Glaubwürdigkeit von Viten

Tangua

Neues Mitglied
Hallo,
aus dem Mittelalter sind uns ja sehr viele Viten von Herrschern und Heiligen bekannt. Ihnen wird immer wieder ein anderer "Realitätsgrad" zugeschrieben. Auch in den Foren hier gibt es Beiträge, wonach alles oder vieles stimmt, was in solchen Lebensbeschreibungen steht, und andere, wo ihnen nur wenig Wahres gelassen wird. Wie glaubwürdig sind sie denn nun?
Ich würde eher sagen, dass sie mehr den Heiligen- oder Herrschertypus beschreiben, oder wie der perfekte Heilige oder Herrscher sein sollte, als das Individuum. Es gibt aber natürlich auch Fälle, wie z.B. Franz v. Assisi oder den hl. Benedikt, letzterer wohl eher, bei denen das Individuum zum Typus wurde.
Was denkt ihr dazu?
 
Ich versuche mich an einer ersten Antwort, die aber etwas vereinfacht ausfällt...

Grundsätzlich brauchst Du für Personen im Mittelalter eigentlich Quellen von zwei verschiedenen Seiten.
Das Problem ist nämlich, daß der Verfasser bzw. Chronist solcher Viten in jener Zeit gewöhnlich nicht "unabhängig" war, bei dem, was er schrieb, sondern von jemandem dafür bezahlt wurde. Und derjenige, für den er arbeitete, war meist dann auch der, über den er schrieb.

Als Grundsatz gilt: WER hat WAS in WESSEN AUFTRAG aufgeschrieben?
Damit dürfte die Subjektivität diesbezüglich offensichtlich sein...

Bei Heiligen ist das etwas anders, zumal nicht wenige von ihnen (z.B. Märtyrer) bereits in der Spätantike oder dem frühen Mittelalter lebten und ihre "Geschichte" später "nur" erweitert wurde. Hier jedoch ist wiederum zweierlei zu beachten:
- nach Sichtweise der Zeit gehören zu Heiligen bestimmte Eigenschaften
- natürlich ging es darum, Heilige eher zu erheben als zu "demontieren"
- das Wirken der Heiligen, welches sie ja erst zu dem gemacht hat, wird logischerweise in den Vordergrund gerückt

Soweit erst einmal einige lose Gedanken dazu.
 
In der Merowingerzeit sind die Viten eine Gruppe innerhalb der hagiagraphischen Literatur und wollen keine Geschichtswerke sein, sondern stellen ein Heiligenideal und dessen Typisierung dar. Sie sind somit besser für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte geeignet als aus ihnen historische Fakten zu entnehmen.
Auch die Viten der Adelsheiligen zeigen, wie du gesagt hast, eher das Idealbild einer adelig-christlichen Existenz und können somit Erkenntnisse über das Selbstverständnis des christlich gewordenen Adels geben.
Natürlich gibt es aber auch Viten aus denen man Erkenntnisse über politische Geschichte erhalten kann.

In der Karolingerzeit herrscht aber die Nähe zur historischen Wirklichkeit vor, während die legendenhafte Züge in den Hintergrund treten. Die kirchliche Viten aus der Zeit Otte des Großen bis ins 12. Jahrhundert sind auch nicht legendenhaft. Erst wieder im Spätmittelalter besteht wieder Interesse an Heiligenlegenden.
 
Zuletzt bearbeitet:
also ich habe mir im rahmen meines Studiums mal die Vita des Hl. Martins von Sulpicius Severus geschrieben durchgelesen. Ganz am anfang weist er daraufhin, dass alles was er schreibt der Wahrheit entspricht und er auch keine Lügen verbreiten möchte, und dann stehen in der Vita selbst Dinge drin wie, er habe Tote erweckt, Heidentempel niedergerissen und sei immer von der Rache der heiden verschont geblieben, er habe sich aus Flammen retten können usw. also für mich steht fest dass als dies nie so wie geschildert geschehen ist, allerdings sind Viten gespickt mit solchen "geschichtchen" ja irgendwie Grundvorraussetzung für die Heiligsprechung von personen soweit ich weiss. Von Papst Johannes Paul sind ja mittlerweile auch Wundertaten aufgetaucht...
 
Nicht zu vergessen, dass Heiligenviten sog. Topoi aufweisen, Ereignisse, die immer gleichen, vielerzählten Motiven folgen, wie z.B. eine wundersame Geburt oder die Weigerung des Leichnams, sich von seiner gewählten Ruhestätte fortbewegen zu lassen.

