Geschichtswissenschaft & Biografien

A

ANDREAS KILB

Gast
Es ist, als hätte Gerhard Schröder einen Augenblick lang mit dem Gedanken gespielt, t a t s ä c h l i c h sein Leben zu erzählen.

Doch dann entschloß er sich, doch lieber das Kanzlerbuch zu verfassen, das man von ihm erwartete.

>>> Wer wie Schröder das Wandertheater der Medien liebt, muß seine Rolle immer weiterspielen, auch wenn die Bühne, auf der er steht, nicht mehr die Weltgeschichte, sondern nur noch die eigene Biographie ist. <<<

Was sind Biografien eigentlich gross wert?
 
Was sind Biografien eigentlich gross wert?

An dieser Stelle ergeht der Hinweis, dass in Antworten auf diesen Beitrag die Biographie von Schröder mit keinem Wort mehr erwähnt werden darf; wir sind ein Geschichts- und kein Politikforum!

Eine Diskussion über den allgemeinen Wert von Biographien kann ich mir durchaus fruchtbar vorstellen, sofern der historische Bezug stets im Auge behalten wird.
 
Was sind Biographien wert? Oder meinst Du Autobiographien?

Das Problem ist wohl - und diese Gedanken habe ich vor zig Jahren irgendwo mal gelesen und für mich für richtig befunden - dass ein Autor von Biographien immer Sympathie oder Antipathie gegenüber seinem Gegenstand hegt, somit ist, trotz des ehrlichsten Bemühens um wissenschaftliche Gründlichkeit immer damit zu rechnen, das Sympathien oder Antipathien in die Biographie mit einfließen und eine Sache dadurch anders bewertet wird, als sie vielleicht bewertet werden müsste.

Wenn eine Person, besonders eine politische Persönlichkeit, eine Autobiographie schreibt, dann will sie in der Regel Einfluss auf die Deutung von sich in der Geschichte nehmen und dabei u.U. auch Dinge beschönigen oder verschweigen, alternative Geschichten erzählen, die vielleicht besser zum Image passen. So z.B. die sauberen Wehrmachtsgeneräle, die niemals an einem verbecherischen Befehl teilgenommen haben und immer ganz entsetzt über die Einsatzgruppen waren, aber nichts machen konnten.

Über das tatsächliche Leben einer Person können Biographien also viel oder wenig aussagen (Primärquellenwert). Sie können aber zum Teil als Sekundärquellen für andere Fragen benutzt werden: Wie unterscheidet sich das Selbstbild vom Bild der Umgebung, was wird über die Umgebung ausgesagt, was über soziale, ökonomische, politische, kulturelle Aspekte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Was sind Biografien eigentlich gross wert?

Natürlich sind sie viel Wert zur Information der Nachwelt! Was wüssten wir schon groß über die großen Persönlichkeiten der Antike ohne zum Beispiel die Caesar oder Alexander Biografie Plutarchs?
Wenn es um Autobiographien geht, wie der hier angesprochene Fall Schröders, ist natürlich immer darauf zu achten, dass der Autor nichts zum eigenen Vorteil beschönigt. Doch genauso gut kann das passieren, wenn die Biographie nicht von der Person verfasst wurde, über die sie erzählt. So zum Beispiel die senatorische Geschichtsschreibung im alten Rom zur Zeit des Prinzipats: da wurden viele Kaiser extra negativ dargestellt, das haben wir schon an anderer Stelle besprochen.

Allgemein sind Biographien wichtige historische Quellen. Allerdings denke ich dass der heutige Trend, dass so gut wie jeder Pseudoprominente eine eigene Biographie hat, historisch wenig sinnvoll ist. Was sollen die Menschen späterer Zeiten von uns denken wenn sie die Biographien von Kübelbock, Bohlen und co. lesen:rofl: ?
 
...Was sind Biografien eigentlich gross wert?

Die Selbsteinschätzung eines zeitgenössischen Politikers wird m. E. erst dann interessant, wenn sie über Beschimpfungen von Kombattanten und Gegnern hinausgeht und neue, unbekannte Einsichten und Wertungen enthält.
Von den meisten Politikern sind solche erst in einem größeren zeitlichen Abstand zu erwarten, wenn überhaupt.
Vielen Veröffentlichungen dieser Art aus jüngster Vergangenheit liegen i.d.R. eher journalistische Vermarktungsinteressen zu Grunde.
 
