Galanterie als Zeitströmung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts

Das ursprünglich gotische Aachener Rathaus, zumindest Teile davon, wurden von Johann Joseph Couven gemäß dem Barock umgestaltet. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es nach und nach in seinen "Originalzustand" versetzt, also mit gotischen Merkmalen/Details versehen. 1883 verbrannten abermals Dächer und Türme, die Restaurierung dauerte bis 1902 an. Im dritten Weltkerieg wurde das Rathaus von Bomben größtenteils zerstört und erneut aufgebaut.
Aachener Rathaus ? Wikipedia
Johann Joseph Couven ? Wikipedia

Welchem Baustil sollte man es daher zuordnen?
 
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Das ursprünglich gotische Aachener Rathaus, zumindest Teile davon, wurden von Johann Joseph Couven gemäß dem Barock umgestaltet. Aachener Rathaus ? Wikipedia
Johann Joseph Couven ? Wikipedia

Welchem Baustil sollte man es daher zuordnen?
Gotischer Bau, der barock überformt wurde. Was ist dabei das Problem? Natürlich gibt es zu Hauf Beispiele dafür.:nono: Aber das ist ja kein Beispiel dafür, dass man sich über die Eindatierung unsicher sei.
 
Das meine ich nicht. Eine Stadt mag in Vergessenheit geraten sein, aber das Leben, Architektur und Handwerk entwickelten sich weiter. Gerade das "unverändert bleiben" von Gebäuden sehe ich kritisch. Man sagt zwar Steinbauten eine längere Lebensdauer als Holzhäusern nach, aber ein Hauseigentümer weiß, dass da ständig zu renovieren ist. Man sagt, wenn man hinten fertig ist, fängt man vorne wieder an. Anstatt zu restaurieren, was bei historischen Gebäuden aufwändig ist, wird häufiger modernisiert und das Haus kriegt ein neues Gesicht und z.B. einen neuen Seitenflügel oder eine Vorderansicht, die zur Rückansicht nicht passt, oder eine neue Fensterreihe.

File:Goerlitz waid oder renthaus.jpg - Wikimedia Commons
Bsw. ein im 20. Jh. leider entkernter Renaissancebau mit älterer Bausubstanz.

File:Typisches Haus der Görlitzer Innenstadt.jpg - Wikimedia Commons
Renaissancegebäude. Fassade vollständig und inwändig noch weitesgehend erhalten.

Also das wird schon von Denkmalschützern differenziert gesehen, denke ich.

Was nun die Auszeichnung mit einem bestimmten Stil erlaubt, ist unterschiedlich. Ich denke mal, da spielt die Hülle eine bedeutende Rolle. Ich glaube bsw., dass der Reichstag noch immer als Historismusbau gesehen wird, auch wenn er vollkommen entkernt ist. Leider fiel er ja einem Brand zum Opfer.

Ein anderes Beispiel, ganz anders geartet, ist der Dresdener Zwinger (ohne dem Historismusanbau). Der Zwinger wurde ja leider im 2. WK zerstört, aber dannach wieder errichtet. Dennoch kann man von einem Bau des deutschen Barock sprechen. Dass es wiedererrichtet wurde, schmälert ja nicht, dass der architektonische, künstlerische Entwurf auf Pöppelmann, einem der großen deutschen Baumeister, zurückgeht.
 
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Also das wird schon von Denkmalschützern differenziert gesehen, denke ich.

Was nun die Auszeichnung mit einem bestimmten Stil erlaubt ist unterschiedlich. Ich denke mal, da spielt die Hülle eine bedeutende Rolle. Ich glaube bsw., dass der Reichstag noch immer als Historismusbau gesehen wird, auch wenn er vollkommen entkernt ist. Leider fiel er ja einem Brand zum Opfer.
Es kommt daruf an, wieviel Einfluss das Denkmalamt in betreffenden Regionen hat. Ich weiß von Altstadtkernen, da gibt es die Auflage eben die Vorderseite, also den Passanten sichtbare Seite im Originalzustand zu belassen oder wieder herzurichten, ansonsten ist man frei in der Planung. Also vorne "hui" und hinten "pfui". :weinen:

Es gibt ein Gebäude, das vom Denkmalamt als bescheidenes, barockes Bauernhaus klassifiziert wurde und zum Verkauf steht
http://www.blfd.bayern.de/blfd//content/pdfs/GdeFuchstal-OTSeestall.pdf

Um ehrlich zu sein, ich sehe kaum einen Unterschied zu moderneren Bauten. :grübel:
Über diese und andere Seiten bin ich ja ins Grübeln gekommen ...
 
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Symptome modernen „Barock“-Bashings

Es gibt wohl kaum eine Geschichts-Epoche, mit der man derartig gnadenlos herumgeklittert hätte, wie die Ludwigs XIV. und seiner Zeitgenossen. Ein jüngeres Beispiel gibt uns der Verfasser Max Melbo:


http://www.inforadio.de/static/dyn2sta_article/637/465637_article_print.shtml



- Alongenperücke = “Vagina-Popo“ - Ludwig ein geraubter Bauernlümmel und dergleichen Peinlichkeiten mehr ...


Jemand sollte Herrn Melbo einmal fragen, ob er vielleicht übersehen hätte, daß Louis le Grand einen Bruder, den Herzogen von Orleans, hatte. War der vielleicht auch eine 'Königsbruderfälschung' angeblich kinderloser Königseltern??
Es ist freilich nicht zu bestreiten, daß das Regime Ludwigs XIV. Europa mit Krieg überzog. Trotzdem lieferte es jede Menge culturelle Aspecte, die eben auch die Teutschen (wie eben ganz Europa) stark geprägt haben. Ohne die damalige Hofcultur wären wir nicht die, die wir sind. Warum will dann der Autor diese Erbe verneinen - gar Frankreich bekehren, sich davon loszusagen? Das ist doch Unfug! - Ich glaube einfach, er will sich als quasi postfrühneuzeitlicher Königsmörder interessant machen, bzw. Geld daraus schlagen. Und die galante Generation wird mal wieder - als Prügelkind der Geschichte - der Lächerlichkeit preis gegeben.


Die "Grand Peruque" steht mit dem Wort Alongen übrigens durchaus schon im 18.Jahrhundert zusammen:


Z.B: Alongen Peruque / Alongen=Peruque / eine Peruquen mit (deren) Alongen ect.


Frühneuhochdeutsch neigt wenig zu Worthülsen und man muß stets mit Variantenreichtum rechnen! - Glasklar widerlege ich Melbos Behauptung, „Allongeperücke ist ein späteres Wort im 19. Jahrhundert“, mit folgendem Link:


http://books.google.de/books?id=unAOAAAAQAAJ&pg=PA65&lpg=PA65&dq=Alongen+Peruque&source=bl&ots=_ijJj0vQlD&sig=p3tjjvyzYxZJ_sh5ZB7TyG7YpG8&hl=de&ei=EY7HSaLBK8aD-AbowZnpBg&sa=X&oi=book_result&resnum=1&ct=result


Befrage ich doch einmal die alten Tanzmeister:
... u. ob die Paruque auf die Spanische, Frantzösische oder Engelische Manier, mit einer hohen oder niedrigen Fronte, mit Alongen oder ohne dieselbigen, kurtz oder lang geknüpffet, ect. seyn soll, weil alles gangbar und Mode ist.
(Gottfried Taubert: „Rechtschaffener Tantzmeister“, 1717, S. 401)
... und bey denen Peruquen giebt es so viele Variationes, daß die Erzehlung derselben einen zimlichen Catalogum ausmachte ... was aber einer für Peruquen tragen soll, kan ich niemanden fürschreiben, er wähle nur eine solche Art, die mit seiner Kleidung accordiret, und die nicht aussiehet, als ob sie von Flachs, oder von Sauer-Kraut verfertiget.
(Louis Bonin: „Die neueste Art zur Galanten & Theatralischen Tantz-Kunst“, 1712, S. 111)
Die modische Peruque um 1700 besteht demnach in vielen Varianten und nicht jede hat Alongen! Soweit zur Widerlegung von Melbos Thesen. - Wer kann eigentlich beweisen, daß die Peruquen-Mode im 17.Seculo tatsächlich vom Französischen Hof ausging? Ich zweifle diese Unterstellung grundsätzlich an. Womöglich ging diese Mode vom Parisischen Bürgertum aus und wurde nur vom Hof übernommen - wie vieles andere übrigens auch: Tanzmeister z.B. sind bürgerliche Selbständige, die in den Städten/Universitäten ihre Dienste anbieten; die Höfe pflegen die Besten davon an sich zu binden, und entziehen den Städten damit Cultur-Potential (die Leute wollen doch auch gute Tanzmeister für die Erziehung ihrer Jugend haben). Die creativen Köpfe sind ja auch in der Musik Bürgerliche, die Höfe aber wirken eigentlich nur als Cathalisatoren bürgerlicher Cultur.