Ob die Hagiographien besonders für die Wirtschafts- u. Sozialgeschichte bedeutsam sind, wage ich zu bezweifeln (dazu enthalten sie zu wenige wirtschaftliche Aspekte), allerdings sagen sie viel über die Kulturgeschichte und die Ansichten der Menschen zu der Zeit, in der das Werk geschrieben wurde (d.h. meist nicht zu Lebzeit des Heiligen). Man sollte auch nicht vergessen, dass es v.a. im Mittelalter nicht darauf ankam, was wahr war, sondern was wirklich war, d.h. tatsächlich Einfluß auf und Bedeutung für die Menschen der damaligen Zeit hatte. V.a. Bischofsviten erzählen auch politische Geschichte, mal weniger in der Gesta Hrodperti aber durchaus in der Vita Altmanni. Sie stellen aber auch einen eigenen Typus dar, der durchaus den römischen laudationes funebres ähnelt.

Ich habe mal die Viten einer lokalen Salzburger Heiligen bearbeitet; die fast 500 Jahre nach ihrem Tod erstellte Hagiographie erzählt ähnlich einer Novellensammlung das wundersame Eingreifen der Heiligen nach ihrem Tod in verschiedene Angelegenheiten des Alltags der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit des Autors - auch sehr spannend!
 
Zur hagiographischen Literatur zählen ja auch die Berichte über die Reliquientranslationen. Sie waren lange Zeit Stiefkinder der historischen Forschung, weil ihre stereotypen Wunderberichte anlässlich der Translationen keinen Quellenwert haben. So wurden sie nicht einmal ediert.
Inzwischen sieht die Forschung das anders: Aus den Berichten geht z.B. hervor, welche Klöster mit welchen anderen kirchlichen Institutionen Verbindungen hatten. Außerdem sind die Beschreibungen der Prozessionen und zu beobachtenden Riten kulturgeschichtlich von Interesse.
Siehe z.B. Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen nach Sachsen - Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter.
 
fingalo schrieb:
Zur hagiographischen Literatur zählen ja auch die Berichte über die Reliquientranslationen. Sie waren lange Zeit Stiefkinder der historischen Forschung, weil ihre stereotypen Wunderberichte anlässlich der Translationen keinen Quellenwert haben. So wurden sie nicht einmal ediert.
Inzwischen sieht die Forschung das anders: Aus den Berichten geht z.B. hervor, welche Klöster mit welchen anderen kirchlichen Institutionen Verbindungen hatten. Außerdem sind die Beschreibungen der Prozessionen und zu beobachtenden Riten kulturgeschichtlich von Interesse.
Siehe z.B. Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen nach Sachsen - Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter.

Stereotype ja - einerseits - aber andererseits sind die Abweichungen von den Stereotypen sehr aufschlussreich. Man muss zwar viele Berichte vergleichen, aber in den Originalen oder Uralteditionen (Acta Sanctorum: wer die kennt, lernt die MGH lieben...) zu stöbern, macht schon Spaß.
 
Schini schrieb:
Stereotype ja - einerseits - aber andererseits sind die Abweichungen von den Stereotypen sehr aufschlussreich. Man muss zwar viele Berichte vergleichen, aber in den Originalen oder Uralteditionen (Acta Sanctorum: wer die kennt, lernt die MGH lieben...) zu stöbern, macht schon Spaß.
Wie recht Du hast!:)
 
Ich habe im "Lexikon des Mittelalters" gelesen, dass die Vita des Martini geschrieben von Sulpicius Severeus die erste Vita ist gespickt mit solchen Mundertaten. Da der Hl Martin ja auch der erste Heilige ist, der nicht wegen seinem Märtyrertum sondern wegen seiner Lebensweise heilig gesprochen wurde, würde das ja auch logisch sein. Weiss da jemand noch etwas genaueres? Gibt es diese Art von Viten schon vor 400?
 
Die ältesten Berichte zum Leben der Heiligen sind hpts. Märtyrerakten, die ältesten davon sind das Martyrium des Polykarp (ein Brief aus ca.160) und die Acta Martyrum Scillitanorum aus ca. 180. Etwas jünger sind die Viten der Anachoreten, z.B. von Antonius dem Großen (Vita geschrieben von Athanasius, gestorben 373), die aber vor allem im griechischen Raum entstanden.

Dies sind frühe Beispiele, in denen sich das Genre der Hagiographie erst entwickelte, von Gerichtsakten (s.o.), über Kurzbiographien, zu aus römischen Nekrologen entwickelten Lebensbeschreibungen zu von Stereotypen (Topoi) geprägen Viten, Miraklesammlungen und Translationsberichten. Gleichzeitig hat sich aber auch das Christentum stark gewandelt (Der Begriff des Heiligen entwickelte sich - grob gesagt - vom Bekenner des Glaubens durch Martyrium zum Bekenner des Glaubens durch ein heiliges Leben als das Christentum als Religion etabliert war.
 
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