Es gibt hervorragende Biographien von kompetenten Historikern. Etwa
Werner Goez, Gestalten des Mittelalters oder
Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär oder
Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876-1952.

Welche Geschichte Deutschlands für die Zeit von 1945-1949 käme ohne die Adenauerbiographie aus?
 
Ich denke auch, dass Biographien an sich für die Geschichtswissenschaft sehr wichtig sind da es Quellen für die Nachwelt sind. Allerdings schreibt heute wirklich jeder irgendwie eine Biographie, da wird es an den Historikern der Zukunft liegen die wichtigen und guten heraus zu suchen. Auf der anderen Seite tuen sich ja durch die diversen Medien immer neue Quellen auf, ich fände es recht interessant zu wissen, wie die Historiker der Zukunft damit umgehen.
 
Ich muss die etwas ältere Diskussion nochmals aufnehmen.

Kennt jemand von euch eine Studie, die sich mit dem historischen Aussagewert von Autobiographien auseinandersetzt?
Ich muss mich bei meiner Arbeit auf Autobiographien (politischer Natur) als Quellen stützen und hier eine möglichst fundierte Herangehensweise finden.

THX
 
Ich stelle dir meine Seminarunterlagen zur Verfügung, vielleicht hiflt es dir ja einwenig weiter:

Wo liegen die Chancen, Gefahren und Grenzen autobiographischen und erfahrungsgeschichtlichen Schreibens?

Psychoanalytische Ursache für Subjektivität, die angestrebte Objektivität problematisch macht
Die Autobiographie kann leider den Anspruch auf historische Wirklichkeit nicht einlösen. Die objektive Berichtserstattung steht der subjektiven Autorposition gegenüber. Nie¬mand kann die subjektive Wahrnehmungs¬perspektive hinter sich lassen. Die indivi¬duellen Wünsche und Illusionen leiten die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dies hat eine psychoanalytische Ursache. So erscheint angestrebte Objektivität als höchst problematisch. Auch wird die Darstellung von der historischen Wirklichkeit von der persönlichen Reflektion und der sozial-gesellschaftlichen Lage des Autors beeinflusst.
"Wahrhaftigkeit" in Autobiographie
Das Kriterium der „Wahrhaftigkeit“ wird durch das Begrenzen der sub¬jektiven Wahrnehmung geprägt. Michel Foucault schreibt in seinem Aufsatz „ Was ist ein Autor“, dass es sich bei der Autorfunktion um ein Ordnungsschema des Diskurses handelt. Dies ist eine Wahrnehmungseinheit, die bewirkt, dass eine Äußerung nicht aus beliebigen Wörtern besteht, sondern aus gegebener gesellschaftlicher Kultur und deren Stellenwerten. Damit verändern sich Bedeutungen.
Problematisch ist auch, dass der autobiographische Text nicht so genau vom Ich-Roman und dessen fiktiver Lebenserzählung zu unterscheiden ist.
Problem des menschlichen Gedächtnisses
Das Problem der Grenzen des menschlichen Gedächtnisses hat zwei Ursachen: die Speicherkapazität des Gedächtnisses und dessen selektiven Charakter. Der Prozess des Erinnerns trifft eine Aus¬wahl, die eine vollständige Reproduzierbarkeit der früheren Erlebniswirklichkeit verhindert.

In welchem Verhältnis stehen biographische, autobiographische und erfahrungsgeschichtliche Werke zueinander?

Die Autobiographie ist:

1. Eine Erzählung in Prosa
2. Sie präsentiert eine individuelle Lebensgeschichte
3. Autor und Erzähler sind identisch
4. Erzähler und Hauptfigur sind identisch
5. Erzählperspektive ist retrospektive.