Bei der Oranienburger Landesgartenschau turtelte kürzlich eine fistulirende Truppe grotesk affektierender Schauspieler durchs Geblüm und gab sich dabei als Hof des großen Kurfürsten aus, als hätte dieser in einem lächerlich debilen Narrenkäfig bestanden. Leider ist dies symptomatisch für all die Negativklischees, welche mit dem Schlagwort „barock“ ständig verbunden werden:


„barock“ = kokett, dicklich, seltsam, wunderlich, lächerlich, bizarr, grotesk, überladen, närrisch verliebt, dekadent, debil ect. ...


Nun ist die Frage, ob positiv vom 18.Jahrhundert beseelte Reenacter wirklich Anhänger/Sympathisanten eines vorgeblich geisteskranken Kunststiles sein möchten ...

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P.S.: Sehe grad, es sind Antworten eingegangen - schau mir das noch an ...
 
@Carol:
Der „empfindsame Stil“ (Woge der Empfindsamkeit – Werther: „Ich halte mein Herz wie ein Vögelchen und tu ihm jeden Willen“.) gehört in die Zeit Goethe/Mozart, das ist eine ganz andere Welt. Die galante Welt des frühen 18.Jahrhunderts hat ein völlig anderes Lebensgefühl - weniger affectirt, sondern ziemlich vernunftbetont (raisonabel). - Wikipedia traue ich keinen Millimeter über der Weg - auf keinen Fall bei diesem Thema. Bitte höre Dir Bachs erste Orchester-Ouvertüre an, dann weißt Du was der galante Stil war: Ich sprach nie von 1750, nicht 1730, sondern bewegte mich wirklich nur davor. Die Wasser- und Feuerwerksmusik von Händel paßt stilistisch auch gut, weil Händel später noch sehr altmodisch componirte.
Mein Project ist ganz einfach: Ich wurde irgendwann nach dem 30-jährigen Krieg geboren (tatsächlich natürlich nach dem 2.Weltkrieg) und werde im Jahre 1730 schon recht alt sein. Viele hier im Forum interessiren sich mal für Händel, mal für Mozart, dann für Wiener Walzer ... - Ich bleibe immer in meiner Generation, in meinem fictiven Leben dort. Und das Jahr für Jahr, schon seit 1999 (1699). So, jetzt weißt Du, warum ich DA so viel weiß. Und aus dem anderen Grunde weiß ich von 1750 oder 1830 ect., ect. herzlich wenig. Ob das "vernünftig" ist oder nicht, ist mir egal. Ich liebe diese Zeit und das ist mein Plaisir. Oder wer hier betreibt seine Hobbies, weil es die Vernunft forderte? Täte mir herzlich leid, so ein verkrampfter Mensch ...
Zurück zu Dir Carol: Zerbrich Dir nicht zuviel den Kopf, die Structur meines 'Spieles' ist dazu viel zu primitiv. Dieses Jahr ist 1709, letztes Jahr war 1708, nächstes Jahr wird 1710 sein, übernächstes 1711 und das geht stur immer so weiter. Und mich interessirt nur die Musik jener Generation, lese entsprechende Reprints und tanze nur Menuets, Gavotten ect. ... - Complicirt wird es nur, wenn ich anschließend meine Erfahrungsberichte loslasse. Dann kommt halt die ganze Tiefe, die aus meiner engen Focusirung zu erklären ist. Manche glauben dann auch fest, ich hätte Reincarnationserinnerungen und sind davon nicht abzubringen.


@Brissotin:
Du stehst nicht alleine, aber ich fürchte, Du hast Dir die ganzen Citate, die ich hier aufgeboten habe, nicht so richtig bewußt gemacht. Ich habe einen Haufen davon aufgeboten und jedesmal geht daraus hervor, daß es einen galanten Stil gab, der sich speciell auf das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert bezieht. - Vielleicht bin ich selber schuld, wenn ich die Leute mit so einer Masse an Quellen überschütte. Tut mir leid, ich bin nunmal so eine Wühlerin, die alles ganz genau wissen will.
Im Übrigen habe ich nie erwartet, daß man den Begriff "Barockmusik" durch "Galanteriemusik" ersetzen sollte! Das wäre ja auch grundverkehrt, weil "frühbarocke" Musik noch gar nicht Galanterie war. Außerdem gibt es Leute, die das Rokoko mit zum sogenannten "Barock" zählen. - Nein, galante Musik ist einer der Stile des 17./18. Jahrhunderts. Ich weigere mich schlicht, das B-Wort zu gebrauchen (außer in Anführungsstrichen), weil es einfach nichtssagend, platt und ungenau ist. Zu späteren Stilen kann ich nichts sagen. Mozart werde ich kaum erleben, da bin ich unter der Erde. Auf jeden Fall ist das nicht die Musik, die ich schätze.
Ich bewege mich in "meiner galanten Generation" (ca. 1670-1730), als wenn ich da geboren bin. Dabei bleibe ich geographisch im hl. Römisch-Teutschen Reich, weil man im eigenen muttersprachlichen Bereich auf jeden Fall mehr heraus holt. Ich will also gar nicht nach Frankreich abschweifen.
Ich habe übrigens vor wenigen Tagen betont, daß ich den Ausdruck "Epoche" hier vermeide. Deshalb spreche ich ja von "galanter Strömung". Und das ist allemal legitim. Ich habe hier Citate aufgeboten, die vielfach belegen, daß eine umfassende galante Strömung existirte. Dort war Galanterie aktuelle Mode, die später lediglich aufgegriffen wurde. Wenn heutzutage eine Dame jemanden als "galant" titulirt, leben wir deswegen ja auch nicht in der Galanteriezeit. Anderes Beispiel: Man geht zwar heute noch in die Disco und tanzt gelegentlich auch nach Discomusik der 70er/80er, aber die Disco-Ära ist trotzdem vorbei.
Ob ich definitionsgemäß "Reenacterin" sei, weiß ich nicht. Ich sage nur, daß ich diesen Anglicismus nicht verwende, weil ich möglichst Originalsprache verwenden möchte. Ich möchte keine "Reenacterin" sein und wenn Du sagst, daß ich keine sei, ist es mir recht.


@jschmidt:
Mich freut, daß Du Thomasius nennst! Bin ein großer Fan von dem!! Dort ... Der Galante Diskurs (Tagungsexposée) wird er als Anhänger der Galanterie erwähnt, was mich ebenfalls freut. Da kann man gleich einordnen, wie er Dein Citat meinte: Nämlich als Critik an der mißbräuchlichen Verwendung des Begriffes galant. - Wer kann den Begriff „Epoche“ wirklich exact definiren? „Barock“ kann auch keiner exact definiren (es gibt X verschiedene Zeiteinteilungen dazu). Aber wenn ich von der galanten Generation spreche und meine Quellen dazu stelle, wird es völlig exact und klar: Es geht um die Menschen, die in der 2. Hälfe des 17.Jahrhunderts geboren wurden und die zweite Hälfte des 18ten kaum erlebt haben.
 
@Demoiselle
Ich glaube, ich habe verstanden. :) Der Unterschied zwischen uns beiden liegt darin, daß du eine bestimmte Zeit zu leben und zu erleben versuchst, während ich mich lediglich in meine Charaktere versetze und während des Schreibens mit ihnen verschmelze.
 
