Freie Stadt Danzig - Warum?

Aber ihnen wurde die Zugehörigkeit zu Deutschland genommen, das entspricht eben nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker (wie gerade von Wilson proklamiert).
Wie hat Wilson das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" proklamiert?

Der in Punkt 13 seines Vierzehnpunkteprogramms enthaltene Vorbehalt über die "von unbestritten polnischen Bevölkerungen bewohnten Gebiete" bezog sich nicht auf den Zugang zum Meer. In Deutschland mag man diese Einschränkung ignoriert haben. Aber Punkt 13 ist da ganz eindeutig.
einspruch, wieso sollten die danziger dankbar dafür sein, dass ihre stadt (und das umland) entgegen ihrem, in den wahlen zum ausdruck kommenden willen nicht mehr bestandteil des deutschen reiches sein sollte?

wieso sollten sie dankbar sein, wenn polen mit enormen aufwand in gdingen einen neuen hafen anlegten, der den danziger schon bald überflügelte?

wieso sollten sie dankbar sein, dass die wirtschaft der freien stadt von den deutschen nachbarn durch zollgrenzen abgeschnitten wurde?

wieso sollten sie dankbar sein, wenn sie sich nicht selbst im ausland vertreten durften?

auch wenn die entscheidung durch die 14-punkte wilsons gedeckt sein mochte, ist es doch verständlich, wenn sich die unterlegene seite den artikel herauspickt, welche ihr meisten bringen würde, die freie selbstbestimmung. und ist es verwunderlich, dass man enttäuscht war, wenn man feststellen musste, dass dieses recht in den meisten fällen für deutsche nicht galt?
Ich stimme Dir zu, dass es in Deutschland 1918/19 eine Mentalität gab, sich aus Wilsons Vierzehnpunkteprogramm die Rosinen herauszupicken. Man glaubte nicht nur daran, einen Rechtsanspruch auf einen Wilson-Frieden zu haben. Man glaubte sogar daran, einen Anspruch auf einen Wilson-Frieden nach einer für Deutschland ausgesprochen günstigen Interpretation von Wilsons Vierzehnpunkten zu haben.:rolleyes:

Umso größer war dann die Enttäuschung als man aus seinen Illusionen erwachte. Hätte man in Wilsons Programm nicht erst die Rosinen hineingelesen, die man später herauspicken wollte, hätte man durchaus erkennen können, dass in diesem Programm das "Recht auf Selbstbestimmung der Völker" so gar nicht erwähnt war und dass Wilsons Programm dem Deutschen Reich auch Gebietsabtretungen ohne Volksabstimmungen zumutete: Elsaß-Lothringen, Zugang Polens zum Meer, etc.

Und weil die Danziger sich über ihre Stellung als "Freie Stadt" nicht freuen konnten, wäre es wohl besser gewesen, wenn sie 1919 zu Polen gekommen wären. Dann hätten sie sich als polnische Staatsangehörige zurecht finden müssen, in Gdingen wäre kein Konkurrenzhafen gebaut worden und den Danzigern wäre es vermutlich wirtschaftlich besser gegangen.
Ausschlaggebend war die Möglichkeit, einen Mittelweg zwischen den Interessen Polens und der Rücksicht auf die deutsche Bevölkerung der Stadt zu finden, ohne dass man sich für die volle Anwendung des nationalen Selbstbestimmungsprinzips der deutschen Bevölkerung zu entschließen brauchte.
Man wählte einen Mittelweg aus Rücksichtnahme auf die deutschen Danziger und setzte sich zwischen die Stühle.
 
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Und weil die Danziger sich über ihre Stellung als "Freie Stadt" nicht freuen konnten, wäre es wohl besser gewesen, wenn sie 1919 zu Polen gekommen wären. Dann hätten sie sich als polnische Staatsangehörige zurecht finden müssen, in Gdingen wäre kein Konkurrenzhafen gebaut worden und den Danzigern wäre es vermutlich wirtschaftlich besser gegangen.

das ist reine spekulation, genausogut könnte man schreiben, es wäre besser gewesen, danzig beim deutschen reich zu belassen und den polen einen privilegierten freihafen in danzig zu überlassen.

und warum glaubst du, die danziger hätten sich mit ihrem schicksal abgefunden, die mehrheit der saarländer, deutsch-österreicher oder sudetendeutschen tat dies doch auch nicht?

wäre polen froh geworden, 350.000 deutsche mehr in ihrem staatsgebiet zu haben, noch dazu in der dann 4. oder 5. größten stadt des landes?

selbst die weimarer republik hat ja auf einer friedlichen neufregelung der ostgrenzen bestanden, glaubst du nicht, dass wäre anders gewesen, wenn auch danzig polnisch geworden wäre?

spekulationen...
 