Zwei Dimensionen in biographischen und autobiographischen Texten
Biographische und autobiographische Texte verbinden in sich zwei Dimensionen: eine historische und eine menschlich-lebensweltliche. Im Hintergrund jeder Lektüre steht die Frage nach der Bewältigung der künstlich-literarischen Form. Das Wort "Ich" steht in der Autobiographie mit der doppelten sprachlogischen Funktion. Einerseits ist es prädikativ und macht eine Aussage, womit es die Instanz markiert und gleichzeitig markiert es die Entfernung dieser Instanz des beschreibenden "Ich".
Die Autobiographie unterliegt einer intensiven Spannung dieser zwei Perspektiven, weil der Autor gleichzeitig Subjekt und Objekt der Darstellung ist.
Unterscheidung der Autobiographie zu ihren Nachbargattungen
Die Autobiographie ist von ihren „Nachbargattungen“ (Memoiren, Biographie, personaler Roman, Ich-Roman, autobiographisches Gedicht, Tagebuch, Selbstporträt oder Essay) zu unterscheiden.
Abgrenzung, die W-E zu Nachbargattungen der AB trifft:
Die Nachbargattungen unterscheiden sich von der Autobiographie dahingehend, dass jede dieser Formen je ein Charakteristikum der Autobiogrphie n i c h t erfüllt: In den Memoiren steht keine individuelle Lebensgeschichte im Mittelpunkt, in der Biographie sind Autor und Erzähler nicht identisch.
Zu den autobiographischen Gattungskriterien gehören die Identität von Autor und Erzähler, von Erzähler und Hauptfigur, die retrospektive Erzählweise, die Form der Prosa und die Tatsache, dass eine individuelle Lebensgeschichte erzählt wird.
Memoiren stellen nicht die individuelle Lebensgeschichte dar, sondern sie beinhalten vielmehr Gedanken, Erinnerungen, Beobachtungen einer Figur des öffentlichen Lebens zu ihrer Zeit und Begegnungen mit anderen Persönlichkeiten.
Der personale Ich-Roman weist keine Identität zwischen Autor und Erzähler auf.
Dem autobiographischen Gedicht fehlt die Prosaform. Das Tagebuch ist nicht retrospektiv. Selbstporträt und Essay erfüllen das Kriterium der Erzählung und Retrospektive nicht.
Doch sollen die Spuren und Elemente der Memoiren und des Ich-Romans in Autobiographien nicht ganz gestrichen werden.

Wie gestaltet sich die öffentliche (mediale) Wirkung autobiographischer, biographischer und erfahrungsgeschichlicher Werke?

Der zum Wahrheitsanspruch gewandelte Wirklichkeitsanspruch der Autobiographie befindet sich auf dem direkten Weg zur Dichtung. Hier muss aber Geschichtsschreibung und Dichtung unterschieden werden: Der Geschichtsschreiber berichtet das Besondere des Geschenen, der Dichter stellt hiervon das Allgemeine dar.
 
Vielen Dank Ursi!

Das hilft mir wirklich etwas weiter - vor allem das erste Zitat.
Hast du hierzu noch einen Quellenkatalog oder Bibliographieauszug? Ich muss mich in das Thema des Quellenwerts der Autobiographie einarbeiten und suche einen passenden Einstieg.
 
Vielen Dank Ursi!

Das hilft mir wirklich etwas weiter - vor allem das erste Zitat.
Hast du hierzu noch einen Quellenkatalog oder Bibliographieauszug? Ich muss mich in das Thema des Quellenwerts der Autobiographie einarbeiten und suche einen passenden Einstieg.

Ich suche bereits, ich weiss das ich was habe - nur wo :cry:
 
Du bist ja rassig!
Nur nicht "gsprängt". Ich muss ja nicht morgen fertig sein. Aber schon mal danke für deine Unterstützung.
 
Hier mal eine kleine Auswahl:

Pierre Bourdieu
Die biographische Illusion
In BIOS; Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History
Heft 1 1990 S. 75 -81

Hier noch der Link zum Verlag der Zeitschrift:

Barbara Budrich

Und hier noch das Gesamtverzeichnis 1988 - 2008
http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/fgeschichteundbiographie/gesamt2008-2.pdf

Dieter Riesenberger
Biographie als historiographisches Problem
In Bosch, Michael (Hg); Persönlichkeiten und Struktur in der Geschichte; Historische Bestandesaufnahme und didaktische Implikationen
Düsseldorf 1977 S. 25-39

Volker Depkat
Lebenswenden und Zeitenwenden: Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts
Oldenbourg 2007

Lebenswenden und Zeitenwenden: Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: Amazon.de: Volker Depkat: Bücher


Walter Spam
Wer schreibt meine Lebensgeschichte?
Biographie, Autobiographie, Hagiographie
Und ihre Entstehungsgeschichte
Guetersloher Verlagshaus 1997
 
Zuletzt bearbeitet:
Gute Literatur

Hallo Ursi

Nachdem ich mich inzwischen durchs Thema gewühlt habe, möcht ich dir nochmals Danke sagen - super Einstieg!

Vor allem Volker Depkat und einige Artikel aus BIOS kann ich zu diesem Thema sehr empfehlen.

Gruss Flobiwan
 
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