Relevanz des Galanten in verschiedenen Bevölkerungsschichten:

Der Einwand, Galanterie hätte wohl kaum Bedeutung für die Schichten des unteren Standes gehabt, wurde hier ja laut. Aber ist das im heutigen „Computer- und Informationszeitalter“ anders? Wird heute nicht auch critisirt, daß untere Schichten zuwenig daran partipiciren? Und schaut das – angeblich social denkende – Bildungsbürgertum Anno 2009 nicht sogar auf den „Proll“ herab? Dennoch braucht man solch 'epochale' Zeitbeschreibungen, um sie zu characterisiren. Socialer Ausgrenzung kann man nur mit Bildung entgegenwirken – nicht indem man fehlendes Niveau beschönigt. Solche Bemühungen um breitere Volksbildung hat es im 17./18. Jahrhundert ansatzweise bereits gegeben.​


„Galanterie“ ist um 1700 keinesfalls ein rein höfisches Phänomen, sondern mindestens genauso ein bürgerliches. Und das findet nicht allein in den damaligen Metropolen seinen Niederschlag, sondern auch in provinciellen Kleinstädten (die Leute bemühen sich jedenfalls, sich einen galanten Anstrich zu geben, auch wenn sie dem hohen Anspruch weniger gerecht werden). Auch in der bedeutenden Metropole Leipzig, wo eine galante Blüte war, gab es Galanterie-Muffel und -Hasser – auch sogar in der Bildungsschicht (ähnlich wie einige heute Computer und Internet total ablehnen). Es gab aber in den ärmeren Schichten Leipzigs viele Galanterieanhänger, die versuchten mitzuhalten (so gut sie eben konnten). Tanzmeister Louis Bonin cirtisirt übrigens, daß gewisse Schuster und Schneider sich als Tanzmeister ausgeben, um mit schlechtem Billigunterricht die Jugend zu verderben (mit einer „Schneider-Menuet“ könne man sich nirgends blicken lassen). - In einem Punct finde ich die Einstellung damaliger Bürgerlicher garnicht gut: Einfachen Mägden und Knechten gestehen sie Teilhabe an der Galanterie nicht zu – die sollten nur ihren Pflichten genügen, um offenbar möglichst einfältig zu bleiben.


Was die Landbevölkerung angeht, so leben die in einer ziemlich anderen Welt. Nachdem, was die Tanzmeister da anprangern, hat die Bauernwelt verächtlich auf die feinen Sitten der galanten Stadtbewohner geblickt. Bonin berichtet, er hätte sich einmal mit einem Bauern gestritten. Dieser hätte hönisch gelacht und betont, die Kunst im Tanzen bestünde darin, wer am höchsten springen könnte und alles andere wäre Quatsch. Die Tanzmeister berichten, es ginge ziemlich grob und rau auf Dorffesten zu: Die Leute betränken sich, um dann zu zeigen wer der dollste, verwegenste und durchaus auch obszönste Kerl sei. Insbesondere wird der rücksichtslose, rüde Umgang mit Frauen beklagt.


Welche Geschichtsepoche könnte man überhaupt an der jeweiligen Bauerncultur festmachen? Kultur einfacher Landbevölkerung verändert sich ja kaum und traditionelle Sitten halten sich hartnäckig. Genauso wenig könnte man unsere Moderne an den Tagesbeschäftigungen des Bildungsprekariats festmachen. Wenn da mal tatsächlich jemand Tagebuch führt, sollte man sich das mal genauer ansehen, um exemplarisch zu discutiren, in wie weit man hier prägende Geschichtsbilder ausmachen könnte ...


Und wie ist das mit dem Schlagwort „Barock“? Das bezog und bezieht sich eigentlich ja auch auf bürgerliche und höfische Cultur. Das Attribut „barock“ bezieht sich doch auf schwelgerisch verzierte Culturstile und diese Zier (visuell, tonal, verbal ect.) fand sich maßgeblich in der höfischen und bürgerlichen Welt. Man kann also der Galanterie nicht vorwerfen, daß sie Unterschichten mehr ausgrenze, als der Begriff „Barock“. Daß man das „Barock“ dann doch weiter faßt, läßt sich mit der Galanterie auch machen: Man sprach damals schon ironisch von „Bauerngalanterien“, wenn es um ländliche Sitten ging. Aber „Barock“ und „Galanterie“ können (wie ich wiederholt hier betone!) nicht Synonyme sein, weil die Galanterie einen wesentlich kleineren Ausschnitt meint. Die Galanterie ließe sich recht gut mit der späteren Zeitströmung des Biedermaier vergleichen (obwohl vom Geiste her ja gegensätzlich, weil Galanterie Aufbruch bedeutet und Biedermaier Rückzug). An diesem Vergleich ließe sich auch die Frage nach dem Begriff „Epoche“ messen: Die Galanteriezeit war genauso viel/wenig epochal, wie die Biedermaierzeit. Beides meint Zeitströmungen einer gewissen Generation. Und dann sollte man doch mal schauen, wieviel Biedermaier in der einfachen Landbevölkerung zu finden war ... - Genauso fair sollte man auch mit der galanten Generation umgehen.


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P.S.: Es gibt für die frühe Zeit um 1700 keine ausgeprägte Reenacter-Scene. Es gibt aber doch Sympatisanten dieser Zeit (z.B. im historischen Tanz), die jedoch wenig Informationen haben. Denn die Geschichtsschreibung behandelt die Galanteriezeit bislang allzu stiefmütterlich. Wenn sich interessirte Reenacter hier Informationen aus meinen Texten ziehen, entspricht dies genau meiner Intention. Ich möchte die Informationsdünne und all die schiefen Klischees durchbrechen helfen. Auch wenn ich nicht „Reenacterin“ heißen möchte, würde ich eine anspruchsvolle Reenacterscene für die Galanteriezeit begrüßen. Für das sogenannte „Rokoko“ gibt es eine solche Scene ja schon: Man muß sich nur bei Brissotin und Cecile schlau machen, die hier wahnsinnig viel wissen (übrigens critisirt Cecile den Ausdruck „Rokoko“ genauso wie ich „Barock“ - zurecht!). Aber das sogenannte „Rokoko“ ist eine ganz andere Zeitströmung, mit anderen Menschen, die anders denken fühlen und empfinden. Da bin ich tot – zumindest so steinalt, daß ich kaum mehr was raffe.
 
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@Demoiselle
Ich glaube, ich habe verstanden. :) Der Unterschied zwischen uns beiden liegt darin, daß du eine bestimmte Zeit zu leben und zu erleben versuchst, während ich mich lediglich in meine Charaktere versetze und während des Schreibens mit ihnen verschmelze.
Exact! - Vor allem bleibe ich immer ich selbst - versetze mich also nicht in andere Personen. Practisch so, als reiste ich leiblich per Zeitmaschine dahin. Aber eigentlich ist es so, daß ich mein Geburtsdatum um 300 Jahre zurück datirt habe, um die Menschen aus den Quellen als 'meine Leute' zu begreifen, zu denen ich teilweise freundschaftliche Gefühle hege. Deshalb fühle ich mich auch leicht getroffen, wenn man auf 'meiner Generation' herum haut.
;)
 
Überfällige Antworten

Du kannst aber nicht sagen, was denn der Unterschied zwischen der bsw. französischen und deutschen Gesellschaft im frühen 18.Jh. war, weil Du Dich mit dieser mangels Sprachkenntnissen noch nicht beschäftigt hast. Auch weißt Du nicht, was vor, sagen wir 1699, und nach 1730 für eine Strömung lag, da Du Dich mit diesen Zeiten auch nicht beschäftigst.
Das hieße Du ließest es gelten wenn man das so einordnet:
Barock/Frühaufklärung - "Galante Zeitströmung"/Frühaufklärung - Rokoko/Aufklärung. Na gut, fragt sich noch, ob wir 1725 oder 1730 noch von der Frühaufklärung sprechen können.
(Citat von Brissotin)


Ich will gar nicht Frantzosch sein, weil ich eine ehrenveste und stoltze Teutsche bin (im 21.Seculo sagt man von Identiät)! Aber ich halte die Frantzosche Cultur in Ehren (sonst sägte die Tanzmeisterin an den Brettern, auf denen sie selbst tanzt).