Wären die Danziger 1919 polnisch geworden, hätte ihre Aufregung über ihr mißachtetes Selbstbestimmungsrecht wenigstens Substanz gehabt. So aber versuchten die Alliierten es ihnen - im Rahmen des Möglichen - Recht zu machen und die Danziger regten sich trotzdem auf. Undank ist der Welt Lohn.
 
es hatte also keine substanz, weil sie weder fisch noch fleisch waren? den saarländern hatte man ja immerhin eine volksabstimmung 15 jahre später erlaubt.
 
Im Grunde ist es doch so: in D konnte man sich 1919 über die Alliierten deshalb so gut aufregen, weil sich diese bei der Schaffung der neuen Friedensordnung am Selbstbestimmungsprinzip orientierten (im Gegensatz zu 1871) und somit eine "moralische Latte" setzten, die freilich im Einzelfall auch gerissen werden konnte. Anders ausgedrückt: man ignorierte die berechtigten Interessen der anderen (z.B. der Polen an einem bereits bestehenden Seehafen) und regte sich über die Kultiviertheit der Alliierten auf.
 
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Wären die Danziger 1919 polnisch geworden, hätte ihre Aufregung über ihr mißachtetes Selbstbestimmungsrecht wenigstens Substanz gehabt. So aber versuchten die Alliierten es ihnen - im Rahmen des Möglichen - Recht zu machen und die Danziger regten sich trotzdem auf. Undank ist der Welt Lohn.
Ich wurde - per PN - gebeten, zu erläutern, warum die Aufregung der Danziger wenig Substanz hatte. Hier meine Antwort: weil der Versailler Vertrag es ihnen ermöglichte, den Charakter einer deutschen Stadt zu bewahren und sie davor bewahrte, eine polnische Stadt zu werden.
 
Ich würde die Diskussion gerne noch einmal mit einem Hinweis reaktivieren.

Dieter hat ausgeführt, dass die realisierte Danzig-Konstruktion wesentlich auf den Einfluß Großbritanniens zurückgeht. Die USA/Wilson tendierten ursprünglich zu einer Neutralitätslösung, wechselten dann aber zu einer polnischen Lösung. Dieser (zeitweise) sinneswandel steht auch im Kontext zum amerikanischen Engagement und zur Sympathie gegenüber Polen, die sich nicht nur auf umfanreiche Hilfslieferungen beschränkte. Die Lieferungen (bzw. das Anlaufen derselben) hatten aber noch einen anderen, ganz praktischen Aspekt: sie machten zugleich die überragende Bedeutung des Hafens für die polnische Versorgung in dieser ersten Phase nach dem Krieg deutlich. Wie empfindlich die Konstruktion war, zeigte sich, als die Hafenarbeiter in der für Polen kritischen Zeit im Krieg gegen Rußland die Entladung der dringend benötigten Munitionsfrachter verweigerten (und die Entladung mit Truppen vorgenommen werden mußte, zT der britische Verwalter das Einlaufen der Schiffe und die Verbringung verweigerte, weil soviel Munition nicht gelöscht und gelagert werden konnte).

Die polnische Forderung auf Danzig war bereits in der Denkschrift Dmowskis vom Oktober 1918 enthalten, die die amerikanische Haltung stark beeinflußte. Die urspüngliche Linie Wilsons, die eine Neutralisierung der Weichsel bedeutete, wurde so verlassen. Auf die ursprüngliche Linie zurück brachte ihn der Widerstand der Briten. Und ein weiteres Problem: das Ringen um Fiume, dessen Übergabe an Italien aus Sicht der USA verhindert werden sollte. Danzig wäre hier ein Präzedenzfall gewesen, so dass Wilson trotz des Hinweises auf 4 Mio. US-Bürger polnischer Herkunft die polnische Linie wieder verließ. Für Fiume wurde von den Briten eine Lösung "similar to Danzig" vorgeschlagen, die beiden Orte weisen in ihrer Behandlung politische Interdependenzen auf.

Hier sind also mehrere Brüche in der Entwicklung hin zum Freistaat zu sehen, auch wenn sie dann eigentlich zu der ursprünglichen Neutralisierungsidee führte.

