiter und Hausgewerbetreibenden waren (wie auch heute die "Scheinselbständigen) von ihren Verlegern und sonstigen Auftraggebern nicht weniger abhängig als die Lohnarbeiter. Im Lauf der Zeit wurden sie auch zunehmend zu Lohnarbeitern. Druck auf die Preise der Verleger bzw. "Kapitalisten" entstand nicht, weil die Produktion auf einem Level gehalten wurde, dass sie die Nachfrage nicht überstieg.
 
Dazu eine Randbemerkung:
Nachfrage ist der mit "Einkommen" hinterlegte Bedarf.
Sinken die Löhne, bleibt der Bedarf zwar gleich, aber die Nachfrage sinkt...
Der Unternehmer hat nun 3 Möglichkeiten:
Mit anderen Unternehmern zusammen mehr Lohn zu zahlen oder die Produktion zu senken. Entweder bewußt, oder durch Insolvenz/Schließen des Betriebs, oder er senkt die Preise, bis die Nachfrage wieder steigt. Das letztere geht nur bis zu einem gewissen grad, Gewinn nahe 0, weitere Lohnsenkung, etc.

Am Ende der Entwicklung steht dann die Subsistenzwirtschaft oder die Do-it-yourself Gesellschaft, solange, bis genug Menschen auf natürliche Weise aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden sind, und sich das Angebot an Arbeitskräften entsprechend verknappt hat
 
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