Nach ca. 1730 ist es bei mir 'dunkel', weil hier die Literatur aufhört, die ich benutze. Das „Musicalische Lexicon“ (Bach-Schwager Walter, 1732) ist Schlußlicht, doch immerhin war „Der Musicalische Patriot“ Matthesons von 1728. Biologisch scheint mir dies auch in etwa die Altersgrenze meiner galanten Generation zu sein (1740 würde ich auf keinen Fall mehr mitrechnen). Natürlich glimmt hie und dort was nach – es ist ja auch ein Proceß, aber bislang erscheint mir „um 1730“ tatsächlich als Grenze. Ich setzte mal ein „vorläufig“ dahinter, denn ich möchte demnächst mal erheben, wer wirklich die wichtigen galanten Autoren des 17./18.Jahrhunderts in Teutschland sind ... und dann mal schauen, wann die abgetreten sind. Für mich ist die Literatur der beste Gradmesser, weniger die Musik. An der jeweils actuellen Bekleidungsmode kann man auch gut ablesen, weil die Menschen (altmodische ausgenommen) sehr kurzfristig darauf reagiren. Der schlechteste Gradmesser sind Immobilien, weil die Herstellung langfristig ist und zudem Älteres oft 'verschlimmbessert' wird.
Wichtig ist für meine 'Erleuchtung' der gewaltige Input von Tanzmeister Gottfried Taubert (1717) – sein Werk hat insgesamt Brockhausformat und wer das 'erdulden' kann, das complett durch zulesen, erlebt galanten Alltag hautnah! Deshalb ist es bis 1717 bei mir natürlich gleißend hell. Bonin (1712) ist ebenfalls einigermaßen umfänglich und Meletaon (1713) rundet das ganze ab. Zwischen 1695 und 1719 hat sich aber auch sonst einiges an Originalliteratur bei mit abgespielt – ich benutze u.a. ja auch mehrere Reprintwörterbücher als Handexemplare ect. ... Für die Zeit von Anfang 1700 bis Decembrij 1701 hatte ich eine Originalzeitung quasi 'abonnirt' (copirt bei der Presseforschung und dann 2000-2001 chonologisch Tag-für-Tag studirt): Die Tiefe dieser Erfahrung kann man gar nicht beschreiben, man kann am Ende gar nicht mehr unbeteiligt sein und wächst ziemlich in diese Welt rein.
Nun 'bekomme' ich von Madame (Elisabeth Charlotte von Orleans, von Churpfaltz) seit 1699/1999 meist mehrmals die Woche Post und das jetzt schon 10 Jahre lang: Ich kenne die Frau nicht allein wie eine nahe Verwandte, sondern sie hat 'mir' ja auch unheimlich viel an Informationen erzählt in all den Jahren. Ihre Briefe bis 1698 hatte ich Ende der 90er damals complett gelesen und dieses Erfahrungswissen brauche ich auch, denn meine Kindheit und Jugend fällt ja in die 60er/70er Jahre. Was den Niederländischen Krieg angeht, muß ich als Kind damals regional direct betroffen gewesen sein und dementsprechend habe ich mir diese traumatischen Kindheitserfahrungen (auch regionalgeschichtlich) nachgeimpft (erinnere mich auch noch an einen Cometen, der damals einen Mordswirbel, von wegen fatales Himmels=Zeychen, machte). Naja und Wien/1683, Pfältzischer Krieg ect. gehört natürlich zu meinem 'Leben' dazu! (letzteres muß ich trennen : was 1700 noch als Unrecht schmerzt, darf man 2000 nicht als actuell auffassen, um gar in Revanchismus zu verfallen!!).


Vor ca. 1670 ist es dunkel, da bin ich noch zu klein und dementsprechend habe ich da kaum hin geleuchtet. Betrachte den Simplicissimus als Trauma meiner Elterngeneration (das die Nachkommen ja mit beeinträchtigt!).


Besonders hell ist es ergo von 1700 (die Zeitung) bis 1717 (Taubert).


Jedoch bei aller Dunkelheit in früher Kindheit, so lese ich doch auch Bücher von z.B. 1660, wie das eine galante Dame, galanter Bildung halber, tun soll. Ich schlage Originale niemals unter der Rubrik „Geschichte“ auf, sondern als hochnöhtig zulesen, allermassen in der galanten Welt Bildung, Bildung und nochmal Bildung angesagt ist. Und so lese ich z.B. auch Reiseberichte aus Mauritania, wie mich überhaupt Muselmanien und Mohrenland momentan etwas gepackt hat.


Ja und wenn ich manch einen Geschichtsdoctoren über 'uns' reden höre, kriege ich stellenweise Krämpfe und denke: „Waß haben die künfftige Generationes eygentlich vor wunderliche Concept von unß?!“ - Aber sie mögen's nicht, wo man sie corrigirt, weil sie ja studirt haben und daher alles besser wissen ...


Dennoch singe ich alle Tage das Loblied auf das Leben als Autodidakt in strahlendem D-Dur: Autodidakten dürfen alles das ausleben, was Historiker nicht dürfen. Es wäre ausgesprochen unvernünftig, wollte ich mich zu was anderem zwingen. Ich bin nicht von der Spaßgesellschaft und rede nicht von Spaß, aber Freude, Erfüllung, ja Erleuchtung soll mir mein Project schon bringen. Ich backe keine kleinen Brötchen, sondern bin immer auf der Suche nach dem Besonderen. Entfremdete Arbeit ist was anderes – womöglich mit Zuckerwatteperücke und so'm Kitschkram („die Leute mögen das aber lieber, als das Authentische!“ sagte man mir in einem Museum) dafür soll man mir doch anständig Thaler blechen bitte. Aber unsre galante Welt ist im 21.Seculo wenig populär und andre Kleyder näh ich nicht. - Hergegen, wollte man bei mir anhalten, einmal wirklich die galante Welt zu celebriren – etwa Teutsche Current=Schrifft mit Feder vom Vogel und rechschaffenlich Teutsch Orthographia, auch anständig Referentze machen (artig mit Würde und ohne grinsen oder Affectiren und sonst Faxen!) - u.s.f. - ect. - u.s.w. ... würde ich mir lediglich das Fahrgeld ersetzen lassen.
Ja schau einer her, so ein netter Mensch ist Demoiselle. :)


Das hieße Du ließest es gelten wenn man das so einordnet:
Barock/Frühaufklärung - "Galante Zeitströmung"/Frühaufklärung - Rokoko/Aufklärung. Na gut, fragt sich noch, ob wir 1725 oder 1730 noch von der Frühaufklärung sprechen können.
(Citat von Brissotin)


Ich ordne es so ein:
Vor meiner Gebuhrt (all altfränckisch/altvätterlich) –> Rheingrafenzeit (zumeist schöne Erinnerung) –> moderne galante und raisonable Zeit (hoch löblich seyende!) –> künfftige Zeiten (so man nicht eygentlich wißen kan).


Wenn aber einer sagt:
Frühbarock -> Hochbarock -> Galante Zeit -> Rokoko (fängt eigentlich die Frühaufklärung schon vor dem Teütschen Kriege an?)
und macht um alles zusammen (inclusive meine dauernswerte galante Generation) die Klammer „Barock-Epoche“, werde ich's nicht als falsch brandmarken, noch meinen Degen ziehen. Ich werde zunächst still in mich hinein leiden, um dann irgendwann (Rache, Rache, Rache!) ein richtig bösartiges Buch wie dieses hier zu verfassen:


http://www.galantewelt.de/Teutsche_Liberey/Reisbericht_von_der_Barockischen_Generation.pdf
:devil:
Zur Musik würde ich es mir bsw. einfacher machen. Ich würde einfach sagen, hier komponierte mal Telemann oder Bach im französischen, dort im italienischen Stil. Das liefe freilich darauf hinaus, dass die deutschen keinen eigenen Stil hatten und würde einen Begriff wie "Galanteriemusik" sehr in Frage stellen. Aber sei es drum! Die Engländer hatten ja auch keine eigene Opernform. Purcell ließ sich von Lully beeinflussen und Händel von den Italienern und naja, dann haben sie noch Arne... Ist der eher Franzose oder Italiener oder begründete er was eigenes?
(Citat von Brissotin)


Ich kannte mal einen, der hieß mit Vornamen Arne, war aber kein Compositeur, sondern Computerfreak.


Wenn man sich etwa Georg Muffat anhört, stellt man doch fest, daß es einen Teutschen Stil in der galanten Musik gibt. Das hört sich allemal anders an, als etwa Delalande (der in Versailles ja absolut noch actuell ist und dem alternden König dort zum Essen aufspielt). Gleiches gilt etwa auch für Erlebach und Fux, oder den jungen Händel um 1705 (hat bei Muffat geklaut, das hört man!). Diese Leute haben nicht 1:1 copirt, sondern genau das gemacht, wofür Mozart von der Nachwelt – ungerechter Weise allein - gelobt wird. Sie haben verschiedene Einflüsse von außen vermischt und bauen zusätzlich sicher auf Leute wie Schein mit auf, um daraus einen actuellen Nationalklang zu entwickeln. Ich will den jungen Bach hier übrigens nicht übergehen, der sich anfangs sehr für Lully begeisterte – seine erste Orchester-Suite/Ouverture klingt aber nach Teutschländischer Galanterie, wenn auch stellenweise nach Lully (man weiß es nicht, aber ich könnte mir vorstellen, daß dies ein Frühwerk aus seiner Zeit als geigender und orgelnder Page zu Weimar ist). Die wenigsten haben ja CDs von Muffat&Co, drum sage ich immer: „Hört euch die Tanzsätze von Bachs 1.Orchestersuite an, dann wißt ihr, was in der galanten Welt im Teutschlande angesagt ist!“ - Wer dabei die Füße still halten kann, ist entweder ein Antitänzer, oder er mag die Musik nicht.