Andere Überlegungen für Polen gab es auch: der alternative Hafenzugang (Gdingen) wurde zwar noch nicht gesehen, wäre auch keine kurzfristige Lösung für das Überleben Polens, aber eine der CSR angenäherte Lösung wurde erwogen: dort war bereits die garantierte ungehinderte Elbnutzung und die Nutzung des Hamburger Hafens als Modell vorgesehen, ähnlich sollte es bei Danzig und der Weichsel mit Zuordnung als deutsches Territorium funktionieren. Schließlich gab es Erwägungen für einen schiffbaren Südausgang Polens zum Schwarzen Meer über territoriale Regelungen bzw. Garantien, die aber zu nichts führten.

Es waren dann auch die Briten, die sich anfänglich massiv in Fragen der Stadt Danzig engagierten (Truppen, Hafen, Schiffe, Verwaltung, etc.). Beide Seiten - polnische wie deutsche - waren letztlich mit der Mittellösung unzufrieden. Keine Seite hatte ihre Forderungen durchgesetzt. Und sicher hat die weitere Entwicklung, die die Abhängigkeit vom Hafen auch im Krieg und für die wirtschaftliche Entwicklung Polens zeigte, die harte polnische Linie ab 1920 bestärkt. Man bekam drastisch vor Augen geführt, welche Schwierigkeiten für die Lebensfähigkeit Polens auftreten, wenn im Krisenfall mit der Sowjetunion Danzig nicht "mitspielt" und sich die deutsche Bevölkerung in Ostpreußen feindselig verhält (wie erfolgt). Umgekehrt natürlich die Betrachtung aus deutscher bzw. danziger Sicht, nachdem Polen auch Versuche zur kalten Übernahme machte (Verwaltung, Wirtschaftsbetriebe, Bevölkerungszustrom usw.). Die politisch gewählte Mittellösung - die Erfüllung keiner der vorgetragenen Positionen beider Länder - war somit leider Ausgangspunkt eines Hochschaukelns und leider nicht Beginn/Chance einer friedlichen Verständigung zwischen den Nationen. Dazu waren die äußeren Umstände einfach nicht gegeben.

Quelle: Ramonat, Der Völkerbund und die freie Stadt Danzig 1920-1934
 
Ich stimme Dir zu, dass es in Deutschland 1918/19 eine Mentalität gab, sich aus Wilsons Vierzehnpunkteprogramm die Rosinen herauszupicken. Man glaubte nicht nur daran, einen Rechtsanspruch auf einen Wilson-Frieden zu haben. Man glaubte sogar daran, einen Anspruch auf einen Wilson-Frieden nach einer für Deutschland ausgesprochen günstigen Interpretation von Wilsons Vierzehnpunkten zu haben.:rolleyes:

Eine breite Mentalität, die aus den Punkten die Illusion herauspickte, ein Deutsches Reich in den Grenzen von 1914 erhalten zu können.

Als einer der wenigen Persönlichkeiten hat Groener erkannt und öffentlich verkündet, dass man das Ergebnis/die Konsequenz der völligen Niederlage im Weltkrieg akzeptieren müsse und das Deutsche Reiche zu einer Macht zweiten Ranges herabgesunken sei. Der Wiederaufstieg könne demnach nur durch zielstrebige Reformen von innen allmählich vorbereitet werden, Voraussetzung hierfür war nach Groener das Fortbestehen des deutschen Staates, was mit einer Ablehnung der Friedensregelung nicht mehr gewährleistet schien. Deshalb war er für die Annahme, als Zeitgewinn. Gebietsverluste im Osten könnten um so mehr akzeptiert werden, als sie einen erheblichen polnischen Bevölkerungsanteil besitzen. Größere Auseinandersetzungen seien zu vermeiden, um die Zufuhr der Industrieproduktion (auch als weiter laufende polnische Exporte) aus den östlichen Gebieten nicht zu gefährden.

Groener hat sich hier auch konträr zu vielen anderen führenden Militärs gestellt.

Schumacher, Die Preußischen Ostprovinzen und die Politik des Deutschen Reiches 1918-1919
 
Hallo,

der Ausdruck Freie- und Hansestadt Danzig bezieht sich zunaechst auf die unter poln. Koenig stehende, autonome Stadt Danzig vor 1793, dem Jahr der preuss. Uebernahme (II. Teilung Polens).

"frei" wurde Danzig auch genannt waehrend der Franzosenzeit 1807-1813/14. Danach waren dann aufgrund der ueberhoehten Zahlungsforderungen der Franzosen und der einjaehrigen Belagerung 1813 fast die gesamte Kaufmannschaft pleite und ein grosser Teil der Bevoelkerung tot.

"frei" wurde Danzig auch in den Jahren 1919-1939 genannt. Das Ende ist bekannt.

Auf welches Danzig in welcher Zeit bezieht sich Deine Frage?

Viele Gruesse
Daniel
 
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