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... irgendwann bis zur 10. Klasse. Händel und Bach kamen auf jeden Fall dran bei uns. (Allerdings noch in Spielweisen, die mir heutzutage die Schuhe ausziehen würden. Ich bin inzwischen großer Fan der historischen Aufführungspraxis.....)
(Citat von Turandokht)


Das Clavier machte damals ängstlich unterdrückt „pingel-pingel-pingel“ und oft hörte man fast nichts : als Kind dachte ich immer, das sind irgenwelche unerwünschten Aufnahmenebengeräusche, welche Tontechniker für gewöhnlich mittel Noise Gate zu unterdrücken pflegen. Heute haut man am Clavicymbal anständig in die Tasten, daß es regelrecht swingt und der Lautenspieler fetzt dazu passagenweise, daß es fast schon rockt. Ja, Händel und Mattheson haben sich am Hamburger Gänsemarkt scharf duellirt (Streit um den Platz am Clavier mitten in der Oper) und den ersteren hätte es fast um's Leben gebracht (ihn rettete sein Schnupp=Tobback=Dößgen) : das waren agile junge Leute und keine frühsenilen trübe-Tassen!
Uns ist natürlich bekannt, daß die Perücken möglichst Echthaarqualität in Naturhaarfarbe hatten (auch wenn Meiers und Müllers denken, die hatten Zuckerwatte auf dem Kopf): sie sahen ergo den Stones weit ähnlicher als Mozart. Und die Degen waren keine lächerlichen Zahnstocher, sondern man konnte damit anständig herum hauen. Gott-sei-dank möchte ich fast sagen.


Wenn man das alles berücksichtigt, ahnt man, wie vital galante Musik eben klingen muß. Aber eine Erinnerung kann ich Dir nicht Ersparen, liebe Turandokht: Jene Leute die in den 1950er/60er Jahren mit der historischen Spielpraxis anfingen, wurden von der Mehrheit ihrer Collegen für übergeschnappt gehalten. Ich habe teilweise denn Eindruck, daß Du mich auch für übergeschnappt hälst, weil ich eben fanatisch bin. - Ja, magst Du vielleicht lieber ängstliche Oberflächenplätscherer, die winzige Korinthenbrötchen aufs Backblech kacken?
 
Aber eine Erinnerung kann ich Dir nicht Ersparen, liebe Turandokht: Jene Leute die in den 1950er/60er Jahren mit der historischen Spielpraxis anfingen, wurden von der Mehrheit ihrer Collegen für übergeschnappt gehalten. Ich habe teilweise denn Eindruck, daß Du mich auch für übergeschnappt hälst, weil ich eben fanatisch bin. - Ja, magst Du vielleicht lieber ängstliche Oberflächenplätscherer, die winzige Korinthenbrötchen aufs Backblech kacken?
:rofl:Ja, übergeschnappt - schon .... hm .... ein wenig. Und anstrengend.
Aber definitiv interessant. :winke: Gibt es viele Leute wie Dich?
Als Historikerin lebe ich halt in einem etwas anderen Universum, deswegen ist die Kommunikation da nicht so einfach.
 
:rofl:Ja, übergeschnappt - schon .... hm .... ein wenig. Und anstrengend.
Ich bringe auch Opfer, nicht nur ihr! Ich opfere mich halt als Versuchstier. aber es ist auch lustig. :rofl:

Aber definitiv interessant. :winke: Gibt es viele Leute wie Dich?
Nö - und das ist das Problem. Man könnte noch viel mehr rausholen. Discurs in Originalsprache, rein Quellengestützt und ohne spielerisches Affectiren, sondern toternst: Die Erkenntnisse wären ernorm! In Ansätze hatte ich das bei den Freunden der Kurrentschrift DKS, aber die Leute wollten mehr spielen und ich war ihnen zu gnadenlos genau ... schade!

Als Historikerin lebe ich halt in einem etwas anderen Universum, deswegen ist die Kommunikation da nicht so einfach.
Auf rbb inforadio interviewte man mal eine Historikerin - irgendeine Uni in Sachsen. Die sagte ganz ehrlich, daß sie Romanisten* um ihr historisches Erlebnispotential manchmal beneide, weil die mehr dürften und tiefer eintauchen könnten. Insofern ganz gut, daß ich nicht studiren konnte. Aber ganz verstehe ich das nicht, denn auch ein Historiker hat ja Freizeit. Ich meine, ich bin ja auch irgendwie normal - jedenfalls äußerlich ...

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* Stimmt eigentlich nur bedingt, denn der Markt gibt nich alles her, der Leser frißt nicht so leicht die historische Wahrheit und bestraft umso leichter das umgehen von Klischees. Die Welt ist böse, weil verlogen - ganz ehrlich.
 
Zuletzt bearbeitet:
Gibt es viele Leute wie Dich?
Nö - und das ist das Problem. Man könnte noch viel mehr rausholen. Discurs in Originalsprache, rein Quellengestützt und ohne spielerisches Affectiren, sondern toternst: Die Erkenntnisse wären ernorm! In Ansätze hatte ich das bei den Freunden der Kurrentschrift DKS, aber die Leute wollten mehr spielen und ich war ihnen zu gnadenlos genau ... schade!
Mich erinnert das alles sehr an ein Buch, das mich total fasziniert hat. Titel ist "Von Zeit zu Zeit". Literarisch gesehen nichts besonderes, aber die Geschichte fand ich absolut fesselnd. Es ging um ein Zeitreise-Forschungsprojekt, das auf der Theorie basierte, daß man sich emotional und rational nur sehr tief in eine Zeit versenken muß, um dort hin zu gelangen. Der Ich-Erzähler des Buches wird demnach umfassend geschult und lebt dann für ein paar Wochen in einer historisch-authentisch gestalteten Umgebung, liest täglich die entsprechende Zeitung, trägt die richtige Kleidung usw. Schließlich kann er wirklich aus der Tür gehen und befindet sich in den 1880ern. Vielleicht passiert Dir das ja mal ..... ;)
 
Harte Wirklichkeit galanter Gegenwart

Die heutige galante Welt hat gar scharfsichtige Augen/ und weilen man auf nichts mehrers/ als ein galant Frauenzimmer Achtung giebt/ muß man diejenigen Fehler betrachten/ welche etliche stets in der Gewohnheit haben.
Louis Bonin, „Die neueste Art zur Galanten und Theatralischen Tantz=Kunst“ (1712), S.130


„Die heutige galante Welt“ kann in der Tat zwiefach gemeint sein: Zum einen bezeichnet man mit ihr die Welt der Galanten an sich, die sich doch ziemlich abgrenzen und nur diejenigen willkommen heißen, welche sich galant aufzuführen wissen. Man kann dies als elitär critisiren, positiv finde ich andererseits, daß man eigentlich nicht auf Vermögen schaut. Man will halt keine „Grobiane“ um sich haben, die sich nicht einfühlen können bzw. wollen.


... denn die heutige galante Welt ist so geartet/ daß sie geschickte Leute nicht nur in Ehren hält/ sondern auch an deren Unterhalt nichts ermangeln lässet.
Louis Bonin, s.o., S.68


Dies betonten auch andere Autoren immer wieder, daß eben ein armer Schlucker, der sich um galante Aufführung bemüht hat, gewissermaßen schulterklopfend empfangen wird. Man möchte solche jungen Menschen haben und fördern. In der Tat waren diese galanten Kreise auch eine 'Jobbörse' für alle die weiter kommen wollten.


Denn die heutige galante Welt siehet nicht einig und allein auf die Gelehrsamkeit/ sie ist nunmehr nach der Mode eingerichtet worden/ und wer ihre Manieren nicht weis/ der kan auch nicht als ein galanter und geschickter Mensch passiren/ ...
Louis Bonin, s.o., S.49


Hier klingt schon eher durch, daß eben die Welt zu Beginn des 18.Jahrhunderts allgemein nach der Galanterie tickt (so man hinter dem Ofen vor kommen will, um mehr als Drecksarbeit zu machen). Das ist in der Tat ein Zwang, gegen den manch einer sich auflehnt („früher war alles besser - was sollen diese neumodischen, fremdländischen Sitten“), gerade junge Leute, die aus rückwärts gewandten Familien stammen. Tanzmeister hatten hier die Aufgabe zu pädagogischer Ermahnung: Man müsse sich da anpassen, es gäbe leider keine andere Wahl.


... ja der Kaiser wie der Bauer glückseelig heissen kan : Alleine wer die heutige Welt/ nach ihren Eigenschaften betrachtet/ der wird befinden/ daß ausser der Gelehrsamkeit/ noch dieses Kunst=Stücke übrig/ wie man sich in die Leute schicken/ und bey Unterhaltung deroselbigen/ eine galante Auffürung bezeigen soll.
Louis Bonin, s.o., S.40


Bonin singt hier immer noch dasselbe Credo von der „heutigen galanten Welt“, in die man sich fügen solle. Nur, daß er diesesmal eindeutig wird: Galanterie ist kennzeichnend für „die heutige Welt“. Das Galante ist demnach in der Tat umfassend, eben die prägende Zeitströmung seiner gegenwärtigen Welt, der man sich schwer entziehen kann. „Galante Welt“ bedeutet eben auch Allgegenwärtigkeit eines vorherrschenden Zeitgeistes.


Das Kleid macht den Mann. Dieses ist ein allgemeines Sprichwort/ bey der heuntigen Welt/ welche von der honéteté und Galanterie Profession machet.
Louis Bonin, s.o., S.106


Hier wird es nochmals klar: Die bürgerliche Welt von 1712 ist auch in Teutschland von den Regeln der Galanterie geprägt. Es geht nicht darum (wie mancher verspielte Reenacter gerne glauben machen möchte), wer der schönste und koketteste Paradisvogel sei, sondern um knallharte Professionalität. Wer würdig im Wohlstand leben möchte, ein anständiges und auskömmliches Amt bekleiden, der muß sich dem vermeintlich ungeschriebenen Galanterie-Codex fügen (den man sich aus Sitten- und Tanzmeister-Büchern allemal zusammenklauben konnte). Galanterie ist also kein Spiel, sondern bitterer Ernst gewesen.


Irgendwo hatte ich mir vor Jahren einen hübschen Kupferstich heraus vergrößert und an die Wand gehängt. Der junge Mann darauf sieht wahrlich aus, wie aus dem Ei gepellt, blickt indeß etwas unzufrieden drein (im Hintergrund sieht man ihn noch einmal mit einer Dame...). - Der Untertext spricht von eben jenen galanten Zeitgenossen, die damals nicht davon abzubringen waren, Galanterie als lockeres Liebesspiel aufzufassen und der Moralingehalt schneidet scharf ins Gemüht:
Der die Collegia der Jungfern stets besuchet, u. im charmiren sich zum Meister hat gemacht; hat öffters seine Müh, die Zeit, u. Geld verfluchet, weil ihn solch Studium um Glück u. Ehr gebracht.
Mir tut das insofern wohl, daß dies ein Affront gegen jene kicherigen Tanzmäuse darstellt, die nichts als verliebte Gedanken in eine vermeintlich kokette Vergangenheit hinein projicirten (bin wahrlich froh, diesen Anfangsgründen historischen Tanzens entronnen zu sein).
 
Honni soit, qui mal´y pense, der ist kein ehrlicher Mann, der böse Gedancken dabey hat.
Citat, "Frantzösisch=Teutsches ... Wörter=Buch", von Leonhard Frisch, Andere Auflage, 1719


Insbesondere nicht dann, wenn, wenn ich unter Zeitdruck stehe. Ich darf (UTMS-Stick) nicht direct antworten, weil es dann teuer wird. Bitte darum zu toleriren, daß ich die Citirfunction übergehe, um das
offline zu setzten. Mein Fehlgriff brachte AldiCall immerhin einen Gewinn von 89ct, während ich normalerweise für 14ct eine vorgefertigte Antwort hochschießen kann. Anschließend bin ich peinlich berührt, weil der eine oder andere Flüchtigkeitsfehler drin ist und die Sprache auch nicht gerade zu gepflegt.


Romaniste, s.m. (von roman) der Romanen macht.
Citat, "Frantzösisch=Teutsches ... Wörter=Buch", von Leonhard Frisch, Andere Auflage, 1719


Hätte „Romanist“ cursiv drucken müssen (siehe meine Signatur-Regel), da nicht mehr gültig. Der Romancier steht freilich auch im Frisch. - Vielen Dank für Anregung und Auflockerung, damit die Materie nicht zu trocken wird und ich wieder einen Grund finde, nach zublättern!


@Turandokht: Ich glaube fest an das, was man sich erarbeitet hat. Das ist bei mir eigentlich immer irgendwie wahr geworden, wenn ich nur dran geblieben bin. Ich bin nicht mehr jung, habe aber dennoch Träume. Diese Container-Geschichten (habe kein TV, sondern höre Critisches davon im Radio) könnte man sinnvoll gestalten: Man gibt den Probanten jedes Quellenmaterial, das zu bekommen ist. Secundärquellen zählen nicht und jeder soll sich um Originalsprache bemühen (Vormittags im Tagesprogramm Schulungen). Wenigstens 1 Jahr lang sollten diese Leute ausschließlich in einem eingegrenzten Quarré einiger Häuser, unter historischen Lebensbedingungen (ausgenommen Notfallmedicin) verbringen. - Der Discurs dieser Leute müßte aufgezeichnet werden. Dabei würden sehr aufschlußreiche Erkenntnisse heraus kommen ...
 
Neues zum Thema „Barock“-Bashing

Während seines RBB-Inforadio-Interviews stellte Buchautor Max Melbo folgende Behauptung auf:
... aber Ludwig XIV. hat ja daraus eine Staatsperücke gemacht. So hieß sie damals. Allongeperücke ist ein späteres Wort im 19. Jahrhundert und er hat es später verlangt, von allen Höflingen, bis ganz Europa.
Max Melbo in einem RBB-Inforadio-Interview, für die Sendung „Umgeschichtet“, vom 14.03.2009, 13:25 Uhr, hier citirt von inforadio.de (siehe den Link unten).


Bevor ich nochmals zu weit beunruhigenderen Thesen komme, wie sie Melbo in besagtem Interview äußerte, messe ich seine Perückenthese einfach mal an einem Originalbuch von 1717:
Und guckt darneben aus der abscheulich grossen Alongen-Peruque, nichts anders, als ein Frosch aus dem Heu=Schober, oder eine Nacht=Eule aus der Scheune, hervor.
Citat aus: Gottfried Taubert, „Rechtschaffener Tantz=Meister“ (1717), S.392


Soweit Tanzmeister Taubert, unter der Rubrik „Extremo und Excess der äusserlichen Aufführung“. Nun war Tauberts Hauptwerk der Tanzunterricht und sein Buch schrieb er nebenbei über viele Jahre. Die Wahrscheinlichkeit ist demnach recht groß, daß er diese Anmerkung sogar noch zu Lebzeiten Ludwigs XIV. verfaßt hatte. Auf jeden Fall stimmt die Aussage einfach nicht, der Begriff „Allongeperücke“ wäre vor dem 19.Jahrhundert nicht gebräuchlich gewesen!
Wie soll man da Melbos noch weit abenteuerlicheren Thesen trauen, die er in besagtem, unglücklichen Interview geäußert hat? Etwa, daß „... der Sonnenkönig, ein untergeschobenes Kind war, kein leibliches seiner Eltern ...“
Der Sonnenkönig Ludwig XIV. ist ein Tonnenkönig. Das heißt, er ist aus dem Misthaufen der Gesellschaft hergeholt worden, aus Süditalien, aus Waisenhäusern, von solchem Kontingent besteht Ludwig XIV.
Max Melbo in einem RBB-Inforadio-Interview, für die Sendung „Umgeschichtet“, vom 14.03.2009, 13:25 Uhr, hier citirt von inforadio.de (siehe den Link unten).


Und ei! Ich weiß nicht, ob der Mann Freudianer ist. Aber es hört sich in meinen Ohren doch sehr danach an:
... und die Perücke ist ja nicht nur einen Männerfrisur, sondern sie geht auch noch nach oben. Ich muss sagen, sein Gesicht sieht aus wie ein Vagina-Popo. Dass da ein vaginales Phänomen sich ihm auf den Kopf setzt.
Max Melbo in einem RBB-Inforadio-Interview, für die Sendung „Umgeschichtet“, vom 14.03.2009, 13:25 Uhr, hier citirt von inforadio.de (siehe den Link unten).


Soweit Max Melbo und sein 'vaginales Staatsperücken-Phänomen'. Schlösse sich an dieser Stelle ein gepfefferter Comentar an, wäre dies freilich ein Fest. Allein vermute ich, daß ich mir Herrn Melbo anschließend vor Gericht reintun müßte ... Lassen wir das also. Hier das ganze Interview, tapferen Gemütern zu fernrer Durchlesung:


http://www.inforadio.de/static/dyn2sta_article/637/465637_article_print.shtml


Das Thema „Barock“-Bashing handelte ich vor Tagen übrigens dort #45 ab.
 
Interpretationsvarianten der Galanterie

Galanterie als Reduction auf Verliebtheit:


Um ehrlich und gerecht zu sein, darf ich mich auf die ideale Galanterie nicht beschränken und insbesondere jene Bedeutungsvarianten nicht verschweigen, welche dem sittlich-pädagogischen Zweck entgegen liefen:
Galante liebes-briefe sind schreiben/ welche man mit frauenzimmer wechselt/ und in welchen man entweder eine liebe simulieret; oder eine wahrhafftige so schertzhafft und galant fürbringet/ daß sie die lesende Person für eine verstellte halten muß. [22]
Citat Stephan Krafts, aus Benjamin Neukirchs „Anweisung zu Teutschen Briefen“.


Auch Bonin klagt, daß nicht wenige seiner Tanzschüler sich lediglich galant stellten, um an seine weiblichen Schülerinnen heran zu kommen. Auf diese Weise wäre schon manch argloses junge Mädchen verführt worden, indem sie vorgespieltem Anstand vertraute. So ist es nicht verwunderlich, wenn viele im nächsten Schritt Galanterie frech uminterpretirten.


Ein galant Homme ist bey denen Frantzosen nichts anders/ als ein munterer und aufgeweckter Kopff/ welcher durch seine artige Einfälle/ dem Frauenzimmer zu gefallen suchet : duch die Galanterie aber verstehen sie die Schertz=Liebe/ oder diejenigen Süssigkeiten welche ein Galan seiner Maitresse zu sagen pfleget.“
Citat Meletaons, aus Benjamin Neukirchs „Anweisung zu Teutschen Briefen“


Meletaon critisirt letzteres Citat zwar und betont, daß galant eben nicht verliebt heiße. Doch zeigt folgendes Citat von ihm, daß auch er nicht frei von galantem Schwärmertum ist:
Je artiger sich ein Frauenzimmer aufführet/ und je galanter selbiges sich erzeiget/ desto mehr Vollkommenheit müssen wir ihr zuschreiben/ daher kommt es eben/ daß man mancher Schönheit/ als einem irdischen Engel/ die Huldigungs=Pflicht leistet.
Meletaon 1713


Für einen jungen Mann eine wohl altersgemäße Idealisirung – spätere Enttäuschungen sind wahrscheinlich mit vorprogrammirt ...


Es gab sogar viele, welche die Galanterie so uminterpretirten, daß dies ihren Wünschen nach Bequemlichkeit und Lustgewinn entgegen kam. Dabei war Sexualität damals eigentlich, außerhalb von Ehe, nicht nur verpönt, sondern grundsätzlich nicht zugelassen. Christliches Leben galt weitgehend als selbstverständlich und dies erstreckte sich eben auch auf das christliche Keuschheitsgebot. Aber natürlich suchen Menschen sich unter solchen Bedingungen Freiräume – nur in der Verborgenheit. Und dies führt eben dazu, daß (Schein-)Galanterie gern als Maskirung heimlicher Freizügigkeit mißbraucht wurde. Daraus erwuchs ein Bedeutungsvariante, die „Galanterie“ u.a. mit Unzucht übersetzte, was unter Pietisten wiederum zu Vorurteilen führte: „Galanterie = Sünde“. Dieses aber führte wiederum dazu, daß ernsthaft galante Menschen sich umso emsiger bemühten, ein sittliches und vor allem christlich-keusches Leben zu vorzuleben. Was der Galanterie offenbar ein gewisses pietistisches Gepräge verlieh.




Überzeichnen der Galanterie im Sinne eines Übermenschenbildes:


Daß man allen Menschen rathen soll die Galanterie zu lernen/ das gehet nicht an/ und wie wir bereits gehöret/ schicket sich nicht jeder darzu/ weil diese Kunst/ wo ich sie anderst so nennen darff/ ein freymüthiges ungezwungenes und natürliches Wesen verlanget/ wem aber die angebohrne Eigenschafften die Hand reichen/ der wäre straffens=würdig/ wo er sie nicht so viel als möglich ausüben wollte.
Meletaon, 1713


Das klingt nun wirklich elitär! Galanterie gewissermaßen als Gnade für wenige Auserwählte. Was eigentlich nicht jener engagirten Haltung entspricht, wie sie Tanzmeister Gottfried Taubert in seinem Buch von 1717 vertritt.
Taubert gibt auch den ungeschickten, armen 'Tolpatsch' nicht auf. Zwar räumt er ein, daß der Tanzmeister länger mit ihm Geduld haben müßte, doch könnte man seine Unzulänglichkeiten (jeder weiß, daß Menschen, die über ihre eigenen Füße stolpern, im Alltag einen schweren Stand haben) durch consequente Übung bessern. Diese Menschlichkeit atmet immer wieder aus Tauberts immerhin 1176 Seiten. Man kann sich darin zutode suchen, um dann irgendwas anderes schönes zu finden ... - Ich vertraue darauf, daß man dieser meiner Aussage auch ohne Citat glauben schenkt, denn ich kann dieses capitale Werk nicht so rasch noch einmal durchlesen, wie das von Louis Bonin (bei dem ich mir momentan einiges anstreiche).


Es geht hier ja weniger ums Tanzen, sondern um den pädagogischen Gehalt des Galanten, wie man ihn angesichts etlicher Quellen, vermißt, um ihn in wiederum anderen reichlich zu finden. Meletaon hat durchaus viel pädagogisches Gespür, doch er ist 1713 noch recht jung und neigt von daher dazu, Galanterie sehr zu idealisiren. Und so stimmt er Benjamin Neukirchs Characterisirung des galanten Menschen zu:


Tantzet er/ so muß er es ohne Affectirung der Kunst/ aber doch mit Verwunderung aller Zuschauer thun; Singet er/ so muß er gefallen/ redet er/ so muß er ergötzen/ machet er Verse, so müssen sie durchdringen/ und schreibet er endlich Briefe/ so muß er seine Gedancken/ ehe er sie zu Pappier bringet/ wohl untersuchen : wann sie aber geschrieben seyn/ so müssen sie scheinen/ als ob er sie ohne Bemühung geschrieben hätte. Verdrüßliche Dinge muß er angenehm/ angenehm/ verdrüßlich machen; Bey traurigen Begebenheiten Glück zu wünschen/ bey glücklichen/ betrübt zu sein/ oder auch Verweise zu geben wissen. Mit wenigen/ er muß alles drehen können/ wie und wohin er will. Solches aber zu erlangen/ muß er nicht allein klug und von guter Erindung/ sondern auch lustig/ artig/ und ein Meister seiner Affecten seyn.


Man möchte den einzelnen Puncten hier gern zustimmen. Doch insgesamt ergibt sich das Bild eines Supermenschen, bar eines jeden Schwachpunctes, der auf allen Gebieten perfect ist und offensichtlich nie Fehler begehen darf. Das ist schlicht nicht mehr menschlich und widerspricht insbesondere jener christlichen Lehre von des Menschen Fehlbarkeit, welche Meletaon als engagirter Christ eigentlich vertritt.
Sowohl Bonin, noch mehr aber Taubert, treten als Tanzmeister für die Verbreitung galanter Sittlichkeit in der Bevölkerung ganz allgemein ein. Bonin räumt ein, jener Grobian, welcher den Sinn der Höflichkeit nicht einsehe, würde beim Becker gleichwohl mittels mürrischem: „Gib mir Brot!“ zum Ziel gelangen. Dennoch weiß er den Nutzen einer höflichen Bitte zu weisen – zur Besserung des Menschen im Allgemeinen. Insofern kann man davon ausgehen, daß im 21.Jahrhundert nunmehr verbindliche Höflichkeitsnormen offensichtlich maßgeblich von den Sittenlehrern der galanten Generation vorangetrieben wurden. Vielleicht ist es sogar so, daß die Moderne inzwischen höflicher und eben galanter ist, als jene galante Generation – in der Breite jedenfalls - gewesen ist.


Was aber Meletaon eingangs vertritt, erinnert mich an jenen um 1700 populären Spruch, der da sagt:
Waß soll der Kuh Muscaten? sie frist auch wol Haber=Stroh.
Daß nämlich derjenige, dem die Gnade des Naturells abginge, sich nur fein weiterhin mit Haferstroh begnügen möge.


Zum Glück schränkt er dies auf den folgenden Seiten ein, indem er zugibt, nicht jeder müsse „vollkommen galant“ sein - nicht jeder solle „zu galant“ sein. Für den Rest seines Buches entwirft er dann doch eine lebbare Galanterie für die Allgemeinheit. Am Ende muß ich dem jungen Mann ein dickes Lob machen. Weil er sich – gemessen an seiner Zeit – mit viel Herz der socialen Frage widmet:
Haben aber die Eltern/ das Vermögen nicht/ vieles Geld an die Kinder zu wenden; ist zwar dieser Verlust zu beklagen/ doch sind die Kinder dabey nicht gäntzlich verlassen. Wenn es erlaubet/ will ich diesen Rath verschlagen: Man lasse sie in ihrer ersten Jugend/ ja auch in den aufsteigenden Jahren/ mit solchen Kindern/ wo möglich täglich um gehen/ die man nach der vor erwehnten Art zu erziehen pfleget/ auf solche Weise gewöhnen sie sich viele von den guten Sitten der andern Kinder an/ und lernen nach und nach/ wie sie sich geberden sollen/ wobey man ihnen zugleich allerhand nützliche Erinnerungen und Fürstellungen an die Hand geben kan/ bis sie in der gemeinen Auffürung einen Grund geleget/ vielleicht fügt sichs alsdenn/ daß man den Vortheil erhält/ sie weiter instruiren zu lassen/ und ein Jährchen auf den Tantz=Boden zu schicken/ woselbst sich der Nutzen von dieser Erinnerung/ schon zeigen wird.
Demnach gibt es doch das Galante jenseits aller Perfection. Auch wenn etliche Fragezeichen bleiben – hier entwirft Meletaon im Ansatz bereits eine Art alternative 'Galanterie für Arme'.




Galanterie-Praxis in der galanten Welt:

Fern aller Schwärmerei – weiß Meletaon concret, was in der realen Welt seiner Zeit erforderlich war. Und so zählt er schon am Anfang seines Buches die damals practischen Kenntnisse und Fähigkeiten auf, wie sie von galanten Männern erwartet wurden:
(I) die Gelehrsamkeit/ worunter ich auch die Sprachen begreiffe/ und (II) die Exercitia, als Tantzen/ Reiten/ Fechten/ Voltigiren/ Ringen/ Schiessen und Schwimmen; wer hierinnen avanciret/ der darff nur glauben/ daß er nirgend betteln darff/ indeme gedachte Requisita, zwo Säulen sind/ worauf die Glückseeligkeit/ eines galanten und geschickten Menschens/ mehrentheils beruhet.
Meletaon, „Von der Nutzbarkeit des Tantzens“ (1713)




Ein wenig im Schatten, doch beileibe nicht rechtlos - die galante Dame:

Eine junge galante Dame bereitete sich gewöhnlich auf den Ehestand vor und hier oblagen ihr eben Haushaltspflichten. Zwar erwartete man von einer galanten Dame Klugheit, auch Selbstbewußtheit, doch besaß sie davon zuviel des Guten, erregt dies leicht Argwohn. Immerhin galten Eigenschaften, wie „still, bescheiden“ als typische Tugenden einer galanten Dame.
Andererseit ist man überrascht: So kennt die galante Generation auf Bällen keinesfalls die Sondersparte „Damenwahl“, denn jeder Herr mußte jederzeit damit rechnen, von einer Dame zum Tanz gefordert zu werden. Zierte er sich, blamirte er sich in galanter Gesellschaft ziemlich. Ja der Freisinn geht bei Louis Bonin sogar noch weiter:
Hat aber eine Dame hoch tanzen gelernet/ welches was rares/ und sie hat den Habit eines Cavaliers, da wird man ihr das hohe Tanzen nicht verwehren/ sondern vielmehr aus ihrer Geschicklichkeit ein Ergötzen schöpfen.
Man wird leicht einsehen, daß die damalige Damenmode für waghalsige Capriolen und Kreuzsprünge wenig taugte. Wo sie sich dabei nicht verhedderte, so hätte dies einfach grotesk gewirkt. Da Maskenbälle damals aber gern und häufig angesetzt wurden, hatten agile Frauenzimmer durchaus die Möglichkeit, als Mann zu tanzen, um über douces, galantes Cammer=Tantzen hinaus zu gehen (mißgünstige Lästermäuler wird dieses Argument aber kaum besänftigt haben).


In Sachen politische Weltgewandtheit brach Caspar Stieler, in seinem Buch „Zeitungs Lust und Nutz“, bereits 1695 eine Lanze für eine weibliche Geistesblüte, die belegt, daß es hier letztlich doch mehr zu entdecken gab, als Stillheit und Bescheidenheit.
Es ist ausgemacht / und durch viel vornehme Schrifften erwiesen / daß dieser Helffte der Welt es an Lehrsamkeit / Nachdencken / Wissenschafft / und Geschicklichkeit / wenn es darzu angefüret wird / eben so wenig als dem Mann-Volcke / worunter es doch auch viel plumpe Gesellen giebt / ermangle.
Eine Jungfrau zu Leipzig und Halle weyß einem offt besser zusagen / wo die Armeen in Teutschland / in Ungarn / und Welschland stehen / und was sie beginnen / als mancher Staatsgelehrter.
Das Adelige Frauen-Zimmer / höhern und geringern Standes/ trägt sich nicht allein mit Zeitungen bey Hofe / sondern sind selber Zeitungs - schreiberinnen / also / daß man von ihnen viel leichter und geschwinder einen heimlichen Anschlag / ein weit aussehendes Vorhaben / und / was in- und auserhalb Hofes ergangen / zu erfahren vermag. Sie auch wissen so artig die klügste Minister an andern Höfen / oder bey ihnen die fremde Gesanten und Gesantinnen auszuholen / als kein Beichtvater tuhn kan. Dahero bekümmern sie sich um alles / sie lesen alles / schreibens ab / und verschickens. Wol dem / der mit ihnen vertraulich lebet / weil sie ihn mehr klug machen können in einem Augenblick / als er sonsten in vielen Zeiten nicht erlernen möchte.
Complement an die „Jungfrauen in Leipzig und Halle“!




Galante Ideale – auf den Punct gebracht:

einfühlsam, weltoffen, modern, tolerant, rechtschaffen, rücksichtsvoll, geschickt, geschmackvoll, vernünftig, maßhaltend, höflich, decent, gebildet, bescheiden, tactvoll, barmherzig, redlich, ehrlich, gerecht, anständig, human, freimütig, ungezwungen, agil, keusch, aufgeschlossen, gelehrsam, verständig, natürlich.


Damit soll es nun erstmal genug sein. Ich hoffe, ich habe das Thema einigermaßen erschöpfend aus der Dämmerung geholt, um eine bislang klaffende Lücke ein wenig überbrücken zu helfen.
 
Galante Ideale – auf den Punct gebracht:


einfühlsam, weltoffen, modern, tolerant, rechtschaffen, rücksichtsvoll, geschickt, geschmackvoll, vernünftig, maßhaltend, höflich, decent, gebildet, bescheiden, tactvoll, barmherzig, redlich, ehrlich, gerecht, anständig, human, freimütig, ungezwungen, agil, keusch, aufgeschlossen, gelehrsam, verständig, natürlich.


Damit soll es nun erstmal genug sein. Ich hoffe, ich habe das Thema einigermaßen erschöpfend aus der Dämmerung geholt, um eine bislang klaffende Lücke ein wenig überbrücken zu helfen.
Also handelt es sich bei galanten Herren um moderne, natürliche, bescheidene etc. Mönche?
Gab es eigentlich auch Herren, die sich danach richteten?

In wie weit spielte dabei ein pietistisches Weltbild eine Rolle? Ist diese Galanterie, welche offensichtlich in einem gewissen Gegensatz zu den Libertins und deren Verhalten steht, durch den Protestantismus geprägt?
 
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